Mai 2010

Info SP ZH 7/8

Im Parlament hören zu viele auf jene, die ihre Privatinteressen vertreten und diese mit dem Gemeinwohl verwechseln


Bericht aus dem Nationalrat für das Jahr 2009

Die Beziehung des Nationalrats zum Jahresbericht gleicht der Beziehung des Storchs zum Taktfahrplan. Es gibt keine. Das heisst nichts gegen die Berechtigung eines Jahresberichtes. Doch National- und Ständerat haben eine andere Währung als den Jahres-Rhythmus. Die Einheiten der Bundesversammlung sind die Sessionen; jede hat ihre eigene Farbe, Stimmung, Schwerpunkte, Nebengeräusche und Tonlage und diese verändern sich vierteljährlich. Wenn schon Jahr, dann lässt sich die Legislatur eher in das Nachwahljahr, das Wahljahr, das Vorwahljahr und das bezüglich Wahlen entspannteste zweite Jahr aufteilen. Diesbezüglich sind wir also bald in der Mitte des Vorwahljahres, die Nervosität steigt bereits und in mancherlei Diskussionen ist der Hinweis auf die Aufstellung - parteipolitisch wie persönlich - für die Wahlen im Herbst 2011 tatsächlich häufiger zu hören.

Doch die eigentliche und richtige Bedeutung eines Jahresberichtes ist die Gelegenheit zum reflexiven, zum selbstkritischen Rückblick. Da liegt der angemessene Fokus dies- mal aber weniger auf den letzten 12, als auf den vergangenen 18 Monaten. Im Herbst 2008 erreichte die Finanzkrise weltweit ihren ersten Höhepunkt, Billionen von Papier- Geld- und anderen Werten wurden verbraten und mit ihm begann das, was sich hierzulande zu einer eigentlichen Staats- und Regierungskrise, ja zum bedeutsamsten Regierung, versagen seit Jahrzehnten entwickelt hat. Alle Staaten glaubten sich aus systemischen Gründen derart engagieren zu müssen, alle ver- und überschuldeten sich derart und suchten nach verborgenen Geldquellen, dass keiner mehr die Steuerflüchtigen ignorieren konnte und wollte. So kamen die Schweizer Banken, ihr Bankgeheimnis und die schweizerische Steuerpolitik ins Blickfeld der meisten Regierungen wie noch nie und erwischten einen hilf- und konzeptlosen Bundesrat, der sich treiben liess, immer so weit nachgab, wie er musste, um Wochen, manchmal Tage später, wieder und weiter nachzugeben.

Vorgeführt wurde und wird die Schweiz und ihre Regierung nicht nur von der UBS, den USA, der EU und der OECD sondern auch von einem Diktator, der sich einen Landsmann zum Spielball seiner Interessen und Launen nahm. Diese vielfachen und unterschiedlichen und in ihrer Summe unglaublichen Demütigungen sind für die meisten deshalb besonders schwer zu ertragen, weil sie von eigenen Fehlern, jahrzehntelangen Irrtümern und Unterlassungen (beispielsweise Bankgeheimnis und Steuerföderalismus) sowie nationalen Egoismen befördert worden sind. Und keiner der Hauptverantwortlichen zieht die Konsequenzen oder wird zur Verantwortung gezwungen. Weder in der Bankenwelt noch in der Regierung. Dieses Elite- versagen fördert wiederum den Unmut vieler, die sich eh bedrängt, vernachlässigt, entmutigt und desorientiert fühlen – wobei dieser Unmut, ja Hass auf alle „da oben“ und auf alle „Anderen“ von einigen geschürt wird, die selbst dazugehören und mitverantwortlich sind für Ursachen und Ausmass der Finanz- und Wirtschaftskrise (Stichwort Shareholder-Value und Ebner & Blocher).

Für eine Bilanz aller dieser Verwerfungen, einen coolen Rechenschaftsbericht und einen gelassenen Ausblick mit klarem Reformprogramm ist es noch viel zu früh. Wir sind noch mitten im Strudel, trudeln und stolpern. Und je lauter getönt wird, je schriller die Schlagzeilen, desto mehr wird verdeckt, was eigentlich bedacht, diskutiert und reformiert werden sollte. Doch die katastrophalen politischen Folgen zeichnen sich deutlich ab. Konnte im Juni 2008, also unmittelbar vor der grossen Krise, eine grund- und menschenrechtswidrige SVP-Volksinitiative zu Einbürgerungsfragen noch abgelehnt werden, gelang dies am Ende des schrecklichen Jahres 2009 nicht mehr. Die Schweizer Bundesverfassung enthält deswegen heute einen Satz, welcher der EMRK widerspricht und diskriminierend ist. Der Erfolg einer Minarettbauverbotsinitiative bei fast 60 % der Stimmenden und der deutlichen Mehrheit der Kantone ist ohne diese tiefen gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen der Schweiz, das totale Versagen des Bundespräsidenten und seine Verletzung der Institution des Bundesrates (Merz zog aus seinen Fehlern keine Konsequenzen, der Bundesrat verlor die Hälfte seiner Akzeptanz) nicht zu erklären.

Doch, und das erschüttert mich am meisten, alle Versuche, daraus zu lernen und politisch-institutionell Reformen zu realisieren, welche Abhilfe schaffen könnten, scheiterten bisher. Die Mitte, die wir für Mehrheiten im Parlament dafür brauchen würden, kommt uns mehr und mehr abhanden. Auch dies hat mit den genannten Erschütterungen der vergangenen 18 Monate zu tun, mit ihren seit über einem Jahrzehnt zu beobachtenden Desorientierung und Erosion, beziehungsweise Anlehnung an die nationalkonservative Rechte. Die Linke kann sogar sozialpolitische Referendumskämpfe gegen den Sozialabbau gewinnen (vergangenen Februar bezüglich Pensionskassenumwandlungssatz, Mai 2010 bald bezüglich Arbeitslosenversicherung, später wohl bei der AHV) doch die verlorene sogenannte Mitte (Mehrheit von FDP, CVP, sogenannte Grünliberale) hört nicht auf, im Parlament auf jene zu hören, die ihre Privatinteressen vertreten und diese mit dem Gemeinwohl verwechseln.

Zu den gescheiterten politisch-institutionellen Reformversuchen, die den grossen Medien zu abstrakt sind und deshalb wenig dargelegt werden, gehören vor allem die Parteien- und Abstimmungskampagnenfinanzierung und die damit verbundenen Transparenzregeln. Ebenso freilich die Parlamentsreform – die immer noch herrschen- de Milizlüge führt zu mangelnder Kompetenz im Parlament und der dortigen Herrschaft der Privat- und Partikularinteressenvertreter und der Schwäche für den Sinn und die Kompetenz für das Gemeinwohl. Ebenso der mangelnde Mut zur Regierungsreform, ob- wohl deren Notwendigkeit durch das monatelange Regierungsversagen mehr als deutlich wäre und deren Fehlen die Bürgerinnen und Bürger in die Arme der SVP mit ihrer Initiative für die Volkswahl des Bundesrates treibt, das die der Herrschaft des Kapitals, des Scheins und der grossen, lauten irreführenden Schlagzeilen nur noch förderlicher wäre.

So vermochte nicht einmal die Anti-Blocher-Mehrheit des November 2007, welcher im Dezember 2008 noch immerhin nur eine Stimme zur Verhinderung der derzeitigen Fehlbesetzung an der VBS-Spitze fehlte, bis heute eine Wahlkampfgegenreform zu realisieren, die verhindern würde, dass im Herbst 2011 die sich für diese Niederlage rächen wollende Blocher-SVP mit 70 Millionen Wahlkampfbudget mehr als doppelt so viel Mittel zur Verfügung haben wird wie alle anderen zusammen. Alle bisherigen vielfältigen, zaghaften wie mutigeren, Vorschläge wurden abgelehnt. Und die kommenden dürften für die Wahlen 2011 zu spät kommen. Zu sehr scheute die Mitte jegliche Transparenz, welche überall auf der demokratischen Welt die Voraussetzung für Ausgleichsmass- nahmen im öffentlichen Interesse mit öffentlichen Geldern ist. Dies wird im Herbst 2011 deutlich sicht- bar werden und schwerwiegende Folgen haben. Mit viel Mitteln werden all die Verunsicherten und Orientierungssuchenden irregeführt werden, so dass sie Menschen wählen, die sich ihnen zwar andienen, ihre Interessen aber gar nicht kennen und deswegen auch nicht vertreten können.

Für die SP werden schweiz- und europaweit schwerste Zeiten bevorstehen. Am ehesten können wir sie bestehen, wenn wir uns auf unsere grösste Stärke besinnen, auf die Intelligenz und die Einsichten und Ansichten, die in uns stecken und die sich uns engagieren lassen. Um diese aber fruchtbar zu machen, müssen wir, das ist und bleibt mein jährliches Mantra, mehr zusammenkommen, uns aussprechen und diskutieren. Der Entwurf zum neuen Parteiprogramm verschafft uns im Juni eine solche Gelegenheit. Weitere müssen folgen. Ich bitte Dich, Dich daran zu beteiligen. Denn nur so können wir kompensieren, was andere an Geld und Medienanteilen mehr haben. Das wird in den kommenden Monaten so notwendig sein wie kaum je zuvor in den letzten 20 Jahren. Trotz Taktfahrplan, Storch und Jahres(berichts)rhythmen.


Kontakt mit Andreas Gross



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