März 2011


Bericht für die SP Sektion Zürich 7 und 8

Ein Jahresbericht aus dem Nationalrat für die SP ZH 7+8
Am Ende der Lebenslüge Miliz
steht der Verlust des Allgemeinwohls



Von Andi Gross

Wiederum möchte ich darauf verzichten, die thematischen Schwerpunkte dessen zusammenzufassen, was die Bundesversammlung in den ver­gangenen 12 Monaten beschäftigt, diskutiert und in Gesetzesbestimmungen, beziehungsweise Verfassungsartikel umgesetzt hat. Interessierte finden all dies in allen Einzelheiten und Facetten auf der Homepage des Parlamentes, die sich unter www.admin.ch bestens finden lässt (siehe meinen letzten Jahresbericht 2010 für die sp7/8 auf www.andigross.ch).

Ich möchte mich vielmehr auf eine kritische Feststellung konzentrieren, welche im vergangenen Jahr vielen Bürgerinnen und Bürger deutlich wurde, die ganze Innen- und Aussenpolitik belastet hat und in diesem Wahljahr besonders intensiv diskutiert werden sollte: Die Feststellung nämlich, wie schlecht die Schweiz regiert wird, wobei ich unter regiert werden mehr als das miserable Funktionieren des Bundesrates verstehe.

Dazu gehört auch das Parlament, das unter den Folgen der nationalen Lebenslüge Miliz mehr als nur leidet. Dazu gehören vor allem die strukturellen Schwächen der politischen Parteien, die von den allzu ungleich verteilten Geldern beherrschten Volksabstimmungen sowie die defekte politische Öffentlichkeit in der deutschen Schweiz, die immer mehr von Oberflächlichkeit, Emotionen, Skandalisierungen und Personifizierungen beherrscht und in der es immer schwieriger wird, vernünftige und sich an der Vernunft orientierende öffentliche Debatten zu führen. Konsequenzen: In wesentlichen Fragen dominieren Partikularinteressen, unwesentliche Fragen dominieren die öffentlichen Erörterungen, das Allgemeinwohl verschwindet aus dem Focus. Entsprechend gespalten ist heute die Schweiz, entspre­chend ohnmächtig fühlen sich heute viele Bürgerinnen und Bürger, entsprechend aggressiv gehen wir miteinander um, entsprechend gefestigt werden vielerorts nur noch Vorurteile und gesellschaftliche Lernprozesse sind kaum mehr möglich.

Diese Misere der schweizerischen Politik und ihrer institutionellen Basis ist die Konsequenz der Unfähigkeit der offiziellen Schweiz, in den letzten 15 Jahren diese Grundlagen der schweizerischen Demokratie kritisch zu reflektieren, zu diskutieren und zu reformieren. Bis heute hat sich so ein enormer Reformbedarf aufgestaut, sowohl in Bezug auf den direkten als auch auf den indirekten Teil unserer Demokratie. Und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Oder mit anderen Worten: Straflos lassen sich Reformen nicht ewig verweigern, verzögern oder unterlassen. Das heisst: Die inhaltlichen Fehler und Unzulänglichkeiten der herrschenden schweizerischen Politik haben teilweise ihre Ursache auch in Institutionen und Verfahren, die nicht auf der Höhe unserer Zeit sind.

Statt die Analyse und die Diagnose weiter zu vertiefen und zu erläutern, was hier aus verschiedenen Gründen nicht am Platz ist, möchte ich im folgenden stichwortartig die wichtigsten Reformen nennen, die im Wahljahr zumindest diskutiert werden sollten, damit sie anschliessend auch realisiert werden können. Denn ohne diese institutionellen Reformen sind qualitative Verbesserungen in den politischen Inhalten kaum absehbar.

1.
Die Konkordanz ist auf Bundesebene am Ende. Wir haben keine Regierung mehr, sondern nur noch sieben Departements-Chefs, die einander nicht einmal mehr trauen. Es fehlen im Bundesrat nicht nur ausreichend politische Gemeinsamkeiten, es fehlt sogar an dem, was von der Verfassung verlangt wird: Kollegialität. Diese Verständigungsbereitschaft und die Bereitschaft zu einer Verständigungsanstrengung sind bis im Herbst 2010 einem derart immensen Misstrauen gewichen, dass die sieben sich nicht einmal informiert haben über das was alle und nicht nur einzelne Departements-Chefs wissen mussten. Leider hat die damalige CVP-Bundespräsidentin letzten Herbst auch die Chance der Erneuerung von zwei Bundesräten durch ausgesprochen verständigungsbereite Berner nicht genutzt: Statt wie beispielsweise 1993 sich kollegial über die Dossierverteilung zu verständigen, beanspruchte sie für sich, was sie im Einvernehmen mit der Economiesuisse glaubte, haben zu dürfen, und liess die Mehrheit abstimmen und die Bedürfnisse der Minderheit überstimmen. -- Konsequenz: Wir dürfen die Konkordanz nicht wie in den vergangenen zehn Jahren auf den Proporz reduzieren, die Parteien ihrer Wählerstärke entsprechend und ungeachtet ihrer Fähigkeit, eine gemeinsame Politik entwickeln zu können, beziehungsweise dies auch nur zu wollen, in der Regierung versammeln; sondern wir müssen lernen, uns zu entscheiden. Mit oder ohne die SVP, mit oder ohne die SP. Die NZZ führt seit Wochen eine entsprechende Debatte, Roger Blum mahnte sie in der letzten Februar-Ausgabe der Zeit auch an, doch im Bundeshaus gehen die meisten wie seit Jahren dieser Diskussion aus dem Weg: Denn die meisten fürchten, den Schwarzen Peter zu ziehen und die SVP, die sich am wenigsten fürchten müsste und rhetorisch eine Proporz-Regierung verlangt, sammelt Unterschriften für eine Initiative zur Volkswahl des Bundes-rates, welche falls sie angenommen würde, die Konkordanz endgültig ersetzen würde durch einen täglichen Kampf jedes einzelnen Bundesrates gegen jeden anderen um die Mediengunst, von der weiteren Abwertung der Stellung des Parlamentes einmal ganz abgesehen.

2.
Aus einer echten Regierungsreform muss aber auch eine eigentliche Staatsleitungsreform werden: Denn wenn in Zukunft eine grosse Partei nicht mehr in der Regierung vertreten sein wird und der Bundesrat sich auf parlamentarische Mehrheiten von um die 60 % abstützen wird – matchentscheidend wird sein, dass es ihm immer wieder gelingt Volk und Stände von einen Positionen zu überzeugen – kann man dieser starken parlamentarischen Minderheit nicht länger zumuten, über keine für ein Parlament selbstverständlichen Instrumente zu verfügen, die Regierung, sollte sie nicht einmal mehr über das Vertrauen von beispielsweise einer Mehrheit des Parlamentes verfügen, zum Rücktritt zwingen zu können. Diesem Misstrauensantragsrecht des Parlamentes könnte das Recht des Bundespräsidenten gegenüberstehen, dem Parlament die Vertrauensfrage stellen zu dürfen, wenn er oder sie den Eindruck, hat sich dieses Vertrauen vergewissern zu müssen. Dieses Vorrecht wäre eine subtile Form ihn aus dem Gremium der Gleichen herauszuheben und ihm so gleichzeitig den Blick aufs Ganze nahezulegen. -- Zur Staatsleitungsreform gehört schliesslich auch die Professionalisierung der Parlamentarier und der Parteien. Es ist beschämend, dass sich einige Parlamentarier von Sonderinteressen bezahlen lassen und so kaum mehr nach dem Allgemeininteresse suchen. Und es ist dysfunktional, wenn die Parteien, welche viermal jährlich massgeblich zur Meinungs- und Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger beitragen sollten, dies nur tun können, wenn ihnen eine bestimmte Interessensgruppe das nötige Kleingeld dafür gibt. Auch dies hat in der Zeit von anfangs März ETH-Professor Guggerli angemahnt, als er schrieb, wir sollten endlich den Mut haben, in der Innenpolitik unnötigen historischen Ballast abzuwerfen. Doch schultern will diese Überzeugungsarbeit im Bundeshaus kaum jemand, denn man müsste neue Mehrheiten dafür finden und mehr tun, als falschen Mehrheitsmeinungen nach zu hinken und an alten Fragen festzuhalten, nur weil man die falsche Antwort schon hat und eine richtigere nicht suchen will.

3.
Vom Joch der Kolonialisierung durch das Geld müssen aber nicht nur die Parlamentarier und die Parteien befreit werden, sondern auch die Stimmberechtigten. Heute ist deren wichtigste und richtige Machtquelle, die Direkte Demokratie, daran, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn noch nie wurden so viele Volksabstimmungen von sehr einseitig verteilten Geldmitteln beherrscht. Es werden heute zur Stärkung der nationalkonservativen und rechtspopulistischen Stimmung mit viel Geld unbedeutende Fragen in Form von Volksinitiativen zu Existenzproblemen aufgebauscht und zu seinen Gunsten entschieden, nur um im Hinblick auf die nächsten Wahlen und die Änderung der Machtverhältnisse in den Institutionen die eigenen Parteichancen zu stärken. Dies ist in vielerlei Hinsicht total verantwortungslos. -- Es wird aber deswegen den meisten nicht bewusst oder auch nur versucht, bewusst gemacht zu werden, weil die Medien ebenso unter der Abhängigkeit des knappen Geldes leiden, sich vertiefte Recherchen gegen den Mainstream nicht mehr leisten können und immer oberflächlicher sich in den Strudel der Emotionalisierungen, Skandalisierungen und Personalisierungen hineinziehen lassen statt ihm zu widerstehen.

4.
Womit auf eine weitere Baustelle hingewiesen worden wäre: Auf die alte Notwendigkeit eines Medienartikels in der Bundesverfassung, welche der Gesellschaft erlaubt und ihr die notwendigen Mittel verschafft, um demokratiegerechte Öffentlichkeiten in den Regionen und auch auf Bundesebene zu ermöglichen. Vor acht Jahren waren wir im Nationalrat so weit, wurden aber von drei Verwaltungsräten von regionalen Medienmonopolisten, welche die Staatspolitische Kommission des Ständerates beherrschten, mit Unterstützung des Verlegerverbandes und des Bundesrates gebodigt. Heute wären zwei der drei froh, sie hätten längerfristiger gedacht, denn heute sind auch sie in Basel und in Solothurn in ihrer autonomen Existenz bedroht oder mussten diese bereits dem Konzentrationsprozess opfern.

5.
Weil im Bundeshaus die Befreiung der Direkten Demokratie von der Kolonialisierung durch das Geld keine Mehrheiten fand – nicht mal die Mehrheit, welche vor vier Jahren Bundesrat Blocher richtigerweise abwählte, fand sich bei Gesetzesvorhaben wieder zusammen, welche ihn daran gehindert hätten, sich nun im Herbst so zu rächen, dass er für den Wahlkampf, den er längst begonnen hat, über etwa viermal mehr Mittel verfügen kann als alle seine Konkurrenten zusammen - müssen wir dies durch Volksinitiativen anzupacken versuchen. Dazu stehen deshalb gegenwärtig deren drei zur Diskussion, die einander nicht ausschliessen, sondern als Optionen sogar gleichzeitig und gemeinsam lanciert werden könnten:
a.
Einerseits eine einfache Transparenzinitiative, die von allen Akteuren der Politik (Parteien, Referendums- und Abstimmungskommittees, BürgerInnen und ParlamentarierInnen) verlangt, dass alle Gelder ab CHF 100 bezüglich Herkunft und/oder Ziel öffentlich deklariert werden müssen auf einer entsprechenden Webseite des Bundes.
b.
Weil solche Zwangsinitiativen in der Schweiz selten Gehör finden, könnte man eine Volksinitiative lancieren, welche jene belohnt, die Transparenz herzustellen bereit sind: Die Spenden von Privaten an Parteien, welche ihre Finanzen offen legen, und die zwischen 50 und 1000 Franken betragen, werden vom Bund verdoppelt. Das hätte noch den grossen Nebeneffekt, dass der Einfluss der Grossspender ebenso wie die heute riesigen Unterschiede zwischen den politisch Vermögenden und den unteren Mittelschichten abgebaut werden kann.
c.
Damit aber Parteien, welche Transparenz herzustellen bereit sind, gegenüber engagierten BürgerInnen, welche ohne Parteien sich mit Volksinitiativen und Referenden um die Gestaltung des Gemeinwesens sich kümmern, nicht bevorteilt werden, müsste eine dritte Volksinitiative die Verfassung so ergänzen, dass jene Initiativ- und Referendumskommittees, welche ihrerseits alle ihre Einkünfte und Ausgaben offenzulegen bereit sind, für jede beigebrachte und beglaubigte Unterschrift beispielsweise fünf Franken bekommen.

6.
Moderne Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass jede in ihnen Macht ausübende Institution von einer anderen Institution begrenzt und somit kontrolliert wird; denn das Herz der Demokratie ist die Teilung der Macht. Entsprechend benötigt die Schweiz aber eine Bundesverfassungs-gerichtsbarkeit, welche auch die Beschlüsse des Parlamentes im Anwendungsfall auf ihre Verfassungskompatibilität überprüfen darf. Diesem könnte auch die Macht übertragen werden, im Zweifelsfall zu prüfen, ob eine Volksinitiative wirklich ungültig ist. Und damit zum Schutz der Menschenrechte wie der Direkten Demokratie nicht länger über Dinge abgestimmt werden können, welche in Strassburg beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht Bestand hätten, müssen wie bei den materiellen Hürden, welche gültige Volksinitiativen überwinden müssen, das gegenwärtige zwingende Völkerrecht um den Kerngehalt der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) erweitern, welcher schliesslich auch identisch ist mit dem Grundgehalt des schweizerischen Verfassungsrechtes.

Der Schweiz und ihrer Demokratie ginge es viel besser, wenn all diese Reformen so oder ähnlich realisiert werden könnten. Ohne grosse öffentliche Diskussion ist dies jedoch nicht möglich. Findet diese Diskussion jedoch vor den Wahlen wirklich statt und geben wir jenen die Stimme, welche nach den Wahlen diese Reformen auch einleiten und begleiten können, beziehungsweise wollen, dann haben sie sehr viel mehr Chancen, verwirklicht zu werden. Deshalb wäre es gut, sie jetzt zur Kenntnis zu nehmen, zu bedenken, zu diskutieren und argumentativ in den Wahlkampf und die entsprechenden Veranstaltungen einfliessen zu lassen.


Kontakt mit Andreas Gross



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