27. Feb. 2011
Manuskript
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Die Direkte Demokratie (DD) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
Rede an der Tagung zum Islamdiskurs auf Mariaberg in Rorschach
Meine Damen und Herren, ich möchte mich bedanken, dass sie sich an einem Sonntagmorgen ein so schwieriges Thema vorgenommen haben. aufgeladen haben. Mein Thema ist die gestörte Beziehung der Schweiz zwischen Direkter Demokratie und der Europäischen Menschenrechtskonventionen (EMRK), sozusagen das Herzstück des europäischen Verständnisses der Menschenrechte.
Wenn wir das Problem in einem Satz zusammenfassen möchten und das wäre auch die Zusammenfassung meines Beitrages, dann kann man es so sagen: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist die Lehre Europas aus den Katastrophen in Europa des 20. Jahrhundert. Dass der Mensch sozusagen vor der staatlichen Macht , auch vor der Mehrheit der anderen Menschen geschützt werden muss, dass er Grundprinzipien haben muss die nicht Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen sein dürfen oder eben irgendwelcher Letztbeurteilungen durch staatliche Behörden.
Auf der anderen Seite ist die Direkte Demokratie die grosse Errungenschaft der Schweiz im 19. Jahrhundert in dem Sinne, dass sich die Demokratie eben nicht auf einen parlamentarischen oder repräsentativen Absolutismus reduzieren kann. Das heisst, dass die Bürger – und da geht die Definition etwas weiter – die Bürgerinnen und Bürger sollen immer wenn sie betroffen sind von Entscheidungen die Möglichkeit haben, diese Entscheidungen, ob direkt oder indirekt, mitzugestalten. Und der entscheidende Punkt ist, dass in der Schweiz, nicht nur in der Schweiz aber vor allem in der Schweiz, diese beiden Errungenschaften sich bis heute im 21. Jahrhundert noch nicht versöhnt haben. Das haben wir noch vor uns, als Aufgabe und dieser Aufgabe werden wir nur gerecht, wenn wir nicht eines gegenüber dem anderen opfern sondern merken, dass die beiden untrennbar miteinander verknüpft sind. Und in der Verfassung in welcher geregelt wird, wer wann was wie viel zu sagen hat, muss diese Versöhnung eben institutionalisiert zum Ausdruck kommen, so dass diese Konflikte nicht mehr stattfinden können. Das ist bisher in der Schweiz noch nicht passiert und dem müssen wir uns in den nächsten 10 Jahren realisieren.
Nun einige Thesen, um die Notwendigkeit dieser Versöhnung darzustellen, und um sich auch bewusst zu werden, dass dies nicht einfach ist, beziehungsweise dass wir das umsichtig und sorgfältig machen müssen.
I.
Zuerst, es ist eine unglaubliche Errungenschaft, dass man in den 1950ern und 60ern Jahren in Europa zur Erkenntnis kam und jedem einzelnen Bürger die Möglichkeit gab, seine Grundrechte gegen den eigenen Staat bei einer übernationalen europäischen Instanz einklagen zu dürfen, wenn er oder sie das Gefühl hat, oder den Eindruck hat, der eigene Staat hätte die Grundrechte, die Menschenrechte verletzt. Das ist eine grossartige Realisierung einer grossen Utopie und sie ist so grossartig, weil wir uns heute wahrscheinlich bewusst sein müssen, dass wir heute in Europa nicht mehr in der Lage wären, dies zu realisieren. Das heutige Europa wäre dazu nicht in der Lage. Der Nationalismus hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren in einer Art wieder durchgesetzt im öffentlichen Bewusstsein, dass eine solche Errungenschaft heute wohl nicht mehr möglich wäre.
Es ist dies vielleicht auch gleich der traurige Aspekt dieser Errungenschaft, dass ihr unerhört gewaltsame Auseinandersetzungen, ein Krieg, der 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, vorausgehen musste. Oder noch genauer gesagt: Man muss den ersten und zweiten Weltkrieg zusammen rechnen; so sind etwa 10% der Menschen die 1914 gelebt haben, 1945 nicht mehr am Leben gewesen. Diese unglaubliche Gewalt ist die Ursache und gleichzeitig zeigt es etwas auf, das ist vielleicht das grösste heutige Problem der Menschheit, dass sie nicht fähig scheint, ohne Gewalt oder Gewalterfahrung zu lernen. Erst eine Gewalterfahrung ermöglichte einen solchen grossen Lernschritt wie die EMRK und das ist eine ganz grosse Schwäche, mit der wir uns auf ganz verschiedenen Ebenen auseinandersetzen müssen.
Die weist uns auch wiederum darauf hin, weshalb in der Schweiz die Versöhnung der Errungenschaft der Menschenrechte mit der Errungenschaft der Direkten Demokratie eben noch nicht zustande kam: Die Schweiz wurde von der Erfahrung dieses Gewaltexzess nicht erfasst, weil sie das Glück hatte, von dieser Katastrophe nicht unmittelbar betroffen zu werden. Glück ist keine Schwäche. Doch es gehört zu den Schwächen der Schweiz, dass sie ohne die direkte Katastrophenerfahrung den Lernschritt, den die anderen mit dieser Erfahrung erlebt haben, nicht gemacht hat.
Ein anderes Beispiel für dieses ungleiche Lernen ist das Frauenstimmrecht. Das Frauenstimmrecht wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den meisten Ländern erst nach Kriegen eingeführt, aus verschiedenen Gründen (so Deutschland und Grossbritannien nach dem ersten, Frankreich erst nach dem zweiten Weltkrieg). Ausnahmen sind nur ganz neue Staaten, die besonders progressiv sein wollen, so Neuseeland und Norwegen, die bereits 1897 und 1905 das Frauenstimmrecht eingeführt haben. In der Schweiz musste man das ohne Katastrophe lernen, und das geht länger. Offenbar finden Sie dies zum lachen, aber es ist doch auch traurig. Man muss sich jedoch nicht schämen. Der Preis, 60 Millionen Tote für einen Fortschritt bezahlen zu müssen, somit 60 Millionen Tote, die diesen Fortschritt nicht mehr erleben, ist nämlich unerhört.
Doch aus der neuen Broschüre von Elisabeth Joris zum 40. Geburtstag des Frauenstimmrechtes, die im Foyer zu kaufen ist, seht Ihr, dass das Frauenstimmrecht nicht 1918 oder 1945, sondern erst 1958/59 von der Bundesversammlung eingeführt werden wollte. Es scheiterte dann noch beim ersten Anlauf am Referendum und war erst 1971 im zweiten Anlauf erfolgreich. Dem mangelnden Lernen, die Macht auch ohne Krieg zu teilen, schulden wir also eine Verspätung von 50 Jahren, der Direkten Demokratie, beziehungsweise der Entscheidungskompetenz der Bürger nur eine solche von 12 Jahren!
Bereits in den 1830er Jahren, als in den protestantischen Kantonen die liberalen Volksbewegungen die Volkssouveränität erkämpften, verlangten mutige Frauen auch schon das Frauenstimmrecht. In der grossen Demokratie-Bewegung der 1860er Jahre, welche in eigentlichen demokratischen Revolutionen aus der liberalen, fast ausschliesslich repräsentativ-demokratischen Schweiz von 1848 die direktdemokratisch geprägte Schweiz durchsetzten, gab es engagierte Frauen, die den Männern sagten, wenn ihr ernst meint, was ihr mit den Volksrechten verlangt, müsstet ihr auch uns Frauen das Stimm- und Wahlrecht zugestehen.
II.
Die Direkte Demokratie erweitert und ergänzt die repräsentative Demokratie. So, dass die Menschen nicht abhängig sind von den Parteien oder von Repräsentanten, sondern auch selber und miteinander auf ihre Lebensgrundlagen einwirken können.
Bis heute leidet unsere Direkte Demokratie übrigens unter unserem beschränkten Demos. Heute gehören zwar die Frauen dazu, nicht aber jenes Viertel der Gesellschaft, die von unseren Entscheidungen betroffen sind, ohne aber den Roten Pass zu besitzen und so ausgeschlossen zu werden von der Demokratie.
Bis heute verstehen die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer die Direkte Demokratie - eine besondere Eigenheit der Schweiz, und das muss man verstehen, um der Aufgabe, die uns bevorsteht, gerecht zu werden – aber als Privileg des Schweizer seins und nicht als Menschenrecht. Obwohl auch die direkte Demokratie, dort wo sie das erste Mal entwickelt wurde, nämlich in der französischen Revolution von Jean-Marie Condorcet, in der ersten Verfassung der französischen Revolution von 1791, sie zu Recht als Menschenrecht begriffen. Doch die Schweiz hat die Direkte Demokratie immer als kollektives Recht, als Volksrecht und nicht als Bürgerrecht verstanden. Und diese Erkenntnis, dass die Demokratie und auch die Direkte Demokratie Menschenrechte sind, steht uns erst noch bevor; diesen Gedankenschritt müssen wir mehrheitlich erst noch tun.
III.
Für mich persönlich ist es nun ganz wichtig, dass wir alle verstehen, wieso es letztendlich gar nicht möglich ist, Menschenrechte und Direkte Demokratie voneinander zu trennen. Weil im Zentrum beider steht die Würde des Menschen! Und die Würde des Menschen ist die Seele der Menschenrechte die eben heute dank der Menschenrechtskonvention gegenüber jeglicher staatlicher Macht, wie sie auch immer ausgeübt wird, zum Beispiel Bundesgerichtsentscheid oder Regierungsentscheid oder Mehrheitsentscheid des Volkes, geschützt werden muss.
Aber es gibt auch keine Würde des Menschen, wenn der Mensch nicht selber über sich bestimmen kann. Deshalb ist die Würde des Menschen sozusagen die gemeinsame Schnittmenge zwischen der traditionellen Definition der Menschenrechte und dem Kern der Direkten Demokratie. Darum kann man das gar nicht gegeneinander ausspielen oder voneinander trennen. Zum Fussball gehört der Ball, es gibt kein Fussball ohne Ball. Deshalb gehören zu der Demokratie die Menschenrechte und zu den Menschenrechten gehört die Demokratie, das eine gibt es nicht ohne das andere.
IV.
Der Europarat ist 1949 gegründet worden und die europäische Menschenrechtskonvention war 1951 die erste grosse Konvention des Europarates, inzwischen gibt es fast 200. Die Schweiz ist dem Europarat erst 1963 beigetreten, konnte aber die europäische Menschenrechtskonvention erst 1974 ratifizieren, weil der Bund erst 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt hat.
Interessant ist trotzdem, dass die Menschenrechtskonvention ohne Referendum ratifiziert wurde. Dies hat niemand verlangt, obwohl die Möglichkeit bestanden hätte, weil es einem fakultativen Referendum unterstanden hätte, 50'000 Unterschriften oder damals 30'000 hätte sammeln können, um diesen Entscheid des Parlaments, die Menschenrechtskonvention zu ratifizieren, vor das Volk zu bringen. Vielleicht auch weil man die Tragweite unterschätzt hat. Das ist jedoch eine offene Frage, welcher man noch nachgehen sollte, denn heute würde das Referendum ganz sicher ergriffen werden und ich kann mir vorstellen, wie gegen die EMRK argumentiert würde.
Es ist interessant, dass bis vor kurzem die ungenügende Schnittstelle in unserer Bundesverfassung zwischen Direkter Demokratie und den Menschenrechten nie ein Diskussionsthema war. So kann man in der Schweiz immer noch über etwas abstimmen, von dem man ganz genau weiss, dass man es nicht realisieren könnte, weil wenn jemand dagegen klagt in Strassburg recht bekäme, und somit der Volksentscheid aufgehoben werden müsste. In den letzten 10 Jahren ist dies nun aber zum Problem geworden. Es gab 6 Volksinitiativen, welche die Menschenrechte ritzten und jetzt steht vielleicht wieder eine an und da hat auch der Bundesrat neulich gesagt, sie würde die Menschenrechte verletzen, nämlich die Idee einer Einbürgerung auf Probe. Das würde dann zwei ungleiche Arten von Schweizern und Bürgern, was der Bundesverfassung ebenso wie der Menschenrechtskonvention mit ihrem Gleichheitsprinzip widersprechen würde.
Weshalb war dies bislang kein Problem? Weil die Nationalkonservativen, die bei uns bis vor 10 Jahren andere Politiken, andere Projekte postuliert haben, heute aber nicht mehr den Ball spielen, sondern auf den Mann und zwar im eigentlichen Sinne. Sie grenzen Menschen aus, die nicht unbedingt die edelsten Menschen sind. Ruedi Tobler hat dazu aber mal sehr schön gesagt: «Auch Grüsel haben Menschenrechte.» Man kann mit Grüseln - wobei Muslime keine Grüsel sind, was man an dieser Stelle auch gleich festhalten muss -, wie sexuellen Straftätern, Kinderschändern oder Kriminellen nicht so umgehen als wären sie Menschen ohne Grundrechte. Darum gibt es auch keine Todesstrafe, denn diese ist quasi das Symbol Verletzung des Menschenrechtes auf Leben in Europa. Es gibt nur noch einen Staat in Europa, welcher die Todesstrafe praktiziert und darum ist dieser Staat auch nicht Mitglied des Europarates, ich spreche von Weissrussland.
Alle Menschen haben Rechte und Grundrechte, auch jene Grüsel, die uns nicht passen. Heute wird damit politisiert, wobei man gewisse Menschen ausgrenzen will, in dem man ihnen diese Grundrechte entzieht. Deshalb stellt sich heute diese ungenügende Schnittstelle zwischen Direkter Demokratie und Menschenrechten als Problem dar. Und ich möchte ergänzend sagen: Eine Abstimmung über den Entzug der Menschenrechte für eine gewisse Kategorie von Menschen, widerspricht nicht nur den Menschenrechten, sondern widerspricht auch der Idee der Direkten Demokratie. Denn es führt schlussendlich die Direkte Demokratie ad absurdum und untergräbt ihre Legitimität, wenn diejenigen, die eingeladen werden zu etwas ja oder nein zu sagen, erfahren müssen, dass gar nicht umgesetzt werden kann, was sie mehrheitlich befürwortet haben.
Das heisst, man verletzt nicht nur die Menschenrechte, sondern schädigt auch die Direkte Demokratie wenn man dies zulässt. Und die grosse Frage ist, ob es nicht gewisse Leute gibt, die dies sogar wollen und die Direkte Demokratie beschädigen wollen.
Sie haben ja gesehen, die grossen Reaktionen in Europa am 26. November 2009 nach der Minarett-Abstimmung. Die ARD berichtete in ihrer Abend-Ausgabe der Tagesschau – und es sei bemerkt, die ARD ist nicht die schlimmste Fernsehanstalt Deutschlands - «Da seht ihr, wo das hinführt wenn wir die Direkte Demokratie hätten, dann kommen solche Entscheide dabei heraus». Das stimmt aber für Deutschland überhaupt nicht! Denn in Deutschland würde jedes Gericht diese Initiative für ungültig erklären, beziehungsweise sie wegen Verletzung der Religionsfreiheit gar nicht zulassen zum Volksentscheid.
Und glücklicherweise hat die ganze Stuttgarter Bewegung im Herbst 2010 diese Position heute in der deutschen Öffentlichkeit neutralisieren können. Die Direkte Demokratie leidet nicht mehr an diesem Stigma aus der Schweiz, es wird als ein schweizerischen Problem erkannt und es ist kein Problem mehr der Direkten Demokratie an sich. Aber, wer solche Volksabstimmungen zulässt, der frustriert nicht nur die Menschen, erhöht wieder die Distanz zwischen Bürger und Politik - was heute eh ein Problem ist, weshalb in anderen Ländern BürgerInnen die Direkte Demokratie erkämpfen wollen - sondern er diskreditiert auch die Direkte Demokratie im Sinne dessen, dass die Demokratie eben viel mehr ist als die Mehrheitsregel.
So gesehen finde ich, wir müssen um der Menschenrechte und um der Direkten Demokratie Willen, diese Schnittstelle präzisieren und das kann nicht anders geschehen dass man den Begriff des zwingenden Völkerrechtes wie er in der Schweiz gilt, erweitert um den Kerngehalt der europäischen Menschenrechtskonvention. Und man kann das mit Bezug auf die europäische Menschenrechtskonvention machen, oder man kann es beziehen auf die Grundwerte der schweizerischen Verfassung weil die eben identisch sind mit den Grundwerten der europäischen Menschenrechtskonvention. Und das wird vermutlich auch so gemacht, beziehungsweise vom Bundesrat so vorgeschlagen werden, denn es ist politisch einfacher eine Mehrheit von Volk und Ständen davon zu überzeugen wenn man betonen kann: es geht eigentlich um den Schutz der eigenen Verfassung. Denn alle, die Macht ausüben in der Schweiz, müssen die Verfassung achten! Und es steht in der Verfassung, dass alle die Macht ausüben ,ihre Macht begrenzt sehen müssen durch das, was in der Verfassung steht, nämlich das Recht, und zum Recht gehört auch das Menschenrecht.
Der Anstoss zu dieser Reform und Präzisierung der Bundesverfassung könnte vom Bundesrat kommen und hätte so auch grössere Chancen als wenn wir dies mit einer parlamentarischen oder mit einem Volksinitiative versuchen würden. Doch eine Volksabstimmung wird es ganz sicher geben. Und auch wenn diese Abstimmung erst in weiterer Zukunft stattfindet, können wir diese schon heute vorbereiten, beziehungsweise mit dem Arbeiten am Umdenken beginnen. Denn ein Grossteil unserer Mitbürger ist immer noch der Meinung, dass man die Demokratie auf die Mehrheitsregel reduzieren kann. Das ist ein Missverständnis von Demokratie, und verkennt, dass die Menschenrechte ein integraler Bestandteil der Demokratie sind. Diese falsche Mentalität müssen wir überwinden, wenn wir eine Chance haben wollen, die entscheidende Volksabstimmung zu Verbesserung der Schnittstelle zwischen der Direkten Demokratie und den Menschenrechten in der Bundesverfassung gewinnen zu können.
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Andreas Gross
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