31. Jan. 2011

Tages-Anzeiger
Zürich

Es geht um die Frage, ob für alle - nicht nur jene mit dem richtigen Pass - Menschen faire Lebenschancen bestehen


Von Daniel Foppa

TA: Teilen Sie den Befund, wonach die Schweizer Demokratie nur Mittelmass ist?

Andreas Gross: Nur sehr beschränkt. Die Studie stützt sich auf lediglich 94 Faktoren, um die Qualität einer Demokratie zu messen. Sie blendet dabei aber entscheidende Punkte aus, zum Beispiel die Frage: Sind die mit einer Demokratie untrennbar verknüpften Versprechen wie Gleichheit, Freiheit, Fairness, und Brüderlichkeit tatsächlich eingelöst?

Muss man nicht einfach untersuchen, wie stark die Mitspracherechte und die rechtsstaatlichen Prinzipien ausgebaut sind, um die Qualität einer Demokratie zu messen? Ob sich dann die Mehrheit für mehr oder weniger Freiheit und Gleichheit entscheidet, ist sekundär.

Demokratie ist ein viel anspruchsvolleres Gesamtkunstwerk, das sich nicht nur auf die zugrunde liegenden Verfahrensmechanismen reduzieren lässt. Es geht um die Frage, ob für alle – nicht nur jene mit dem richtigen Pass - Menschen faire Lebenschancen bestehen. So wurde die moderne Demokratie in der französischen und der amerikanischen Revolution begründet. Dort wurde definiert, dass der Bürger nicht ein Objekt, sondern ein Subjekt der Demokratie ist – und das gewichtet diese Studie viel zu wenig.

Inwiefern tut sie das?

Der Studie liegt eine Definition von Demokratie zugrunde, die primär die Rechtstaatlichkeit betont. Das ist ein sehr deutsches Staatsverständnis, während das schweizerische mehr republikanisch-freiheitlich ist. Dadurch fällt es stark negativ ins Gewicht, dass die Schweiz weder ein Verfassungsgericht noch ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung kennt. Das sind Mittel, um den Bürger vor dem Staat zu schützen. Das Schweizer Demokratieverständnis geht hingegen davon aus, dass der Bürger nicht ein Konsument, sondern ein handelnder Akteur im Ganzen ist. Er identifiziert sich viel stärker mit dem Staat, den er ja jederzeit aktiv mitgestalten kann. Wenn hier jemand geschützt werden muss, dann ist es eher der Bürger vor dem Bürger.

Stark negativ ins Gewicht fällt die niedrige Stimmbeteiligung.

Die Stimmbeteiligung bei Abstimmungen ist wieder auf durchschnittlich 50 Prozent gestiegen. Und nicht immer gehen die gleichen, sondern immer andere, was mehr Menschen ganz anders aktiviert, als wenn sie nur alle vier Jahre zwischen sehr ähnlichen Parteien auswählen können. Das berücksichtigt die Studie zu wenig. Zudem teile ich den Befund nicht, dass die bildungs- und einkommensschwache Bevölkerungsschicht immer weniger an die Urne geht und gleichsam ausgeschlossen wird. Die SVP kommt bei unteren Einkommensschichten sehr gut an. Es ist in den vergangenen zehn Jahren eher der Trend feststellbar, dass sich obere Einkommensschichten desinteressiert von der Politik abwenden und sich für das Gemeinwesen zu vornehm sind.

Was muss denn aus Ihrer Sicht getan werden, damit die Schweiz noch demokratischer wird?

Nötig sind Transparenz bei den Zuwendungen an die Parteien und eine öffentliche Parteienfinanzierung. Das würde zu mehr Fairness in Abstimmungen führen. Aus rechtsstaatlicher Sicht braucht es ein Verfassungsgericht und die Möglichkeit, dass eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments die Neuwahl der Regierung erzwingen kann. Das würde den Bundesrat dazu bewegen, besser mit dem Parlament zusammen zu arbeiten.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht