11. Jan. 2011

Tages-Anzeiger
Zürich

«Ich mache nicht auf Anmache»


Andreas Gross winkt das Europaratspräsidium. Doch dem Zürcher SP-Nationalrat weht im eigenen Land ein rauer Wind entgegen. Im Interview spricht er über seine Trümpfe, Todesdrohungen und die heisse Kosovo-Debatte.

Der Europarat macht selten Schlagzeilen. Dazu fehlen der Versammlung von 636 Abgeordneten aus mittlerweile 47 Mitgliedsländern die Machtkompetenzen. Viele verwechseln das Europaratsparlament denn auch mit dem ebenfalls in Strassburg tagenden EU-Parlament. Nur wenn der Tessiner Europaratsabgeordnete Dick Marty einen Bericht zum mutmasslichen Organhandel der UCK in Kosovo oder zu Geheimgefängnissen und Entführungen der CIA im «Krieg gegen den Terror» veröffentlicht, sind die Scheinwerfer vorübergehend auf das Gremium gerichtet, das sich seit 1949 meist still, aber beharrlich für die Verankerung der europäischen Grundrechte einsetzt und als das demokratische Gewissen des Kontinents gilt. (mai)

Herr Gross, Ihnen winkt das Europaratspräsidium. Aber dafür müssten Sie ein sechstes Mal in den Nationalrat gewählt werden. Keine einfache Sache.

Gewiss. Vor allem, wenn ich in den Medien in den letzten Wochen vor allem als «Dinosaurier, Sesselkleber oder Fossil» vorkomme. Besser wäre es doch, darzulegen was ich tue.

Im Vergleich zu anderen Parlamentariern haben Sie wenig öffentliche Präsenz.

Klar, ich mache nicht auf Anmache und renne auch nicht jedem spektakulären Thema hinten nach. So wäre ich nicht glaubwürdig. Zudem meide ich Veranstaltungen, an denen ich nichts zu sagen habe. Ich schreibe aber immer wieder Bücher, veröffentliche Artikel in den Medien – zum Beispiel in der Weltwoche, im Cicero, in der NZZ und jüngst sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Aber das wird halt einfach weniger wahrgenommen. Beim Westschweizer Radio bin ich praktisch alle zwei Wochen zu hören.

Sie leben und arbeiten im Jura. Können Sie so überhaupt die Zürcher Interessen im Parlament vertreten?

Ich habe 25 Jahre lang in Zürich gelebt und gearbeitet. Jetzt lebe und arbeite ich in der ganzen Schweiz und in halb Europa – mehr als die Hälfte dieses Januars arbeite ich beispielsweise in Paris, Strassburg, Athen und Moskau. Zu glauben, man müsse ewig nur in Zürich leben um auch Zürcher Interessen vertreten zu können, scheint mir eine verengte Sichtweise.

Wie meinen Sie das?

Wenn es um Menschenrechte, Demokratie, Solidarität und eine nachhaltige Entwicklung geht, haben aufgeklärte, weltoffene Zürcher die gleichen Interessen wie andere Europäer, die in Moskau, Paris, Athen oder Strassburg leben. Umgekehrt kann man sagen: Es ist doch auch wichtig, dass jemand den humanitären, demokratischen Geist aus dieser Stadt in die Welt hinausträgt und dort festigt. Zürich zum Beispiel als «Hauptstadt der direkten Demokratie», hat international einiges zu bieten. Hier war es, wo 1869 die direktdemokratischste Verfassung der Welt entstand und bis nach Kalifornien, Oregon, Dänemark oder Australien ausstrahlte. Entsprechendes kann man heute auch bei den jungen Demokratien in Osteuropa noch einbringen. Und diese Aufgabe kann ich nur wahrnehmen, wenn ich beide Mandate innehabe. Ohne Schweizer Parlamentarier zu sein, gibt es kein Europaratsmandat. Das ist das spezifisch besondere und spannende am Europarat.

In Ihrem Wahlgebiet, dem Kanton Zürich, drängen die Jungen nach vorn. Verstehen Sie, dass man Ihr Parlamentsmandat infrage stellt?

Verstehen schon. Jugendlichkeit allein ist aber noch kein starkes Argument. Zudem leistet sich die Zürcher SP seit 60 Jahren einen Parlamentarier, dessen Horizont über die Kantons- und Landesgrenzen hinausreicht. Das ist ein Privileg von grossen Parteien in grossen Kantonen.

Welche Persönlichkeiten sprechen Sie an?

Zum Beispiel Edouard Zellweger, den ersten Schweizer Botschafter in Belgrad nach dem Jugoslawien-Krieg. Er vertrat die Zürcher SP zuerst im National- später im Ständerat. In dieser Zürcher SP-Tradition sehe ich auch den früheren Stadtpräsidenten Emil Klöti, den Bundesrat aus dem Aussersihl, Willy Spühler, oder die Nationalräte Walter Renschler und Doris Morf.

Am 14. Mai müssen Sie den Zürcher SP-Delegierten Ihre erneute Kandidatur erklären. Worauf legen Sie den Fokus?

Die Schwierigkeit liegt für mich darin, mein Wirken und meine Perspektiven in drei bis fünf Minuten zusammenzufassen. Das wird tatsächlich nicht einfach. Viele Leute in der SP Zürich kennen mich allerdings durchaus persönlich, und wissen, wofür ich mich einsetze. Es ist aber noch nicht klar, ob es überhaupt so weit kommt.

Wie bitte?

Ich sagte schon im Dezember beim Westschweizer Radio, wir müssten zuerst die Zürcher Wahlen abwarten. Sollte Mario Fehr in die Kantonsregierung gewählt werden, würde dieser Sitz im Nationalrat frei. Ebenfalls ist noch nicht klar, wie sich Christine Goll und Anita Thanei entscheiden. Sie sind ja auch schon 20 respektive 16 Jahre im Nationalrat. Hier ist vieles offen und es wird noch einiges nachgedacht und diskutiert werden müssen.

Demnächst debattiert der Europarat den Kosovo-Bericht von Dick Marty. Worauf läuft das hinaus?

Das wird eine ganz heisse Diskussion an diesem letzten Dienstag im Januar. Viele Leute haben nationalistisch und aggressiv auf diesen Bericht reagiert. Der Bericht wurde auch fälschlicherweise als gerichtliches Beweisverfahren interpretiert. Wegen dieses Missverständnisses gab es schlimme Reaktionen.

Haben auch Sie persönlich Reaktionen erhalten?

Ich habe von kosovarischen Botschaftern Briefe erhalten.

Und was stand da drin?

Dazu sage ich nur so viel: Wenn der Premierminister eines Landes einen ausländischen Berichterstatter mit Goebbels vergleicht, setzt er eine falsche Tonlage und erleichtert die Wahrheitsfindung in keiner Weise.

Ist für die Sicherheit von Dick Marty gesorgt?

Ich habe mit dem Schweizer Botschafter in Strassburg zusammen dazu beigetragen, dass man auch in der Schweiz für die Sicherheit von Dick Marty sorgt.

Sie engagieren sich in Menschenrechtsfragen und arbeiten in instabilen Ländern wie Tschetschenien oder Aserbeidschan. Werden Sie oft bedroht?

Ich bekomme fast monatlich Todesdrohungen. Aber überwiegend aus der Schweiz. Mit dem E-Mail hat dies deutlich zugenommen.

Wie reagieren Sie darauf?

Wenn möglich, schreibe ich zurück und versuche, auf die Leute einzugehen. Oft sind diese deswegen total überrascht. Manchmal haben sich daraus schon gute Gespräche ergeben. Das gehört zu meinem Demokratieverständnis. Ich suche den Dialog auch in den widrigsten Umständen.

Mit dem Europaratspräsidium könnten Sie ihre politische Karriere krönen. Würden Sie tatsächlich aus parteipolitischen Gründen auf eine Wiederkandidatur für den Nationalrat und damit auf den aussichtsreichen internationalen Posten verzichten?

Sicher, denn ohne Verständigung mit der SP und ohne von ihr mindestens mehrheitlich unterstützt zu werden, lässt sich nichts verbessern in Bern oder sonst wo. Im übrigen würde ich nicht von Krönung sprechen. Schliesslich leben wir in einer Demokratie. Klar wäre das Europaratspräsidium eine schöne Aufgabe. Man erhält die Möglichkeit, direkt mit den Regierungen dieses Kontinents Verbindung aufzunehmen und zu diskutieren. Sei das in der jetzigen Debatte um Ungarns Mediengesetz oder in jungen Demokratien wie Albanien oder Moldawien, in denen es auch noch zu viele autoritäre Herrschaften gibt. Echte Höhepunkte in meinem politischen Leben waren für mich viel mehr die erste Armee-Abstimmung 1989, der Uno-Beitritt 2002 oder die Berichte und die Diskussion zur Krise der Demokratie in Europa im Europarat 2007, 2008 und 2010.


Kontakt mit Andreas Gross



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