06. Jan. 2011

Handelszeitung
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Weshalb die Schweiz in die EU gehört


Entscheidend ist die Frage, ob wir wirklich frei sein wollen

Von Andreas Gross
Andreas Gross (58) ist Politikwissenschaftler, Demokratiespezialist, Nationalrat und Fraktionspräsident der SP in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.


Die Europäische Union (EU) ist nicht das Paradies auf Erden. Genau so wenig wie die Schweiz. Wir müssen der EU nicht beitreten, damit es uns wirtschaftlich oder sozial sehr viel besser geht. Es reicht zu wissen, dass es sich auch in einem EU-Mitgliedsland Schweiz gut leben und arbeiten liesse. Und das Leben in einem EU-Mitgliedsland Schweiz bliebe anders als dasjenige in den EU-Mitgliedsländern Frankreich oder Deutschland, so wie heute das Leben in Dänemark anders ist als dasjenige in Portugal oder Slowenien.

Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob die Schweiz der Europäischen Union (EU) beitreten soll, sind also weder irgendwelche Heils-Versprechen noch wirtschaftliche Kosten/Nutzen-Vorteilsrechnungen. Entscheidend ist die Antwort auf zwei politische Vorfragen: Wie ernst meinen wir es eigentlich mit unserer Freiheit? Und wie ernst nehmen wir die Demokratie? Freiheit nicht im banalisierten Sinn, auf den dieses grosse Wort von zu vielen reduziert wird, als Losgelöst sein von Zwängen, auf die Wahl zwischen einem beschränken Angebot oder gar auf das in Ruhegelassenwerden von irgendwelchen fremden Störungen.

Es geht um die Freiheit in ihrem ursprünglich republikanischen Sinne: Der Fähigkeit, gemeinsam mit anderen die eigenen Existenzgrundlagen beeinflussen zu können, Leben nicht als Schicksal erfahren zu müssen. Zweitens geht es um das doppelte Versprechen der Demokratie: Einerseits sollten in einer Demokratie all jene, welche von Entscheidungen betroffen sind am Prozess der Entscheidungsfindung teilhaben können. Freiheit darf also nicht zum Privileg weniger besonders Begüterter werden. Andererseits verspricht die Demokratie eine faire Verteilung der Lebenschancen, kein Mensch sollte zu wenig haben, keiner dem anderen das Notwendige streitig machen können.

Entscheidend ist die Erkenntnis, dass angesichts der globalisierten Ökonomie im Rahmen des Nationalstaates das politische Freiheitsprojekt und das doppelte Versprechen der Demokratie nicht mehr eingelöst werden können. Mit anderen Worten: Ausserhalb der EU werden Freiheit und Demokratie je länger je mehr zur Illusion. Zu sehr ist die Autonomie des Nationalstaates erodiert. Wer Freiheit und Demokratie als Projekte ernst nimmt, kann sie heute und in Zukunft nur im Rahmen der EU verwirklichen. Freiheit und Demokratie benötigen also die EU.

Nun benötigt freilich die EU auch mehr Demokratie. Gewiss, denn die EU ist bis heute ein Staatenbund auf einer Vertragsbasis und kein Bundesstaat auf Verfassungsbasis. Deshalb ist die Regierungsebene viel zu stark, die Gewaltteilung und das Parlament sind zu schwach und die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich ausgeschlossen. Deshalb muss, wer Freiheit und Demokratie im 21. Jahrhundert ernst nimmt, auch die EU reformieren und ihrer enormen Macht eine entsprechende Verfassungsgrundlage verschaffen. Um Europa und der Demokratie willen.

Was im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in der EU mit den zwei Konventen und den Regierungskonferenzen versucht wurde, ergab als Reformvertrag mit der Etikette Verfassung einen Zwitter und wurde von den Bürgerinnen und Bürger Frankreichs und den Niederlanden mit Recht beerdigt. Wie sehr der EU die transnationale Demokratie heute fehlt zeigt die Krise des Euro mit ihrer fehlenden Politischen Union und Perspektive, die ohne starke demokratische Institutionen unmöglich zu realisieren ist.

Deshalb gilt es in der EU im kommenden Jahrzehnt auf einen echten verfassungsgebenden Prozess zurückzukommen, an dessen Ende ein Verfassungsentwurf vorliegen muss, den allen Bürgerinnen und Bürgern der EU gleichzeitig zum Verfassungsreferendum unterbreitet werden muss, dessen Annahme eine doppelte Zustimmung der Bürger und der Mitgliedsstaaten voraussetzt.

Das ist das Kreuz für jene, die wie die Schweiz zu spät in die EU kommen wollen: Sie müssen eine doppelte Anstrengung gleichzeitig bewältigen. Sie müssen merken, dass ausserhalb der EU Freiheit und Demokratie illusionär geworden sind, innerhalb der EU die Strukturen aber auch reformiert werden müssen, wenn Freiheit und Demokratie gestärkt und erfahrbar werden sollen. Das kann auch in Europa nur mit den Bürgerinnen und Bürgern geschehen. Die Schweiz könnte da einige gute Erfahrungen beitragen. Zusammen könnten wir so retten und weiter bauen, was jeder alleine verlieren würde, beziehungsweise schon verloren hat: Freiheit und Demokratie.


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