14.10.2010

Vortrag
GrünLinks in den Niederlanden

Wir müssen die Demokratie restaurieren, renovieren und revitalisieren – nicht den Rechten überlassen


Wer die Direkte Demokratie den Rechten überlässt, lässt die Freiheit zu einem Privileg weniger Privilegierter verkommen und die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger rechts liegen. -- 13 Bausteine einer Theorie der Philosophie und Soziologie der Direkten Demokratie

Von Andreas Gross, Schweizer Politikwissenschafter, sozialdemokratischer Bundesparlamentarier, Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Europarat.

Die gegenwärtige tiefe Krise aller europäischen Demokratien erleichtert die Verständigung auf deren Ursachen und die Diskussion, wie sie überwunden werden könnte, paradoxerweise gar nicht. Obwohl überall eigentlich nur wenige die Demokratiekrise mit undemokratischen Mitteln überwinden möchten. Die meisten versuchen überall und richtigerweise die Demokratie zu demokratisieren, um sie leistungsfähiger, glaubwürdiger und für alle spürbar gestaltungsmächtiger zu machen.

Doch wir machen es uns schwer, uns darauf zu verständigen, was wir denn unter der Demokratisierung der Demokratie verstehen. Zu lange haben wir es versäumt, uns über die unterschiedlichen Bedeutungen der gleichen Begriffe zu verständigen. Selbst dann, wenn sie uns sehr wichtig sind. Zu sehr haben wir uns an die Diskussionen in unseren nationalen Kommunikationsräumen gewohnt und uns mit Versatz-stücken an Wahrnehmungen anderer und meistens nur der grösseren Nationen begnügt. Und zu lange haben sich zu viele an den meisten Orten nicht um die Substanz und die zentralen Inhalte der alten Begriffe Demokratie, Souveränität, Freiheit und Gerechtigkeit gekümmert.

Herrn Wilders Verhunzungen der Direkten Demokratie sind kein Grund, gegen die Direkte Demokratie zu sein!

Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb niederländische Linke und Grüne die Ideen und Konzepte der Direkten Demokratie so missverstehen und sie von sich weisen, nur weil diese von Herrn Wilders instrumentalisiert und missbraucht werden. Schliesslich liebt Herr Wilders auch den holländischen Fussball und dies ist wohl noch kein Grund, weshalb dieser von den Linken und Grünen der Niederlande aufgegeben werden dürfte. Ganz im Gegenteil: Wir Europäerinnen und Europäer lieben den von Johan Cruyff gelebten und neu erfundenen Fussball selbst oder gerade dann ganz besonders, wenn er von katalanischen Spaniern besser beherrscht wird als von den gegenwärtigen Fussballern der Oranje selber.

Wenn Herr Wilders die Direkte Demokratie nationalisiert, autokratisiert und personalisiert, dann bedeutet dies noch nicht, dass wir die Direkte Demokratie in Frage stellen oder gar ablehnen müssen, sondern wir müssen uns darauf besinnen, was die Direkte Demokratie wirklich ist. Dann würden wir merken, dass wir Herr Wilders und dessen Verkürzung und dessen Missbrauch der Direkten Demokratie ablehnen müssen und nicht deren Form der Demokratisierung der Demokratie an sich.

Diese Besinnung auf die Philosophie und die Moderne der Direkten Demokratie möchte ich deshalb ganz besonders gerne tun, weil ich auf Grund der unseligen Erfahrungen, welche die Niederlande mit dem vermeintlichen Referendum zur vermeintlichen europäischen Verfassung gemacht hat, den Eindruck habe, dass nicht nur Herr Wilders derzeit in den Niederlanden Vieles rund um die Direkte Demokratie missversteht. Vermeintlich habe ich deswegen geschrieben, weil das Referendum viel mehr ein Plebiszit war, das heisst, eine von Regierung und Parlament angesetzte Volksabstimmung, und weil der sogenannte europäische Verfassungsentwurf recht eigentlich ein Vertragsentwurf war, dem man um des besseren Images wegen die nicht verdiente Etiquette der Verfassung verpasste.

Die doppelte Krise der heutigen Demokratie

Beidem, der Idee der Direkten Demokratie und dem wirklichen europäischen Verfassungsprojekt erwies man so in den Niederlanden einen Bärendienst. So muss man Herrn Wilders eigentlich fast dankbar sein, dass er uns veranlasst, darüber nachzudenken, was die Direkte Demokratie wirklich ist. Hoffentlich werden wir dies bald auch noch bezüglich des europäischen Verfassungsprojektes tun können. Denn letztlich wird die Demokratie nur dann ihre Krise überwinden können, wenn sie sich auch transnationalisiert, das heisst mindestens in einer wirklichen Europäischen Verfassung aufgenommen und verankert wird.

Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Krise aller nationaler, europäischen Demokratien ist eine doppelte: Einerseits sind die real existierenden Demokratien zu indirekt, das heisst sie beschränken sich zu ausschliesslich auf Wahlen und müssen deshalb um direktdemokratische Elemente ergänzt werden, und andererseits sind sie zu national, vermögen deswegen die längst transnational agierenden primäre Mächte nicht mehr zu zügeln und zu zivilisieren, und müssen deshalb transnational, das heisst primär europäisch erweitert werden.

Ich habe in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu dieser doppelten Krise unserer Demokratien und wie wir sie überwinden können 2007, 2008 und 2010 drei grosse Berichte verfasst, die auf den Homepages des Europarates (www.coe.int) und auf der meinigen einzusehen sind. Im Folgenden beschränke ich mich auf den Aspekt der Direkten Demokratie und möchte betonen, weshalb die niederländischen Linken und Grünen den Verkürzungen, Verunstaltungen und Simplifizierungen des Herrn Wilders nicht zum Opfer fallen sollten. Der notwendigen Kürze wegen muss ich dies verkürzt in Form von 13 Thesen tun, die sich teilweise auch etwas theoretisch anhören. Wem die Verkürzungen zu kurz sind, dem empfehle ich mich gerne für eine ausführliche Diskussion vor Ort irgendwo in den Niederlanden. Und wer sich an der Theorie stösst, dem möchte ich an die Erkenntnis von Kant erinnern, wonach es nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie. Denn sie hilft uns, die Wirklichkeit besser zu verstehen und vor allem eher zu merken, wie wir diese Wirklichkeit zum Besseren reformieren können. Oder anders herum: Wer glaubt, Herrn Wilders wegen die Direkte Demokratie ablehnen zu müssen, der zeigt nur, wie wenig er sich des Wesens der Direkten Demokratie bewusst ist.

Die 13 Bausteine einer Theorie und Praxis der Direkten Demokratie

1.
In einer Direkten Demokratie wird politische Macht besser und feiner verteilt. Es bleibt mehr Macht bei den BürgerInnen. Diese beschränkt sich nicht ausschliesslich auf den Wahlakt. Auch zwischen den Wahlen soll eine kleine Minderheit (beispielsweise 2 % aller Wahlberechtigten) das Recht und die Möglichkeit haben, die Delegation aufzukündigen und bezüglich eines konkreten Beschlusses des Parlamentes eine Volksabstimmung (Referendum) zu verlangen. Ebenso haben in einer Direkten Demokratie wenige Bürger das Recht, jederzeit allen Bürgern konkrete Verfassungs- und Gesetzesänderungen vorzuschlagen (Volksinitiativen), über die wiederum in einer Volksabstimmung entschieden wird.

2.
Aus diesem Grundsatz lassen sich schon verschiedene Irrtümer des Herrn Wilders erkennen: Die Direkte Demokratie stärkt nicht die Macht eines Einzelnen und es geht nicht darum, dass Herrschende sich durch irgendwelche Suggestivfragen sich eine Legitimität verschaffen können, die ihnen nicht zukommt. Hier liegt genau der Unterschied zwischen einer die Demokratie demokratisierenden Direkten Demokratie und einem autoritären undemokratischen Plebiszit, mit dem Diktatoren von Napoleon dem Dritten über Hitler und Pinochet immer geliebäugelt haben.

3.
Auch in einer Direkten Demokratie (DD) ist die parlamentarische Demokratie folglich eine unverzichtbare, wesentliche Institution, kein Gegensatz. - Eines der Qualitätsmerkmale einer gut designten DD ist gerade die Frage, wie die indirekte und direkte Demokratie zusammenspielt. So kann in einer gut ausgestalteten DD das Parlament jeder Volksinitiative ein Gegenvorschlag gegenüber-stellen, ebenso wie die Bürger in einem konstruktiven Referendum einem bestimmten parlamentarisch beschlossenen Gesetzesartikel eine Alternative gegenüberstellen können sollten, so dass in der Volksabstimmung nicht nur einfach Ja/Nein-Positionen einander gegenüberstehen sondern Varianten, die auch eine differenzierte Diskussion ermöglichen.

4.
In einer DD machen einige BürgerInnen allen BürgerInnen Vorschläge für Gesetzes- oder Verfassungsrevisionen. Darüber wird an der Urne geheim abgestimmt. Es geht also weder um Plebiszite, noch um Personen – Sachabstimmungen habe eine ganz andere diskursive Logik als Personenwahlen – oder um Basis- oder Versammlungsdemokratie, welche immer wieder viel zu manipulierbar sind.

5.
Eine Volksabstimmung/Volksentscheid (VA) in einer DD ist keine auch Befragung, keine Instant-Entscheidung, kein sog. Meinungsbild. Einer VA geht vielmehr ein langer, vielfältiger, reflexiver und kommunikativer Meinungsbildungsprozess voraus. Tempo und Schnelligkeit sind sekundär, die Qualität der Kommunikations- und Meinungsbildungsprozesse sind wichtiger.

6.
Die Seele der DD ist die Kommunikation, sind die Kommunikationsprozesse. - Immer wieder verständigt sich die Gesellschaft in offenen kontroversen Fragen. Die Menschen werden nicht nur gefragt, sie finden auch Gehör – genau das, was heute die meisten in der Demokratie vermissen.

7.
Die Qualität der DD hängt wesentlich von der Ausgestaltung der Verfahren der Direkten Demokratie, der Art ihrer Wahrnehmung und ihres Umfeldes und den Schnittstellen der DD mit dem Parlament, mit den Grund- und Menschenrechten ab. Die Verhinderung einer Tyrannei der Mehrheit wird durch den Respekt der Grund- und Menschenrechte gewährleistet.

8.
In einer VA sind Mehrheiten entscheidend; keine Stimme zählt mehr als andere, wie dies bei Beschlussquoren der Fall wäre. Wie verheerend solche sind können wir aus Italien lernen. Auch dort wird deshalb die DD von Berlusconi beherrscht und manipuliert. Dies ist aber ebenso kein Argument gegen die DD, sondern ein Ansporn , sie so einzurichten, dass sie nicht manipuliert werden kann von autoritären Politikern, die nicht die Freiheit aller sondern ihre eigene Macht mehren möchten.

9.
Eine DD ermöglicht allen die für den Wandel notwendige Aufmerksamkeit zu erzeugen und verhindert, dass Markt- und Herrschaftsinteressen alleine die Tagesordnung der öffentlichen Diskussion und der Öffentlichkeit bestimmen.

10.
Die Macht, welche BürgerInnen sich durch die DD aneignen, ist die Möglichkeit, Öffentlichkeit herzustellen auch dann und dort, wo Regierende/Herrschende es nicht wollen oder mögen.

11.
Finanzielle Ressourcen müssen transparent gemacht und ausgeglichen werden können.

12.
Eine fein ausgestaltete Direkte Demokratie trägt zu Qualitäten bei, welche moderne Gesellschaften am nötigsten haben: Kollektive Lernprozesse, gesellschaftliche Integration von Vielfalt ohne Zwang, Identifikationsmöglichkeiten und Identitätsbeschaffung.

13.
Vor allem aber ermöglichen sie mehr Freiheit, im ursprünglich republikanischen Sinn: Jene die betroffen sind von Entscheidungen, sind Teil des Entscheidungsprozesses und alle haben die Möglichkeit, miteinander jene Lebensumstände zu gestalten, die alle betreffen. Heute sind viele Menschen dazu eher in der Lage als vor 200 Jahren, als diese Ansprüche an die Demokratie formuliert worden sind. Dass viele heute ihre entsprechenden politischen Fähigkeiten nicht einbringen können ist ein Teil der Gründe, weshalb heute so viele frustriert sind angesichts der herrschenden Demokratie. Sie nicht ernst zu nehmen und die Demokratie entsprechend zu demokratisieren wäre auch ein ungeheurer Verlust an gesellschaftlicher Energie und gesellschaftlichen Ressourcen. Die Demokratisierung der demokratischen Institutionen muss der Gesellschaft die Nutzung dieser Energien und Ressourcen ermöglichen.


Kontakt mit Andreas Gross



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