12. Aug. 2010

Landbote,
Winterthur

«Keine Gefahr für gute Kompromisse»


Es untergräbt Kompromisse des Parlaments und ist zu kompliziert: Das Konstruktive Referendum steht in der Kritik vor allem von rechts. Andreas Gross, SP-Nationalrat und Experte für direkte Demokratie, verteidigt das noch neue Instrument. Andreas Gross weilt derzeit in Alaska. Das Interview musste schriftlich geführt werden.

Interview: Thomas Schraner

Landbote: Sie waren als Verfassungsrat der wichtigste Geburtshelfer des Konstruktiven Referendums. Was halten Sie vom Argument, das neue Instrument untergrabe mühsam ausgehandelte Kompromisse im Parlament?

Andreas Gross: Wenn ein parlamentarischer Kompromiss gut und überzeugend ist, dann muss er keine Volksabstimmung fürchten. Die Alternative zu einem Konstruktiven Referendum ist ja nicht kein Referendum, sondern ein allgemeines Referendum. Damit kann man ganze Gesetzesprojekte bodigen, während in einem Konstruktiven Referendum in einem ganz spezifischen Bereich einem konkreten Vorschlag eine ebenso konkrete Alternative gegenübergestellt wird.

Die Vorteile?

Die Diskussion wird fokussiert. Die Gegner müssen konkret und präzise Alternativen vorlegen. Die Stimmberechtigten können unter verschiedenen Optionen auswählen. Und es geht auch dann keine Zeit verloren, wenn die Kritik am Parlament die Mehrheit der Stimmberechtigten überzeugt. Niemand muss neu anfangen, sondern die bessere Alternative wird gleich eingebaut und das Gesetz kann sofort in Kraft gesetzt werden.

Aber es entstehen grosse Zeitverluste, wenn Konstruktive Referenden gerichtlich beurteilt werden müssen, wie derzeit in zwei Fällen.

Ich finde es positiv, wenn ein Verfassungsgericht Interpretationsfragen zur Verfassung entscheidet. Die Frage ist nur, ob dies das Bundesgericht tun muss oder ob wir nicht auch ein kantonales Verfassungsgericht dafür vorsehen sollten.

Das konstruktive Referendum macht es möglich, austarierte Vorlagen aus dem Gleichgewicht zu bringen, wenn missliebige Teile ausgewechselt werden. Diese Gefahr droht aktuell etwa beim Finanzausgleich. Rechte Gruppierungen wollen die Lastenabgeltung für Zürich und Winterthur drastisch stutzen.

Im konkreten Fall wird das Konstruktive Referendum zur Folge haben, dass sich die beiden Städte für ihre berechtigten Anliegen wehren werden. Das kann der Anerkennung der Bedeutung ihrer Leistungen – die von einigen privilegierten Bewohnern der Landschaft nicht immer richtig eingeschätzt werden – nur gut tun und ihre Position im Kanton politisch stärken. Ich erinnere daran, dass der Landbote vor 140 Jahren richtiger­wei­se nicht deswegen für die Volksrechte gekämpft hat, weil sie das Leben der Regierungs- oder Kantonsräte einfacher machen sollen, sondern weil so alle Bürger die wichtigsten Dinge auch direkt mitgestalten können.

Gegen das Konstruktive Referendum wird auch das Argument ins Feld geführt, es sei zu kompliziert. Das Problem zeigt sich beim Steuer­pa­ket, mit dem die Reichsten entlasten werden sollen. Dazu sind gleich zwei solche Referenden eingegangen. Eine nicht ganz einfache Sache für die Stimmenden.

Mit der angeblichen Komplexität ist schon immer gegen die direkte Demokratie argumentiert worden. Doch wir sollten als Politiker und Journalisten die Bürgerinnen und Bürger nicht unterschätzen. Viele von ihnen können auch schwierige Vorlagen genauso gut verstehen wie wir. Zudem ist es nicht erstaunlich, dass zu einem besonders umstrittenen Element in einem Gesetz zwei oder drei Konstruktive Referenden ergriffen werden. Die Verfassung hat es dem Gesetzgeber für diesen Fall ganz bewusst offen gelassen, das Abstimmungsverfahren so zu gestalten, dass es am einfachsten handhabbar ist. Vorstellbar wären also auch Abstimmungen an zwei Abstimmungssonntagen hintereinander über die gleiche Vorlage mit mehreren Konstruktiven Referenden.

Die SVP, welche die direkte Demokratie sonst vehement verteidigt, will das Konstruktive Referendum abschaffen, Sie hingegen waren schon immer Feuer und Flamme dafür. Weshalb?

Die Volksrechte sind nicht deshalb wichtig, weil sie einem immer helfen, die eigene Meinung durchzusetzen. Die direkte Demokratie ist deshalb so wichtig, weil sie auch einer kleinen Minderheit unter den Bürgern gestattet, ihrer Ansicht Gehör zu verschaffen und alle zwingen kann, auf dieses Argument einzugehen. Wer gute Argumente für seine Meinung hat, muss eine solche Diskussionseinladung beziehungsweise ein solches Diskussionsgebot nie fürchten. Ganz im Gegenteil, wenn mehr öffentlich und gut diskutiert wird, dann können alle mehr lernen – und das ist das Entscheidende. Dass die SVP auf Kantons- und Bundesebene alle Verfeinerungen der direkten Demokratie bekämpft hat und diese aber dennoch gebraucht, gehört zu ihren zahlreichen Widersprüchen. Mich erstaunt dies nicht. Ich habe es im Verfassungsrat angekündigt.

Sehen Sie keinen Korrekturbedarf beim Konstruktiven Referendum?

Prinzipiell handelt es sich um eine positive Erweiterung und Verfeinerung der Volksrechte. Über die Ausgestaltung seiner Handhabe kann man immer diskutieren und meistens auch etwas verbessern. Besonders korrigieren müssen wir aber bei der Direkten Demokratie derzeit Fragen rund um die Transparenz der Abstimmungsbudgets, die Chancen­gleich­heit von Pro & Contra und die Fairness der öffentlichen Debatte. Da gibt es viel zu tun. Die entsprechenden Defizite sind so gross, dass sie viele bereits unnötigerweise an der Bedeutung der direkten Demokratie zweifeln lassen.

Was halten Sie vom Vorschlag der kantonalen CVP, die Unterschriften­zahl für das Konstruktive Referendum von 3000 auf 4000 hinauf­zu­setzen, dafür aber die Zeit fürs Sammeln von 60 auf 70 Tage anzuheben?

Darüber kann man sicher diskutieren. Mehr Zeit zu haben für ein Referendum ist auf jeden Fall ein Fortschritt. Wichtig ist nur, dass wir nicht vergessen, dass ein Konstruktives Referendum aus den oben genannten Gründen eigentlich fast immer eher im Allgemeininteresse ist als ein allgemeines Referendum. Deshalb darf man nicht den Eindruck erwecken, man sollte dessen Hürden höher einrichten als jene eines einfachen Referendums.

Ist das Konstruktive Referendum auf Bundesebene seit der negativ verlaufenen Volksabstimmung im Jahr 2000 bis auf Weiteres vom Tisch?

Keineswegs. Die EU-Diskussion wird ihm einen neuen Aufschwung verschaffen. Denn es ist ein Element, das illustriert, dass ein EU-Beitritt kein Verzicht auf die direkte Demokratie bedeutet, sondern von deren Verfeinerung begleitet werden müsste. Bei der Umsetzung einer EU-Richtlinie hat ein EU-Mitgliedsstaat immer einen Ermessensspielraum. Bei dessen Wahrnehmung ist wichtig, dass die Gegner einer möglichen Umsetzung in einem konstruktiven Referendum eine Alternative vor­schla­gen können und nicht gezwungen sind, mit jenen zusammen­zuge­hen, die als EU-Gegner jegliche Umsetzungen von EU Recht torpedieren wollen.


Kontakt mit Andreas Gross



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