Aug. 2010

Maturaarbeit

Die gesellschaftlichen Entwicklungen
und deren Ausdruck in verändertem Abstimmungsverhalten



Interviewfragen von Mischa Asuroglu, Schüler des Gymnasiums Köniz Lerbermatt und die Antworten von Andi Gross, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter, Nationalrat und Präsident der SP-Fraktion im Europarat.

Warum gibt es ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten zwischen der welschen und der deutschen Schweiz? Worauf führen Sie dies zurück?

Die Schweizer Stimmberechtigten bilden kein homogenes Volk. Es ge­hört zum Wesen des schweizerischen Bundesstaates, dass sich ganz verschiedene Kulturen und Menschen in ihm zusammenfanden. Es sind dies nicht nur unterschiedliche Sprachkulturen, auf die Ihre Frage hin­weist, sondern auch verschiedene Religionen, Bauern und Arbeiter, Städter und Leute vom Land. Auch innerhalb der Sprachgemeinschaften gibt es grosse Unterschiede, denken Sie nur an einen Genfer Pro­tes­tan­ten gegenüber einem Unterwalliser katholischen Bergbauern. Es gibt also viele verschiedene Bevölkerungsgruppen in der Schweiz mit vielen verschiedenen Abstimmungskulturen, die sich in den vergangenen 60 Jahren auch unterschiedlich entwickelt und gewandelt haben. Man müsste ihre Frage auf Grund dieser Entwicklungen in den einzelnen Bezirken der Kantone sehr differenziert analysieren und könnte sie erst dann annähernd richtig beantworten.

Dennoch gibt es zwischen den wichtigsten Teilen der französischen Schweiz und der in der deutschen Schweiz dominierenden politischen Kultur Unterschiede, welche das Abstimmungsverhalten prägen, so dass diese sich manchmal voneinander unterscheiden. So ist die welsche Schweiz im allgemeinen offener gegenüber sozialpolitischen Fort­schrit­ten, man erwartet mehr vom Staat in dieser Beziehung, während in der deutschen Schweiz viele Angst haben, dies koste zu viel und würde die falschen profitieren lassen. Viele Welsche nehmen es mit dem Anspruch der Gerechtigkeit ernster als viele Deutschschweizer. Deshalb ist die SP in der französischen Schweiz auch stärker.

In aussenpolitischen Vorlagen sind die Welschen im allgemeinen auch offener und gegenüber der EU kooperativer als viele Deutschschweizer. Doch war dieser Unterschied vor 20 Jahren grösser und hat sich in den vergangenen 10 Jahren eher abgebaut. Diesbezüglich schert heute das Tessin viel deutlicher aus und zwar gegenüber der deutschen und der französischen Schweiz.

Diese Unterschiede haben sehr tiefe Gründe und sind mehr oder weniger ausgeprägt seit 100 Jahren zu beobachten. Wir Deutschschweizer sind uns auch nicht bewusst, dass wir in der Schweiz mindestens drei verschiedene politische Öffentlichkeiten haben, unterschiedliche Diskussionskulturen, die eben auch unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Die Gründe sind vielschichtig und müssen auch innerhalb der Sprachgruppen differenziert analysiert werden. So gleichen sich die Abstimmungsverhalten der grossen Städte in der Schweiz viel eher als dass die Sprach- und Kulturdifferenz zwischen Lausanne/Genf einerseits Bern/Basel/Zürich andererseits vermuten liessen.

Schliesslich stimmen auch nicht alle soziologisch unterschiedlichen Gruppen in den verschiedenen Landesgegenden gleich unterschiedlich. Unter den Bauern dürfte das Abstimmungsverhalten überall ähnlich sein, unter den Lehrern beispielsweise gibt es möglicherweise die gleichen Fraktionen. Und die ledigen Mütter werden in allen Landesgegenden zu denen gehören, die überhaupt weniger stimmen gehen, ebenso wie die jungen Lehrlinge, die heutzutage eher konservativ und national zu denken scheinen in ihrer Mehrheit. Doch da wissen Sie gewiss mehr aus eigener Erfahrung.

Wir müssen also mit vorschnellen Erklärungen und Simplifikationen auch hier aufpassen und ihnen nicht anheimfallen.

Wenn man die vergangenen 15 Jahre ins Auge fasst, lässt sich ein Trend im Abstimmungsverhalten des gesamten schweizerischen Stimmvolkes ausmachen? Wenn ja, welcher? Worauf würden Sie den Trend zurückführen?

Seit 1995 hat sich die Politik in der ganzen Schweiz enorm polarisiert, sie ist insgesamt ängstlicher, kälter, selbstbezüglicher, eigenbröt­le­ri­scher, nationalistischer und unsozialer geworden. Wobei auch hier ein Vergleich über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass in den meisten westeuropäischen Staaten jene, die schlechter ausgebildet sind, auf dem Land wohnen und Angst haben um ihre Zukunft, eher nationalistischen, egoistischen und ausländerfeindlichen Parteien folgen als jene, die mehr Lebenschancen verwirklichen konnten. In dem Sinn ist dieser von mir gesehene Trend sehr europäisch, wobei er mir in der Schweiz dennoch besonders ausgeprägt zu sein scheint, vergleichbar nur noch in Österreich, Dänemark oder den Niederlanden festzustellen - alles reiche Staaten, deren Selbstverständnis aber alle in den vergangenen 15 Jahren sehr erschüttert worden ist.

Einer der tieferliegenden Gründe für diese Entwicklung in der Schweiz wie anderswo ist der Verlust der Gestaltungsmacht des Nationalstaates und der demokratischen Politik ganz allgemein sowie die grosse Migration innerhalb und zwischen den Kontinenten, die sich viele nicht erklären können, denen sie sich hilflos ausgesetzt fühlen, weshalb sie verängstigt sind und abwehren statt erneuern und reformieren, doch dazu müssten sie mehr wissen und handlungsmächtiger sein.

Inwiefern stellen Sie eine Polarisierung fest im politischen Leben der Schweiz in den letzten 15 Jahren?

Diese ist wie erwähnt offensichtlich. Die historisch tragenden Mitteparteien der Schweiz (CVP und FDP) erodieren und wandern immer mehr nach rechts auf die nationalkonservative SVP zu, welche als einzige Partei über enorme finanzielle Ressourcen verfügt, so dass deren Diskurs unser Land dominieren kann, das bezüglich Öffentlichkeit, Fairness bei Wahlen und Abstimmungen als einziges in Europa über keine ausgleichenden Regeln und Gesetze verfügt. Dies führt neben gefährlichen Tendenzen in den Medien - sie werden in erster Linie zu einem Geschäft und immer weniger zu einem Dienst an der Demokratie und deswegen immer geschwätziger, oberflächlicher, personalistisch und konfliktschürend, skandalisierend und haben immer weniger Ressourcen für Tiefgang, Analyse und pluralistische Kommentare - zu einer enormen Polarisierung, Verflachung und Verödung der politischen Debatte und der Politik ganz allgemein. Deshalb wenden sich auch viele Menschen von der Politik ab, was deren Schwierigkeiten aber nur vergrössert und keineswegs zur Besserung beiträgt.

Hat Ihrer Ansicht nach das Schweizer Volk das letzte Wort bei wichtigen eidgenössischen Entscheidungen?

Jedenfalls mehr als jedes andere Volk auf dieser Welt. Nur in der Schweiz können wir zwischen den Wahlen über so viele, etwa 40, Vorlagen abstimmen. Nur bei uns ist die Macht so fein verteilt, dass eigentlich alle BürgerInnen auch PoltikerInnen sind und sich auch entsprechend engagieren und kundig machen sollten. Man kann unterschiedlicher Meinung sein, ob es die wichtigen Fragen sind, über die wir abstimmen. Denn was wichtig ist, sehen verschiedene Menschen notwendigerweise unterschiedlich. Und nicht immer haben jene, die etwas wichtig finden auch die Mittel, dieses Wichtige mittels Referenden oder Initiativen zur Volksabstimmung zu bringen.

Weiter muss man sich auch fragen, wer denn das Schweizer Volk ausmacht. Nur jene, die den Schweizer Pass haben und dennoch jeweils mindestens zu einem Drittel von ihrem demokratischen Recht gar keinen Gebrauch machen. Oder weshalb gehören jene nicht dazu, die zwar hier aufgewachsen sind, aber keinen roten Pass haben, aber durchaus dazugehören und abstimmen gehen möchten, aber nicht dürfen. Oder jene, die seit langem hier arbeiten und Steuern bezahlen und betroffenen sind von unseren Entscheidungen, aber kein Bürgerrecht haben und deshalb nicht zum politischen Volk gehören, das stimmen darf?

Und was heisst «das letzte Wort»? In einer Demokratie ist jedes Wort, auch das vermeintlich letzte, nur vorläufig. Denn es gehört zu den grossen Stärken einer Demokratie, dass sie immer offen ist, dass man immer demokratisch auf eine schon einmal gefasste Entscheidung zurückkommen, klüger werden und ein neues «letztes Wort» sprechen kann durch eine neue Abstimmung. Schon viele grosse Fortschritte brauchten in der Schweiz mehrere «letzte Wörter» bis sie verwirklicht werden konnten (Proporzwahlrecht, AHV, Frauenstimmrecht, UNO-Beitritt u.v.a.m.).

Besteht ein Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung in der Schweiz und dem veränderten Abstimmungsverhalten?

Selbstverständlich. Ich habe dies schon aufgezeigt. Ein Abstimmungsergebnis ist immer wie ein Spiegel, in dem sich die Eigenheiten einer Gesellschaft und ihrer Entwicklung erkennen lassen. Ihre Frage ist eigentlich zu lapidar. Im Sport wüssten Sie sofort auf die Frage zu antworten, ob die Schwäche einer Fussballmannschaft sich auch in den Ergebnissen der Spiele niederschlägt. So wie der Regen Sie nass macht, schlagen sich gesellschaftliche Veränderungen in Abstimmungsergebnissen nieder. Das zu entschlüsseln ist freilich schwieriger als beim Wetter oder im Sport.

Besteht eventuell auch ein Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung in der Schweiz und den Abstimmungsthemen?

Ebenso sicher, gewiss. Eine verängstigte und selbstbezüglich gewordene Gesellschaft wird mehr ausländerfeindliche Abstimmungen hervorrufen, deren Resultate diese Tendenzen dann wiederum befördern und verstär­ken. Die Frage ist nicht, ob ein solcher Zusammenhang besteht, sondern viel mehr welcher und worin diese Zusammenhänge genau liegen und wie sie sich äussern. Es gibt gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen, die sich schneller politisch niederschlagen in Abstimmungen und deren Ergebnissen als andere - das hat beispielsweise viel mit der möglichen Emotionalisierbarkeit einer Sache oder deren Abstraktheit zu tun. Interessant ist die Frage, wann was eher geschieht und wann was weniger.

Die Schweiz ist eine direkte Demokratie. Inwiefern hat dieses politische Modell überhaupt eine Zukunft?

Die Schweiz ist zumindest direktdemokratisch organisiert und verfasst. Das heisst, die Menschen, mindestens die Stimmberechtigten unter ihnen, werden nicht nur über die Wahlen sondern auch regelmässig über Volksabstimmungen, deren Themen sie selber bestimmen können, in die Gestaltung ihres gesellschaftlichen Umfeldes und ihrer Lebensumstände einbezogen. Die Menschen sind in der Schweiz viel freier, können viel selbstbestimmter leben, als in Staaten, in denen sich die Demokratie auf die Wahl der Stellvertreter im Parlament beschränkt.

Damit wird vielleicht auch deutlich, dass die Zukunft der Direkten Demokratie viel grösser ist als deren Geschichte. In der Schweiz ist ihre Geschichte gross, und sie wird auch hier eine ebenso grosse Zukunft haben. Doch weltweit ist die Geschichte der Direkten Demokratie vergleichsweise kurz und schwach, ihre Zukunft, das ist heute schon absehbar, aber viel grösser. So wurden weltweit in den 20 Jahren seit 1990 mehr Volksabstimmungen abgehalten als bis 1990 - obwohl die Demokratie schon fast 200 Jahre alt ist.

Moderne Menschen möchten ihr Leben selber bestimmen können. Das ist ein Wesenselement der Direkten Demokratie und macht deutlich, weshalb sie heute so beliebt ist und überall in der Zukunft noch beliebter werden wird. Vielleicht nicht bei allen PolitikerInnen, aber ganz gewiss bei immer mehr BürgerInnen auf der ganzen Welt.

Auf dieser Homepage finden Sie unzählige Belege und Begründungen für diese These.


Kontakt mit Andreas Gross



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