September 2010
zoon politikon
Zeitschrift der Politologen der Uni Zürich
Thema: «Nachbarn»
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Wissen entsteht, wenn die Theorie mit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit theoretisch ergründet werden
Herr Gross, oft hört man, dass Politologen kaum je selbst Politiker werden. Was hat Sie dazu bewogen, den Schritt in die politische Praxis zu machen?
Studienanfang und der Beginn des politischen Engagements fielen bei mir im Herbst 1972 etwa in die gleiche Zeit. Oder andersherum: Die Wahl des Studiums war auch Ausdruck des Willens zum politischen Engagement. Ich wollte verstehen, weshalb die Welt so geworden ist wie sie ist, damit ich mir besser vorstellen kann, wie wir sie zum Besseren verändern könnten. Ohne die Geschichte kann ich die Gegenwart nicht verstehen und ohne tieferes Verständnis der Gegenwart kann ich keine Vorstellungen zur Zukunft entwickeln, zumal dann, wenn ich vor der Zukunft mehr erwarte als die Fortsetzung der Gegenwart.
Später half mir die politische Philosophin Hannah Arendt, die vor allem in der deutschen Schweiz prekäre Distanz zwischen Wissenschaft und Engagement besser zu verstehen. Für sie sind das kritische Reflektieren, das Handeln und das Arbeiten in und an der Gegenwart nur drei Aspekte der gleichen intellektuellen Existenz. Sie zusammenzuhalten und für einander fruchtbar zu machen, habe ich mir früh als Lebensmaxime zu eigen zu machen versucht. Die interessantesten Fragestellungen für die wissenschaftliche Arbeit habe ich in der politischen Arbeit gefunden, und ohne die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen fehlt der politischen Arbeit das Fundament. Journalistisch arbeiten kann man ohne beides ebenfalls schlecht, in gutem Journalismus fliesst das Beste aus den anderen beiden Bereichen zusammen.
Gerade in Zürich und in der Schweiz merkt man besonders deutlich, wie fatal es für beide ist, wenn die Sozialwissenschafter in der Politik nicht verankert sind und die Politiker glauben, sich von der Wissenschaft distanzieren zu müssen. Beiden entgeht in einer eigentlich unverantwortlichen Weise, was sie für die Ausschöpfung ihrer jeweiligen unterschiedlichen Potenziale so nötig hätten.
Hilft Ihnen bei ihrer politischen Tätigkeit das theoretische Wissen, das Sie sich im Rahmen Ihres Studiums angeeignet haben?
Wissen, theoretisches wie praktisches, habe ich mir nicht nur während meines Studiums angeeignet, wie Sie sagen, sondern seither eigentlich jeden Tag: In der Auseinandersetzung mit anderen Menschen, aus Büchern, beim Lesen, Schreiben und Diskutieren. Einsichten ermöglichen Handeln, das Handeln ermöglicht neue Erfahrungen, aus denen sich wieder neue Einsichten gewinnen lassen. Aus der Theorie allein kann ich doch eigentlich wenig lernen; ich muss die Theorie anzuwenden versuchen, ich muss die Theorie mit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit theoretisch zu ergründen versuchen, um zu lernen, Wissen zu generieren, mittels dem ich dann wiederum meine Theorie verfeinern und mein Handeln verbessern kann. Die Potenziale an Erkenntnisgewinnen und besseren Handlungsweisen, die in diesen permanenten Austauschprozessen und Wechselwirkungen liegen, sind den meisten hiesigen SozialwissenschafterInnen und PolitikerInnen viel zu wenig bewusst und dies ist wiederum an ihren Ergebnissen deutlich zu sehen. Dem sollten wir uns auch an der Uni Zürich mal seriös zuwenden.
Neben Ihrem politischen Engagement im National- und Europarat sind Sie der Wissenschaft bis heute in verschiedenen Formen treu geblieben. Häufige ideologische Grabenkämpfe hier, der Anspruch an Objektivität dort: Wie bringen Sie das unter einen Hut?
Das politische Engagement bringt eigentlich nur ganz selten ideologische Grabenkämpfe mit sich und die Objektivität ist für die Wissenschaft eine Utopie wie die Gerechtigkeit für einen Sozialdemokraten: Man bemüht sich täglich um sie und strebt sie immer an, weiss aber, dass man sie nie ganz zufriedenstellend erreichen kann. Beide Lebens- und Arbeitsbereiche sind doch ungleich vielfältiger, tief schürfender, inspirierender und anstrengender. Sie zusammenzuhalten und beide zu leben, und erst noch kritisch und innovativ, ist tatsächlich gerade in der deutschen Schweiz sehr schwierig und äusserst anstrengend. Man wird mit unzähligen Hindernissen, Vorurteilen und Verunglimpfungen konfrontiert; ich habe persönlich gewiss auch einen grossen Preis bezahlt, auf einiges verzichten müssen, doch Freiheiten und Einsichten und Perspektiven gewonnen, die ich sonst kaum hätte erleben können. Dafür bin ich trotz allem dankbar.
War für Sie eine rein akademische Karriere nie eine Option?
Doch, selbstverständlich. Doch schon bei der Anstellung als Hilfsassistent am Historischen Seminar an der Uni Zürich hat man mir als 23jährigem mein politisches Engagement vorgehalten; als ich dann 1981 zur Überzeugung kam, die Schweiz würde ihre Armee besser abschaffen und dafür auch eine Volksinitiative mitorganisierte, war mir bewusst, dass ich wissenschaftlich anders vorgehen muss und die offizielle Schweiz mir dabei nicht behilflich sein wird. Vor zehn Jahren sagte mir dann der zuständige Direktor des politologischen Instituts der Uni Zürich, er würde mir eigentlich gerne einen Lehrauftrag geben, doch sie könnten sich dies finanziell nicht leisten – was ich ihm nicht ganz glauben konnte. Schliesslich verdiene ich als Lehrbeauftragter an einer deutschen Uni pro Semester etwa 1200 Euro ...
Als Sie vor rund dreissig Jahren in Lausanne Politologie studierten, dürften sie noch als Pionier und Exote gegolten haben. Heute zählt das Studienfach zu den beliebtesten überhaupt. Wie erklären sie sich diesen Wandel?
Als ich mich 1972 in Zürich im Nebenfach auch in der Politologie einschrieb und bei Prof. Daniel Frei am Montagmorgen um 8 jeweils ein Seminar besuchte war dies ebenso wenig exotisch wie als ich 1978 in Lausanne die politischen Wissenschaften im Zweitstudium studierte. In dieser Beziehung war ich kein Pionier. Die Kombination Geschichte und Politikwissenschaften machte schon damals Sinn. Rein quantitativ war der Andrang einfach noch nicht so gross wie heute und damals gab es unter den Phil-Einsern vielleicht noch mehr Germanisten oder Romanisten. Dass heute sich so viele für die Politologie in Zürich interessieren, spricht für die Ausstrahlung der Disziplin, für die Erwartungen, die sie auslöst, für deren Potenziale, die heute offenbar von vielen als wichtig angesehen werden, jedoch noch nicht dafür, ob diese Erwartungen wirklich auch befriedigt werden durch das Fach, wie es heute hier tatsächlich gelehrt wird. Das gleiche gilt und galt übrigens für mein zweites damaliges Zürcher Nebenfach, die Publizistik ...
Gleichzeitig ist das Angebot an Stellen, die auf das Profil eines Politologen zugeschnitten sind, weiterhin bescheiden. Was brauchen Studienabgänger, um sich beruflich zu etablieren?
Politologen müssen sich auf die Gesellschaft einstellen lernen, das heisst zeigen, dass sie an ganz verschiedenen Orten der Gesellschaft wesentliche Beiträge erbringen können – sie können meines Erachtens nicht erwarten, dass sich die Stellen auf ihr Profil zuschneiden. Um beruflich sich einmal etablieren zu können, müssen sich Politologen, meine ich, um zwei Dinge besonders bemühen: Erstens schon im Studium in einem politikwissenschaftlich relevanten Arbeitsbereich (lohn)arbeiten, um eben Arbeiten, Denken und Handeln schon früh miteinander verbinden zu können. Und zweitens müssen sie sich ebenfalls schon möglichst früh um weitere Kompetenzen bemühen, sei dies nun im juristischen, ökonomischen, historischen, philosophischen oder naturwissenschaftlichen Bereich oder gleich in mehreren von diesen. So kommt man den gesellschaftlichen Problemen auf den Grund und kann zeigen, dass man in der Lage ist, zu ihrer Bewältigung beizutragen.
Wer jetzt meint, dies wäre eine Überforderung, der hat vielleicht gar nicht so Unrecht, muss sich aber dann auch veranlasst sehen, die Gestaltung des gegenwärtigen Politologie-Studiums zu hinterfragen und möglicherweise zu reformieren. Doch dies ist ein anderes weites, und meiner Meinung nach viel zu vernachlässigtes Feld.
Können Sie die Kritik der Studierenden am Bologna-System nachvollziehen?
Gewiss, ich teile sie in manchen Teilen sogar sehr. Die Berechtigung der Kritik ist keineswegs überraschend. «Bologna» steht für eine der am wenigsten demokratisch legitimierten Reformen der jüngeren Neuzeit. Vergessen Sie nicht, dass der Pädagoge und Bologna-Spezialist Hans Zbinden zehn Jahre mein Nachbar war im Nationalrat und einer meiner besten Freunde geblieben ist.
Sie waren bereits 1979 Präsident der JUSO Schweiz, seit 1991 sind Sie Nationalrat. Wird man der Politik nicht irgendwann müde?
Für mich macht diese Frage so viel Sinn, wie wenn sie einen Fisch fragen würden, ob er des Wassers überdrüssig würde, oder irgendeinen Menschen, ob er der Luft müde wäre. Ich kann nicht leben, ohne mich mit meiner Mit- und Umwelt auseinanderzusetzen, oder nachzudenken, was sich anders besser machen liesse und dafür dann aber auch etwas zu tun. Politik ist nichts Anderes und somit weit mehr als die Ausübung eines Amtes. Wer der Politik müde ist, ist an den Menschen müde geworden – ich kann mich auf der Welt aber den Menschen nicht entziehen. Doch ist dies möglicherweise tatsächlich ein Aspekt der gegenwärtigen Krise des Politischen, den wir zu wenig bedenken, nämlich dass viele Menschen nicht mehr wissen, wie sie mit anderen Menschen umgehen sollen und wollen. Der Rückzug auf sich selber ist tatsächlich das Ende der Politik. Es spricht gegen unsere Gesellschaft, dass so viele unter uns ganz offenbar dieser Versuchung erliegen. Die Erosion der Substanz des Begriffs der Politik, wie wir sie beobachten können, deutet auch auf nichts anderes hin.
Sie gelten als entscheidender Befürworter der direkten Demokratie. - Doch angenommen, sie wären allein herrschender König der Schweiz: Was würden sie ändern?
Diese Annahme wäre keine Utopie, sondern eine dumme Illusion, deshalb möchte ich davon gleich Abstand nehmen. Ein allein herrschender König wäre für die Schweiz das grösste Risiko, wer immer dies auch sein würde. Deshalb will ihn auch keiner, deshalb sollten wir uns auch besser fragen, was wir in und mit unserer Direkten Demokratie besser machen könnten.
Übrigens hat mir Max Frisch 1985 auch gesagt, das mit der Schweiz ohne Armee könne ich mit diesem Schweizer Volk doch vergessen, dafür müsste ich ihn erst zum König machen. Worauf ich ihm in seiner schönen Wohnung am Zürcher Bahnhof Stadelhofen antwortete, dann wäre das Schweizer Volk ja immer noch das gleiche und was ich dann machen solle, wenn er als König einmal gestorben sei?
Andreas Gross, Jahrgang 1952, ist Nationalrat der SP Zürich und Europarat in Strassburg. Zwischen 2000 und 2005 war er auch im Zürcher Verfassungsrat einer der engagiertesten Sozialdemokraten. Nach der Matura in Basel studierte er zunächst Geschichte in Zürich, dann Politikwissenschaften in Lausanne. Er hatte seine Studien als Journalist (zuerst Sport, ab 1975 auch Politik) selber verdient, später als Assistent an den Universitäten Bern und Lausanne gearbeitet sowie Forschungsaufenthalte an der FU Berlin und an der Stanford University absolviert. 1989 gründete Gross das wissenschaftliche Institut für direkte Demokratie in Zürich, seit 1998 ist dieses im jurassischen St-Ursanne beheimatet. Seit 1992 übte Gross Lehraufträge im Bereich der direkten Demokratie an den Unis in Marburg, Trier, Speyer, Graz und Jena, seit 2006 in Bern und 2009 auch in Zürich aus. -- Gegenwärtig ist Gross Lehrbeauftragter für direkte Demokratie an der Universität Jena und an den FH’s in Aarau und Zürich. Seit Januar 2008 präsidiert er die sozialdemokratische Fraktion der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. In seine politische und wissenschaftliche Arbeit gewährt seine Homepage einen vorzüglichen Einblick.
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