2. Juni 2010
P.S.
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Wider die Diktatur der Mehrheit
An der Landhausversammlung in Solothurn (siehe Kasten) drehte sich die Diskussion um die Frage, wie sich in der Schweiz angesichts von freiheits- und völkerrechtswidrigen Volksinitiativen die Menschen- und Grundrechte festigen lassen. Einer der Vordenker der Versammlung, SP-Nationalrat Andi Gross, erklärt im Gespräch mit Nicole Soland, warum das ebenso nötig wie schwierig zu erreichen ist.
P.S.: In Zürich argumentiert die SVP seit 20 Jahren mit den «Ängsten der Bevölkerung». Warum ist es den anderen Parteien in all diesen Jahren nicht gelungen, klarzustellen, dass all die vielen Menschen, die mit der SVP stimmen, nicht ständig vor Angst zittern, sondern dass die SVP ihre Behauptung einfach so lange wiederholt hat, bis ihr die Mehrheit der Stimmberechtigten glaubte?
Andi Gross: Ich bin mir nicht sicher, ob all ihre Wähler der SVP wirklich alles glauben. Ebenso wenig denke ich, dass es bloss die ständige Wiederholung ist, welche den Erfolg der SVP ausmacht. Die manipulative Irreführung ist komplexer und geht tiefer. Die SVP-Wähler setzen sich ja auch verschiedenen Communities: Einerseits der die eher Bessergestellten, jedoch sehr egoistisch, gegen jeglichen Ausgleich, auf der agglomerisierten Landschaft wohnend mit zwei oder drei Autos in der Garage. Andererseits die total Verunsicherten, materiell in eher schwieriger Situation, vereinsamt, politisch desorientiert, mit autoritärem Charakter, fasziniert vom Erfolg des SVP-Chefs, die unter den parlamentarischen Entscheiden der SVP mehr leider, aber deren simple Diskurse glauben und deren Sündenböcken auf den Leim gehen.
Die 1 415 249 SchweizerInnen, die fürs Minarettbau-Verbot gestimmt haben, haben also alle Angst gehabt, ihr Leben nicht mehr allein meistern zu können, wenn in der Schweiz noch ein fünftes oder gar sechstes Minarett gebaut würde?
Nein, natürlich nicht. Professor Fitzgerald Crain weist uns im Buch zur Landhausversammlung*, darauf hin, dass die Angst – beispielsweise vor dem Tod - zum Leben gehört wie das Amen in die Kirche. Wer lernt und die Möglichkeiten kennt, das eigene Leben so gestalten zu können, dass es nicht einfach Schicksal ist, kann mit dem echten Schicksal leben ohne Bedarf an Sündenböcken oder simplen Schuldzuweisungen.
Was läuft denn schief, dass sich so viele Menschen ans Sündenbock-Prinzip klammern?
Viele Leute fühlen sich heute auch in Belangen ohnmächtig , die politisch beeinflussbar wären, doch wir haben verlernt, unsere mögliche Macht zu realisieren. So werden viele von «falschen» Ängsten gelähmt. Da reicht eben die Floskel «Ängste ernst nehmen» nicht. Ich habe schon 1995 im ersten Buch über die SVP, «Heile Welt Schweiz», mit Hans Hartmann auf solche Zusammenhänge hingewiesen. Sie werden immer noch unterschätzt wie der Hinweis von Hans Zbinden dort, der über deren Perpetuierung schrieb – die SVP schürt Ängste und gaukelt den Leuten gleichzeitig vor, etwas gegen diese Ängste zu tun, doch sie tut nichts anderes, als diese Ängste stetig zu perpetuieren. All das lenkt nicht zuletzt davon ab, dass wir es hier mit einer ganz grossen Krise unserer Demokratie zu tun haben.
Worin genau besteht diese Krise?
Das Problem der Linken wie auch der EU ist dasselbe: Beide werden heutzutage als Problem empfunden, obwohl sie viel mehr die Problemlöser wären. Wenn der Nationalstaat der einzige Ort der Demokratie ist, dann hat der Nationalismus einen riesigen Trumpf in der Hand.
Die SVP macht nicht nur Stimmung gegen die EU, sondern verbreitet auch, wenn «die Meinung des Schweizer Volkes» eingeschränkt würde, dann müsse man eher die Europäische Menschenrechtskonvention künden, als «unsere Volksrechte zu schwächen». Wie kommt es, dass offenbar viele Menschen hierzulande nicht mehr wissen, was Menschenrechte sind und warum sie über nationalen Gesetzen stehen?
Die Menschenrechte sind im Grunde das, was Europa aus den Kriegen gelernt hat, die sein Gebiet zwischen 1871 und 1945 verheert haben: Dass es Grundrechte gibt, die notfalls auch gegen einen Nationalstaat zu schützen sind. Die Schweiz hat als erster europäischer Staat bereits bei ihrer Gründung 1848 die Demokratie eingerichtet, zumindest für ihre männliche Hälfte, die anderswo aber ebenfalls unter monarchischen Strukturen litt. Übrigens gelang dies in der Schweiz nur, weil andere Demokraten und Liberale dies in Europa auch versucht haben. Doch die zeitliche Differenz ist einer der Gründe, weshalb Demokratie und Menschenrechte im öffentlichen Bewusstsein der Schweiz ungleich verankert sind, was besonders traurig ist, weil Demokratie und Menschenrechte untrennbar miteinander verknüpft sind: Ohne das eine gibt es das andere nicht, doch der Schweiz steht die Versöhnung zwischen der Demokratie und den Menschenrechten im Umgang mit den Volksinitiativen noch bevor.
Auch was die Grundrechte betrifft, sind in der Schweiz offenbar viele Menschen der Meinung, es handle sich dabei um etwas, was uns das «böse Europa» aufzuschwatzen versuche …
Wenn eine demokratische Mehrheit erlaubt, dass Grundrechte einer Minderheit geritzt werden, dann haben wir es nicht mehr mit Demokratie, sondern mit Tyrannei der Mehrheit zu tun. Demokratie ist ein politisches Gesamtkunstwerk, und gemäss unserer Bundesverfassung unterstehen Grundrechte von Minderheiten nicht der Entscheidungsbefugnis der Mehrheit.
Wenn das so ist, hätte es doch möglich sein müssen, die Minarett-Initiative zu verbieten.
Die Bundesverfassung verbietet nach wie vor nur Initiativen, die mit zwingendem Völkerrecht inkompatibel sind: Die entsprechende Doktrin der Bundesverfassung wurde damals, als die Schweiz die EMRK ratifizierte, nicht modifiziert. Dieses Versäumnis war nicht gravierend, solange es bei Initiativen – und den Abstimmungen darüber – noch um Inhalte ging. Seit jedoch die SVP nicht mehr den Ball spielt, sondern auf den Mann beziehungsweise die Frau, und die Grundrechte in Frage stellt, ist das tatsächlich ein Problem. Doch jetzt haben die Mehrheit im Bundesrat und Parlament Angst vor der SVP. Deshalb ist eine Volksinitiative zur Stärkung der Menschenrechte und der direkten Demokratie nötig. Aber das ist ein schwieriges Unterfangen, und die Landhausversammlung war erst der Anfang vom Anfang dieses Projekts.
Zuerst einmal wird es sofort heissen, es handle sich bei diesem Vorstoss bloss um eine Zwängerei der Unterlegenen …
Jede Demokratie ist immer unvollendet – man kann immer auf jeden Entscheid zurückkommen. Dessen müssen wir uns wieder bewusst werden. Das ist ganz normal. Zum Beispiel: 2002 stimmten Volk und Stände einem Bundesverfassungsartikel zu, den sie 2009 wieder gestrichen haben!
Dennoch: Was sagen Sie jenen Menschen, die bloss verstehen, da wolle jemand die Volksrechte einschränken, weil «das dumme Volk falsch abgestimmt» habe?
Es geht ja nicht nur darum, dass menschen- und grundrechtswidrige Volksinitiativen verhindert werden sollen, sondern vor allem darum, dass demokratische Instrumente wie Volksinitiativen wirksame Instrumente bleiben sollen – und das tun sie nur, wenn jene Volksinitiativen, die die Stimmberechtigten annehmen, auch tatsächlich umgesetzt werden können. Ist das, wie bei der Verwahrungs- oder der Minarett-Initiative, nicht der Fall, dann werden genau die Volksrechte, die der SVP vordergründig so wichtig sind, geschwächt. Vielleicht wollen dies einige tatsächlich, dann sollen sie dies aber auch offen zeigen.
Und was sollen all jene Menschen tun, denen das Rumgepöbel der SVP längst grundsätzlich zum Hals raushängt und die gern wieder mal mit Inhalten und nicht nur mit grenzwertigen Plakaten zu tun hätten?
Ihnen empfehle ich, sich zu organisieren und sich zu engagieren. So können wir gemeinsam eigene Projekte und Reformen vorschlagen und diskutieren. Dies gibt uns auch die Kraft, gelassener mit den zum Teil tatsächlich schlimmen Aktionen der Anderen umzugehen und sie so zu bekämpfen, dass mehr Bürgerinnen und Bürger merken, dass sie sich von ihnen weder lähmen noch erwischen lassen sollen.
* Gross Andreas, Krebs Fredi, Schaffner Martin und Stohler Martin (Hrsg.): «Von der Provokation zum Irrtum. Menschenrechte und Demokratie nach dem Minarett-Bauverbot». Editions le Doubs, Mai 2010, 300 Seiten, 25 Franken.
Angebot für P.S.-LeserInnen: Das erwähnte Buch erhalten unsere LeserInnen im Doppelpack mit dessen Vorläufer «Minarett-Initiative. Von der Provokation zum Irrtum» von Andi Gross, Fredi Krebs und Martin Stohler, erschienen im November 2009 zur Minarett-Abstimmung, bei Direktbestellung beim Verlag für 30 Franken. Bestelladresse: Editions le Doubs, Postfach 65, 2882 St. Ursanne.
Landhausversammlung
Am vergangenen Samstag, 29. Mai trafen sich rund 200 Menschen aus der ganzen Schweiz im Landhaus in Solothurn, um über die direkte Demokratie, die Grund- und die Menschenrechte zu diskutieren – und mit dem Ziel, diese zu stärken. Zur Versammlung eingeladen hatten verschiedene Organisationen, darunter der Club Helvétique, die Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, Solidarité sans Frontières, Amnesty International, tuos – tolerante und offene schweiz und Second@s Plus Schweiz. Ausgangspunkt des Treffens war die Feststellung, dass sich freiheits- und völkerrechtswidrige Volksinitiativen häufen, weshalb Reformen notwendig werden. Die Teilnehmenden verabschiedeten einstimmig die Solothurner Erklärung, die in 14 Punkten unter anderem festhält, dass es ohne Beachtung der Menschenrechte keine Demokratie geben kann – und dass in unserer Bundesverfassung festgehalten ist, dass in unserem demokratischen Rechtsstaat der Mehrheit nicht alles erlaubt ist. Deshalb prüfen die Teilnehmenden «die Lancierung einer eidgenössischen Volksinitiative zur Festigung der Grund- und Menschenrechte als wichtigste Stütze der Demokratie», wie in Punkt 6 festgehalten ist: «Die Gründe zur Ungültigkeitserklärung einer Volksinitiative sollen so erweitert werden, dass keine Volksabstimmungen mehr durchgeführt werden können über Volksinitiativen, die elementare Grund- und Menschenrechte verletzen.» In der Erklärung enthalten ist aber auch der Hinweis, dass die Teilnehmenden sowohl die Ausschaffungsinitiative der SVP wie auch den direkten Gegenvorschlag ablehnen, da diese «die diskriminierende Doppelbestrafung von AusländerInnen – durch strafrechtliche Sanktionen und Ausschaffung» – in der Verfassung verankerte.
Zur Koordination und Vorbereitung dieser und weiterer gleichartiger Engagements wurde im Rahmen der Landhausversammlung das Forum zur Stärkung der Menschenrechte und der Direkten Demokratie in der Schweiz (FMD) gegründet. Eine zweite Landhausversammlung am 9. Oktober 2010 soll dazu dienen, die Einzelheiten zu Inhalt und Konzept der geplanten Volksinitiative sowie die Modalitäten ihrer Lancierung weiter zu diskutieren. nic.
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Andreas Gross
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