05. Aug. 2008

Neue Zürcher Zeitung

«Die Entwicklung der Demokratie
ist ein ständiger Lernprozess»


Gespräch mit Andreas Gross über Bedeutung und Wirkung des Strassburger Europarats. - Der 1949 gegründete Europarat umfasst heute mit 47 Mitgliedern alle europäischen Länder, inklusive Russlands und der südkaukasischen Staaten. Der Schweizer Nationalrat Andreas Gross gehört dem Europarat seit 1995 an und war im vergangenen Halbjahr Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung in Strassburg. Über seine Erfahrungen befragten ihn die NZZ-Redaktoren Reinhard Meier und Jürg Dedial.

Herr Gross, Sie waren während der ersten Hälfte dieses Jahres Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strassburg. Welches sind Ihre wichtigsten Erfahrungen in diesem Amt?

Andreas Gross: Vizepräsident wird man gemäss dem Willen der Schweizer Delegation. Jedes der 47 Mitgliedsländer des Europarats kann in einem bestimmten Turnus den Vizepräsidenten stellen. Zusätzlich bin ich aber auch Fraktionspräsident der Sozialdemokraten. Die beiden Funktionen haben ein unterschiedliches Gewicht. Als Vizepräsident darf man ab und zu die Versammlung leiten, das ist ein schönes Gefühl. Aber es ist politisch nicht wahnsinnig wichtig, die Versammlungsführung ist weitgehend vorgeschrieben.

Als Fraktionspräsident hingegen gehöre ich zum Presidential Committee, zum Gremium der Fraktionspräsidenten. Es gibt fünf Fraktionen im Europarat, Christlichdemokraten, Liberale, die Linken, die Konservativen und die Sozialdemokratie. Zu diesem Gremium gehören der Präsident des Europarates plus der Generalsekretär der Parlamentarischen Versammlung. Dort suchen wir die grossen Probleme, die sich jeweils in einem Vierteljahr stellen, zu definieren. Wir fragen uns, wie wir die wichtigsten Probleme zur Sprache bringen in der Parlamentarischen Versammlung. In diesem ersten halben Jahr war das wichtigste Thema die Türkei. In der Türkei findet eine einzigartige, gefährliche Entwicklung statt. Ich habe versucht, das auf den Begriff eines Justiz-Putsches zu bringen. Das türkische Verfassungsgericht masst sich an, eine Regierung, die getragen wird von 47 Prozent der Wählenden und die aus einer relativ anständigen Wahl vor einem Jahr hervorgegangen ist, in die Wüste zu schicken.

Der Europarat wurde 1949 gegründet, er umfasst heute 47 Mitglieder. Was ist seine wichtigste Funktion heute, und wie ist das Verhältnis zur EU?

Die wichtigste Funktion ist es, das Gewissen für die Menschenrechte, für die Respektierung der Demokratie und des Rechtsstaates in Europa zu sein. Der Europarat umfasst ganz Europa, inklusive Russlands und der kaukasischen Staaten. Er verfügt nicht über militärische Macht oder wirtschaftliche Macht. Er ist der Ort, wo man nachdenkt, beobachtet, wo man sich austauscht, voneinander und miteinander lernt. Das Verhältnis zur EU ist sehr vielfältig. Einerseits macht Europa vieles, was die EU finanziert, die EU ist ein grosser Geldgeber für Programme zur Beobachtung von Wahlen und von demokratischen Entwicklungen in den Mitgliedsländern des Europarats. Andererseits empfinden einige Länder den Europarat leider als Wartesaal für die EU, als Zwischenstation.

Der Europarat wird in der europäischen Öffentlichkeit, in den Medien, nur schwach wahrgenommen. Was ist der Grund dafür?

Das sagt viel aus über die heutige Art, wie die Medien funktionieren. Es ist eben selten spektakulär, was im Europarat behandelt wird – mit Ausnahme, wenn etwa Dick Marty den Spuren der CIA in Europa nachgeht. Es gibt selten personell aufgebauschte Konflikte, keine Militärkommandos. Es geht im Europarat um Reflexion und Analyse – um Dinge, von denen die Medien glauben, sie nicht verkaufen zu können.

Das freisinnige Ratsmitglied Dick Marty hat kürzlich in einem Bericht angebliche geheime CIA-Gefängnisse in Polen und Rumänien angeprangert, und dieser Bericht ist von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates angenommen worden. Hat das irgendwelche Konsequenzen, wenn ein solcher Bericht verabschiedet wird?

Ich bin seit Januar 1995 im Europarat, und es war noch nie in der europäischen Öffentlichkeit so viel von dieser Institution die Rede wie im Zusammenhang mit dem Bericht über CIA-Aktivitäten. Das hat in Europa einen gestiegenen Respekt für den Europarat zur Folge gehabt. Das EU-Parlament zum Beispiel hat mit dem Europarat die Zusammenarbeit gesucht, meist weist es uns schnöde die Türe, wenn wir mit ihm zusammenarbeiten wollen, man habe keine Zeit.

Dick Marty ist vom Europarat auch zum Beauftragten für die Menschenrechtspolitik in Russlands nördlichen Kaukasusrepubliken ernannt worden. Sie waren im Europarat 2006 Berichterstatter zu Tschetschenien. Was hat sich bei diesem Thema inzwischen verändert? Hat Dick Marty Tschetschenien bereits besucht?

Noch nicht. Wir werden im Laufe des Herbstes im Auftrag des Europarats Tschetschenien zu viert besuchen. Ich war zum bisher letzten Mal im November 2006 dort. Wir werden mit allen reden, und ich werde vor allem ausloten, ob es in Bezug auf die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen Fortschritte gibt.

Die äusserliche Situation in Tschetschenien hat sich stabilisiert. Gleichzeitig gibt es Berichte, dass es vermehrt Gewalt und Repression gibt in den Nachbarrepubliken, vor allem in Inguschetien und Dagestan. Ist das eine Folge des Tschetschenienkonfliktes, oder sind das lokale Zuspitzungen?

Nein, das ist eindeutig eine Folge des Tschetschenienkonflikts. Diese drei Staaten sind im Übrigen noch relativ junge Gebilde, und sie sind gesellschaftlich vielmehr als Einheit zu sehen, als nördlicher Teil des Kaukasus. Es ist eine Besonderheit, dass die superautoritäre Herrschaft von Kadyrow, die in Tschetschenien den Konflikt verdrängt und unterdrückt hat – dass diese Verdrängung über die Republiksgrenzen nach Dagestan und nach Inguschetien ausstrahlte, wo jetzt viel mehr Gewalt und Unsicherheit und Respektlosigkeit gegenüber irgendwelchen rechtsstaatlichen Prinzipien zu beobachten ist.

Russland ist 1996 in den Europarat aufgenommen worden. Dieser Entscheid wurde damals von verschiedenen Seiten kritisiert. Wie beurteilen Sie heute die Mitgliedschaft Russlands im Europarat?

Die unverdächtigsten Zeugen, die die Mitgliedschaft Russlands im Europarat befürworten, sind vielleicht die tschetschenischen Frauen, die Russland in vielen Fällen vor den Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte gebracht haben. Niemand in Russland, auch die Oppositionellen nicht, beurteilen die Aufnahme Russlands in den Europarat als falsch. Die Entwicklung der Menschenrechte und jene der Demokratie sind ja ständige kollektive Lernprozesse, die nie zu Ende sind. Ob heute in Russland dieser Lernwille noch so ausgeprägt ist wie nach der Auflösung der Sowjetunion, das ist umstritten.

Aber was man vielleicht in der Öffentlichkeit zu wenig weiss, was mir aber in Kontakten etwa mit dem Verfassungsgericht oder beim Obersten Gericht Russlands bestätigt wurde: Der Europarat hat einen positiven normativen Einfluss auf bestimmte Rechtsentwicklungen in Russland. In diesen Institutionen versteht man sich mehr als Teil des europäischen Rechtssystems, als das in der Praxis bei der Exekutive erkennbar ist.

Wenn ein Land Europarats-Mitglied wird, untersteht es dann automatisch der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte?

Nicht ganz. Es gibt oft eine zeitliche Verzögerung, aber man hat die Verpflichtung, sofort nach dem Beitritt die Europäische Menschenrechtskonvention zu ratifizieren. Die Schweiz hat das auch erst 1974 getan, obwohl sie schon 1963 Mitglied wurde, weil sie zuerst das Frauenstimmrecht einführen musste, bevor sie die Menschenrechtskonvention ratifizieren konnte. In Russland ist die Ratifizierung nach der Mitgliedschaft erfolgt. Von den etwa 100 000 Klagen, die hängig sind beim Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg, kommt ein Drittel aus Russland. Das ist übrigens pro Kopf nicht das grösste Kontingent. Aber es ist insgesamt ein riesiges Volumen, das kaum verdaubar ist. Deshalb haben die Europarats-Staaten den Vorschlag für das 14. Protokoll gemacht, um das Verfahren vor dem Gericht zu rationalisieren. Aber dieses Protokoll ist bisher von Russland nicht ratifiziert worden. Das ist einer der grossen Streitpunkte zwischen dem Europarat und Russland.

Könnte man sich vorstellen, dass der Europarat ein Mitglied einmal suspendiert für eine gewisse Zeit und im schlimmsten Fall ausschliesst, wenn Normen und Zusagen nicht erfüllt werden?

Griechenland hat sich nach dem Putsch der Generäle in den 1960er Jahren, bevor es vom Europarat ausgeschlossen worden wäre, selber verabschiedet, und die Türkei ist auch zeitweise suspendiert worden, als die Generäle dort zu viel Macht hatten. Im Falle Russlands hat man während des zweiten Tschetschenienkriegs den russischen Vertretern zeitweise das Rederecht in der Parlamentarischen Versammlung entzogen. Harte Massnahmen und scharfe Sanktionen müssten vom Ministerkomitee ergriffen werden. Das sind Diplomaten, und die tun einander selten weh. Man kann Parlamentarier ausschliessen. Das würde sich auch deshalb manchmal anbieten, weil die Legitimität der Parlamentarier nicht immer zweifelsfrei ist. Deshalb ist die Frage des Ausschlusses von Parlamentariern auch schon in Bezug auf Aserbeidschan und jetzt wieder bei Armenien gestellt worden.

Heisst das, dass in Zukunft der Europarat gegenüber Russland noch weniger durchsetzungsfähig ist, etwa wenn die Energiefrage eine Rolle spielt?

Es wäre naiv zu sagen, die Energiefrage spiele bei europäischen Regierungen keine Rolle. Zum Beispiel wenn Bundesrat Couchepin nach Aserbeidschan geht, das völlig autoritär regiert wird, und er dieses Land als strategischen Partner lobt, weil das dortige Regime zu den zehn grössten Erdölförderländern zählt – dann zeigt er auch keine grosse Sensibilität für die verletzten Menschenrechte in Aserbeidschan. Die Regierungen bestimmen ja die Politik im Ministerkomitee, und diese Regierungen haben wahrscheinlich noch nie über Menschenrechte nachgedacht, ohne realpolitische Interessen in dieses Nachdenken mit einfliessen zu lassen.

Der russische Staat ist vom Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte über 30 Mal verurteilt worden, wegen Klagen von Einzelpersonen aus Tschetschenien. Hält sich Russland an diese Urteile, und werden die vollzogen?

Da muss man unterscheiden. Was die individuelle Entschädigung betrifft, zahlt Russland, was der Gerichtshof verfügt, 10 000 oder 20 000 oder 30 000 Franken. Entscheidend ist der Aspekt, der zu dieser Strafe führte. Gibt es da die nötigen Veränderungen im Rechtssystem oder im russischen Militär in Bezug auf den Umgang mit Soldaten oder auf den Umgang mit Gefangenen? Ob das auch wirklich geändert wird, ist schwieriger festzustellen.

Es gibt noch einige andere ausgeprägte Problemfälle im Europarat bezüglich der Menschenrechte. Häufiger genannt werden die Ex-Sowjetrepubliken Aserbeidschan, Georgien, Armenien und die Republik Moldau. Welches ist der schwierigste Fall?

Der schwierigste Fall ist eindeutig Aserbeidschan. Und zwar schwierig, weil ich dort ganz genau weiss, dass man es mit ein wenig mehr politischem Willen besser machen könnte. Es ist ein unglaublich reiches Land und hat nur acht Millionen Einwohner. Es gibt diesen eingefrorenen Konflikt mit Armenien um Nagorni-Karabach, der zur Folge hatte, dass 20 Prozent des aserbeidschanischen Territoriums immer noch besetzt werden von Armenien. Trotzdem gäbe es Mittel und Umstände, um den Menschenrechten in Aserbeidschan mehr Nachachtung zu verschaffen, endlich anständige Wahlen zu organisieren und das Regime dazu zu bewegen, Pressefreiheit zu akzeptieren.

Und am Beispiel Aserbeidschan sieht man deutlich, was passiert, wenn man auf diesen Forderungen nicht mit der nötigen Konsequenz beharrt. Dann gibt es über die westlichen Werte einen so zynischen Diskurs, dass sich diejenigen jüngeren Leute, die diese Werte ernst nehmen, eben dem Islam zuwenden. Das ist ein hohes Risiko. Schliesslich grenzt Aserbeidschan an Iran.

Herr Gross, Sie sind ein engagierter Vertreter direktdemokratischer Entscheidungen. Finden Sie damit im Europarat Gehör, wächst da die Unterstützung für direktdemokratische Entscheide?

Ich kämpfe tatsächlich seit 13 Jahren auch im Europarat für die direkte Demokratie. In den letzten zwei Jahren durfte ich zwei Berichte schreiben zum Stand der Demokratie in den Mitgliedstaaten des Europarates. In beiden habe ich festgestellt, dass die Demokratie in einer Krise ist, die vielfältige Gründe hat. Man kann meiner Ansicht nach die Glaubwürdigkeit und die Identifikation der Bürger mit der Demokratie stärken, indem man zu den Wahlen direktdemokratische Elemente einbaut. Denn eine der Ursachen der Krisen ist die Frustration von Bürgern, ihre Kapazitäten bei wichtigen Entscheidungen nicht einbringen zu können. Ihre Mitsprache wird darauf reduziert, einmal in drei, vier oder fünf Jahren die Parlamente neu zu bestellen.

Das andere grosse Problem ist die Beschränkung der Demokratie auf den Nationalstaat. Wenn das auch in Zukunft so bleibt, kann sie ihr Versprechen, nämlich eine anständige Verteilung der Lebenschancen, nicht realisieren. Wir müssen die Demokratie transnationalisieren. Das heisst nicht, dass der Nationalstaat verschwindet, so wie in der Schweiz die Kantone politisch auch nicht verschwunden sind.

Man hat in der Europäischen Union immerhin die Direktwahl des Europäischen Parlamentes. Und wenn Irland den Lissabon-Vertrag angenommen hätte, hätte auch das EU-Parlament mehr Funktionen und mehr Kompetenzen erhalten. Dann gibt es auch die &Uml;berlegung, dass man den vorgesehenen Präsidenten der EU durch eine Volkswahl bestimmen sollte. Halten Sie das alles für vernünftige Vorschläge?

All das ist nicht unvernünftig. Aber es ist unterschiedlich vernünftig. Es gibt eine ganz grosse qualitative Differenz zwischen der europäischen Wahl eines Präsidenten und einer europäischen Sachentscheidung. Neben der Integrationsfähigkeit ist in der partizipativen Demokratie das kollektive Lernen eine entscheidende Leistung. Und der Lernschritt ist viel grösser, wenn die Bürger in Europa über Sachfragen entscheiden, als wenn sie irgendeinen Sozialdemokraten oder Christlichdemokraten als Präsidenten wählen.

Wenn man sich in Brüssel bei der Ausarbeitung des Reformvertrages gebührend überlegt hätte, dass in Irland der Vertrag vors Volk geht, hätte man auch zur Erkenntnis kommen müssen, dass man nicht 400 Seiten mit allen Anhängen und Zusatzprotokollen in so eine Abstimmungsvorlage packen kann. Man hätte einen schlanken Grundsatz-Text, der das Wesentliche auf den Begriff bringt, zur Abstimmung vorlegen müssen.

Die Iren haben die vorgesehenen EU-Reformen verzögert und gleichzeitig erzwungen, dass das Vertragswerk nun vereinfacht wird?

Ich glaube, dass es richtig ist, das irische Nein als Ausdruck einer Stimmung sehr vieler Europäer zu sehen. Es ist ein Hinweis darauf, dass Europa sich qualitativ ein transparenteres Fundament, ein anderes Vorgehen bei wesentlichen Entscheidungen überlegen muss.


Andreas Gross
R. M. Andreas Gross ist seit 1991 sozialdemokratischer Abgeordneter im Schweizer Nationalrat und seit 1995 in dieser Funktion gleichzeitig Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Strassburg. In dieser Institution war er unter anderem Co-Berichterstatter zur Beobachtung der Menschenrechte (Monitoring) in Aserbeidschan und Berichterstatter für eine politische Lösung des Tschetschenienkonflikts. Im März dieses Jahres war er Delegationsleiter für die Beobachtung der Präsidentschaftswahlen in Russland.
Gross, Jahrgang 1952, hat in Zürich und Lausanne Geschichte und Politikwissenschaften studiert. Er war Anfang der achtziger Jahre Mitbegründer der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), von der er sich später distanzierte.


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