23. Aug. 2007

Vollständige Version einer Kolumne für die Aargauer Zeitung

Bald 27 oder 28 Kantone?
Für Schweizer im Ausland und
Ausländer in der Schweiz


Von Andreas Gross

Demokratie ist neben der Freiheit wohl zum grössten politischen Allerweltsbegriff geworden. Alle wollen Demokraten sein, mögen sie sich auch noch so autoritär und selbstherrlich benehmen. Da helfen historische Analysen und alte Definitionen, um Ordnung zu finden im wortgewaltigen täglichen politischen Durcheinander. Die Wasserscheide zwischen dem modernen Anspruch der Demokratie und dem alten, vormodernen Verständnis der Demokratie bilden die amerikanische und holländische Revolution sowie vor allem die französische Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts.

Für den alten Demokratiebegriff stehen die Griechen. Seit dem 4. Jahrhundert vor Christus schufen sie ein alt-'demokratisches' Regime, in dem eine privilegierte Minderheit von relativ gleichen Bürgern gleichberechtigt diskutierend und entscheidend ihre Kleinstaaten regierten und dabei verschiedene Mehrheiten von Menschen (Frauen, Ärmere, Nichteingessene) ausschlossen, die Früchte deren Arbeit aber mehr oder weniger sich zu eigen machten. Es herrschten nicht ganz fünf Prozent aller Menschen über die anderen 95 %.

Im Frankreich des 18. Jahrhunderts herrschten noch weniger über noch mehr Menschen. Die wenigen trieben es so bunt, dass den vielen zu wenig zum Leben blieb. Es kam zur Rebellion, dann zur Revolution. Nicht mehr einer allein sollte der Souverän sein, sondern alle zusammen. Und erstmals in der Geschichte der Menschheit erarbeiteten die Engagiertesten unter den Revolutionären einen Katalog von Rechten, die jedem Menschen wo auch immer eigen sein sollten. Darin formulierten sie auch den Kern eines modernen Demokratieverständnisses. Jeder Mensch sollten nur jenen Normen und Gesetzen sich unterziehen müssen, die er selbst direkt oder indirekt mitbestimmt hat. Olympe de Gouges, eine der engagierten Pariser Frauen von damals, präzisierte, dass unter den Menschen auch die Frauen, Armen, Sklaven und Schwarzen zu verstehen sind – alle also, wirklich alle, nicht nur einzelne Gruppen unter ihnen.

Charles Tilly, ein amerikanischer Historiker, der sein ganzes Leben der Demokratieforschung widmete und jetzt eben seine Werkbilanz publiziert hat (Democracy, Cambridge University Press, 2007) übersetzt heute diesen Kern der modernen Demokratie im Satz: «Unter Demokratie verstehen wir das Ausmass, in dem eine Regierung die Bürgerinnen und Bürger an allen staatlichen Aktionen in breiten, gleichberechtigten, geheimen und verbindlichen Abstimmungen mitwirken lässt.»

Die entscheidende Frage ist nun, was wir unter Bürgerinnen und Bürger verstehen. In vielen Staaten gelten alle als solche, welche auf ihrem Territorium geboren worden waren. Andere lassen Zugezogene nach fünf Jahren Bürger werden. Im revolutionären Frankreich genügte es, ein halbes Jahr lang Betagte zu pflegen und man wurde als Bürger aufgenommen.

Die Schweiz setzte 1848 einige der Errungenschaften aus den USA und Frankreich um; ihr gelang bezüglich allgemeinem Männerwahlrecht und deren parlamentarische Vertretung eine europäische Pionierleistung. Auch waren einzelne Kantone mit dem Asylrecht und dem Bürgerrecht für flüchtige Revolutionäre und Demokraten sehr grosszügig. In anderen Staaten war das Wahlrecht vom Vermögen abhängig, das Parlament war keine eigentliche Volksvertretung. Relativ schnell wurde hierzulande auch die Schwäche eines rein parlamentarischen Systems korrigiert und unter dem Druck mächtiger Volksbewegungen 1874 und 1891 die Volksrechte eingeführt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es mit dem politischen Elan in der Schweiz vorbei. 1905 gingen Finnland und Norwegen mit dem Frauwahlrecht voran, 1918 folgten Deutschland und Grossbritannien, 1944 Frankreich.

Lebenswelten und staatliche Organisationsform, welche das Versprechen der Demokratie verwirklichen sollten, klafften immer mehr auseinander. So lebten in der Schweiz bereits 1880 211'035 Menschen ohne Schweizer Pass (7,5 %), 1910 waren es 14,7 %, 1960 10,8, 1970 15,9 und im Jahr 2000 19,3 %. Heute leben in der Schweiz über eine Million Menschen (etwa 21 %) ohne Stimm- und Wahlrecht, teilweise obwohl sie in der Schweiz aufwuchsen und kein anderes Land besser kennen als dieses. Ihnen wurde zum Verhängnis, dass immer mehr Schweizer die Demokratie als Privileg des Schweizerseins verstehen und nicht als Menschenrecht. In der Postmoderne fiel die Mehrheit der Schweizer also demokratiepolitisch gleichsam in die Vormoderne zurück statt das moderne Demokratieverständnis entsprechend der lebensweltlichen Veränderungen weiterzuentwickeln.

Gleichzeitig leben heute über 600'000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger – immerhin 10 % der in der Schweiz gebliebenen - ausserhalb der Schweiz. Dank doppelter Staatsbürgerschaft einiger Länder, seit 1992 auch der Schweiz, und den modernen Kommunikationsmitteln üben etwa 120'000 von ihnen ihr Stimm- und Wahlrecht aus.

Vom Auslandschweizerrat wurde vor kurzem die Idee lanciert, diesen Schweizern im Ausland eine Art virtuellen 27. Kanton zu organisieren, und ihnen so zwei Ständeräte, eine Deputation im Nationalrat und eine Standesstimme zukommen zu lassen. Ebenso interessant wäre die Idee, die Nichtschweizer in der Schweiz in einem 28. Kanton zu organisieren und ihnen die gleichen Vertretungsrechte zu ermöglichen. Die einen leben etwas weiter weg von der Schweiz, sind etwas weniger betroffen von gewissen Entscheidungen hier, kümmern sich aber immer noch um die Schweiz und haben oft einen weiteren Horizont und können den helvetischen Kleinkram manchmal besser situieren. Die anderen sind so betroffen von unseren Entscheidungen wie wir, identifizieren sich noch etwas weniger mit uns allen wie wir, bringen aber neue Erfahrungen und andere Sichtweisen ein, von denen die Schweiz in ihrer Geschichte immer enorm profitiert hat.

Gegen diese Ideen gibt es einige Argumente. Am meisten spricht aber für sie, dass wir das menschenrechtliche Demokratieverständnis allen, wirklich allen Menschen unbesehen ihres Passes zukommen lassen müssen, wenn es denn ein Menschenrecht sein soll und nicht nur ein Privileg. Zweitens würden uns die parlamentarischen Vertreter der Ausländer in der Schweiz und der Schweizer im Ausland zwingen, Überlegungen zur Kenntnis zu nehmen und uns mit Argumenten auseinanderzusetzen, die uns heute fehlen. Vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb so manche hiesige Diskussion nicht nur in Vorwahlzeiten eine so falsche Schlagseite hat.


Kontakt mit Andreas Gross



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