15.06.2002

Finanz und Wirtschaft
«Bärner Apéro»

Die Umsetzung der Direkten Demokratie
ist erschwert


Interview: Peter Morf

Herr Gross, in der vergangenen Woche hat der Nationalrat die Schaffung einer Anrufinstanz, die für faire Abstimmungskämpfe zu sorgen hätte, abgelehnt. Sie haben die Vorlage unterstützt, warum?

Inder Schweiz gibt es zu wenig Sensibilität dafür, dass die Qualität eines Prozesses sein Resultat prägt. Ein Ergebnis kann nicht gut sein, wenn der Prozess, der dazu geführt hat, unfair oder einseitig gewesen ist. Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass mit viel Geld Aussagen verbreitet worden sind, die nicht wahr sind. Das hat verunsichert, zumal diejenigen, die die Falschaussagen richtig stellen sollten, nicht über die dazu nötigen Mittel verfügt haben. Darum bin ich für einen finanziellen Ausgleichsmechanismus, aber das ist Zukunftsmusik. Die Anrufinstanz wäre ein kleiner Schritt in die richtige Richtung gewesen. Eine Autorität, bestehend aus unabhängigen Persönlichkeiten, müsste die Falschaussagen korrigieren.

Wer wären diese Persönlichkeiten, die quasi über allem stehen müssten?

Sie müssten nicht über allem stehen, dürften aber nicht ins Tagesgeschäft involviert sein und müssten etwas von der Sache, der Politik, der Werbung und der Kommunikation verstehen. Es kämen verschiedene Persönlichkeiten in Frage. Das Problem lag nicht in der Zusammensetzung der Instanz, sondern in der Tatsache, dass zum ersten Mal der Versuch gemacht wurde, den Liberalismus und die Demokratie zu versöhnen. Die Schweiz ist ein sehr liberalistischer Staat, der alles gerne dem freien Spiel der Kräfte überlässt. Das ist auch gut so. Sozialismus oder Gerechtigkeit heisst für mich nicht möglichst viel Staat. In der Schweiz fehlt jedoch das Bewusstsein, dass der Liberalismus in Widerspruch zur Demokratie gelangen kann. In diesem Fall setze ich mich für die Demokratie ein. In der Wirtschaft muss der Markt auch geregelt werden, damit er fair und anständig funktioniert.

Gibt es wirklich einen Widerspruch zwischen Liberalismus und Demokratie, sie bedingen sich gegenseitig doch?

Das trifft zu, sie bedingen sich gegenseitig. Aber es kann ein Widerspruch entstehen, wenn man den Liberalismus falsch versteht. Liberalismus heisst nicht, nichts gestalten und nichts regeln, sondern allen mit möglichst wenig Eingriffen dieselben Chancen geben. Manchmal muss man eingreifen, damit Prozesse fair ablaufen.

Die Demokratie geht von einem mündigen Stimmbürger aus, der selbst entscheiden kann. Würde diese Anrufinstanz nicht zu seiner Bevormundung führen?

Von einer Bevormundung kann nicht die Rede sein. Die Instanz hätte keine Sanktionsmöglichkeiten gehabt. Sie hätte, wie der Presserat, einfach öffentlich Widerspruch angemeldet. Damit würde die Autonomie und Urteilsfähigkeit des Bürgers sogar besonders respektiert. Jeder versucht, so mündig zu sein, wie er kann. Aber die Spiesse sind häufig nicht gleich lang, die einen können mit viel Geld Zweifelhaftes in die Welt setzen, und die, die es korrigieren könnten, verfügen nicht über die Mittel, sich Gehör zu verschaffen. Das ist eine Chanchen-UngIeichheit, die einem liberalen und fairen Wettbewerb widerspricht.

Es zeigt sich immer wieder so auch in der eidgenössischen Abstimmung über die Fristenregelung und die Initiative , dass der Stimmbürger sehr wohl in der Lage ist, differenziert abzustimmen. Die äusserst fragwürdige Kampagne für die Initiative hat sich nicht ausbezahlt.

Ich bin der letzte, der dem Stimmbürger nicht ein gutes Zeugnis ausstellen würde. Ich werfe vielen Politikern vor, dass sie sich dieser Stärke nicht bewusst sind. Weil wir uns seit über hundert Jahren in der Direkten Demokratie üben, haben wir ein hohes politisches Niveau erreicht. Aber man darf nicht von hinten her denken. Die Tatsache, dass die Fristenregelung angenommen und die rücksichtslose Initiative abgelehnt wurde, heisst nicht, dass alles gut gelaufen ist. Die Plakatkampagne hat trotzdem verunsichert. Im schlimmsten Fall kann der Prozess so unfair sein, dass die, die verlieren, die Niederlage nicht akzeptieren. Zur Legitimität des Ergebnisses muss Sorge getragen werden, sie darf nicht bestritten werden. Das ist der Integrationsfaktor der direkten Demokratie.

Die Initiative ist deutlich abgelehnt worden. Dennoch haben die Initiantinnen noch am selben Tag einen nächsten Vorstoss angekündigt. Ist das nicht ein Missbrauch des Initiativrechts?

Ein neuer Vorstoss ist nicht als Missbrauch zu sehen. Die Tierschützer und andere haben diesen Fehler auch schon gemacht, und gleich wieder eine neue Initiative angekündigt. Es ist die grosse Kunst, den Rhythmus zu finden und zu erkennen, wann welche Fragen mit einer Initiative zur Abstimmung gebracht werden können. Die Initianten schaden sich selbst, wenn sie diesen Rhythmus nicht finden. Es ist ein wichtiges Recht in der Demokratie, dass eine Minderheit immer versuchen kann, zu einer Mehrheit zu werden.

Sehen Sie im Bereich Initiative und Referendum einen Revisionsbedarf?

In einem wichtigen Punkt ist Handlungsbedarf gegeben. Die Möglichkeit der brieflichen Abstimmung hat zur Folge, dass vor allem in Städten, aber auch in ländlichen Gebieten zwischen 50 und 90% der Stimmenden per Post abstimmen. Die Urne verliert damit als Ort für die Unterschriftensammlung an Bedeutung. Vor der Urne konnten direkt interessierte und stimmberechtigte Personen angesprochen werden. Das gilt für Standorte etwa vor Einkaufszentren nicht. Heute muss deswegen rund fünf Mal mehr Zeit pro Unterschrift aufgewendet werden als früher. Es ist schwieriger geworden, die geforderten Unterschriftenzahlen zu erreichen. Wir erleben deshalb eine massive Erschwerung der direkten Demokratie. Im vergangenen Jahr ist keine einzige Initiative zu Stande gekommen, und im laufenden erst eine. Je schwieriger die Hürden zu erreichen sind, desto mehr können nur noch die von der direkten Demokratie Gebrauch machen, für die sie am wenigsten gedacht ist - also die, die über genügend Geld verfügen und ihre Interessen ohnehin effizient zu vertreten wissen. Wenn man diese Erschwerung nicht will, müssen die Unterschriftenzahlen gesenkt oder die Sammelfristen verlängert werden, wie das im Kanton Zürich durch den Verfassungsrat vorgeschlagen wird.

Umgekehrt ist doch die Tatsache, dass die Unterschriftenzahlen seit Jahren gleich sind, die Bevölkerung aber wächst, ein Argument, die Unterschriftenzahlen zu erhöhen.

Nein, das ist ein Irrtum. Die Unterschriftenzahlen sind mit der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1977 verdoppelt worden. Die demographische Entwicklung hat seither nur eine geringfügige Erleichterung gebracht. Durch die briefliche Abstimmung hat sich per saldo eine massive Erschwerung ergeben. Die direkte Demokratie ist wie ein Warnsystem. Wenn es zu spät Alarm schlägt, brennt das Haus schon. Gerade Liberale können kein Interesse daran haben, dass nur diejenigen, die die Macht ohnehin schon besitzen, die direkte Demokratie nutzen können. Wenn wir wichtige Probleme im Parlament übersehen, werden sie uns von Initiativen sofort aufgezeigt. Diesem Mechanismus verdankt die Schweiz viel.

Demokratie basiert auf Mehrheitsentscheiden. Was halten Sie vom Ständemehr, das dazu führen kann, dass ein Mehrheitsentscheid umgestossen wird?

Das Ständemehr trägt dazu bei, den Föderalismus und die direkte Demokratie zu versöhnen. Der Grundgedanke des Föderalismus liegt darin, dass kleine Einheiten ein Gewicht erhalten, das über ihrem mathematischen Anteil liegt. Aber das Verhältnis zwischen Föderalismus und Demokratie hat sich seit 1848 massiv zu Ungunsten der Demokratie verschoben. Die kleinen Kantone haben Bewohner verloren, die grossen sind überdurchschnittlich gewachsen. Ein Urner oder ein Appenzeller hat heute 30 bis 40 % mehr Stimmkraft, als ein Zürcher oder ein Berner 1848 hatte. Der Unterschied ist zu massiv gewachsen. Das ist ein struktureller Vorteil für die konservativen Kreise in unserem Land. Rund 30 % der Schweizer können 70 % überstimmen. Dieses Verhältnis stimmt nicht mehr.

Was ist zu tun?

Man könnte beispielsweise den fünf grossen Kantonen eine Standesstimme und einen Ständerat mehr geben. Für diese Änderung braucht es allerdings die Zustimmung derer, die vom heutigen System profitieren. Eine grundsätzliche Infragestellung des Föderalismus kann jedoch nicht in ihrem Interesse liegen.

Soll die Schweiz ein Milizparlament behalten oder ein Berufsparlament einführen?

Die Seele der direkten Demokratie ist die Diskussion. Wichtig ist, dass Bürger und Politiker viel näher zusammen sind als in der parlamentarischen Demokratie. In der direkten Demokratie werden die Parteien und Politiker stärker gefordert. Paradoxerweise ist die Schweiz jedoch das einzige Land, das die Parteien nicht staatlich unterstützt und die Politiker nicht anständig bezahlt. Man sollte den Politikern das Parlamentariersein nicht zum Beruf machen, aber man muss denen, die viel Zeit investieren, genug zahlen. Ich werfe einigen Parlamentariern vor, dass sie nicht genügend vorbereitet zu den Sitzungen kommen. Wenn die Leute nicht informiert sind, gewinnen am Schluss die, die auf dem Status quo beharren wollen. Der Bürger schadet sich selbst, wenn er dem Parlamentarier nicht erlaubt, sich genügend intensiv mit der Materie zu befassen.

Wie ist das Parlament zu stärken?

Die Parlamentarier müssen eine Sekretariatsunterstützung haben. Die wenigsten können sich das heute leisten. Das ist in Gang gekommen. Es muss eine anständige Vorsorge geboten und die Entlöhnung verbessert werden. Wir brauchen kein Berufsparlament, die Verankerung in der Bevölkerung ist wichtig. Umgekehrt ist der Milizgedanke ein Mythos: Viele Parlamentarier sind Berufspolitiker. Die übrigen sind oft in Verbänden engagiert, für Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, oder sie sind Lobbyisten für bestimmte Angelegenheiten. Das ist nicht der Sinn des Parlaments und stärkt weder die Demokratie noch die Schweiz.

Andreas Gross

 

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