Dezember 1998
Die Union; ¼-jahres-Zeitschrift für Integrationsfragen; Wien 4/98.
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Europa: Föderalismus und Direkte Demokratie
Acht Impulse aus der Schweizer Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts
für den europäischen Verfassungsgebungsprozess.
English summary>>>
In Wien die These zu vertreten, dass im Schatz der politischen Geschichte der Schweiz
auch positive Impulse für die Zukunft der europäischen Integration zu finden
sind, ist nicht ganz einfach. Denn allzu lange hat man zu vielen Österreichern zu
viel Schweizerisches als zu positiv hingestellt - jetzt mögen sie von der Schweiz
für reformerische Zwecke nichts mehr hören. So verpassen sie nun aber auch das,
was tatsächlich bedenkenswert wäre. Der Schweiz ergeht es heute nicht nur in
Österreich so wie dem alten Klassenprimus, dem man später auf die Schliche kam,
als es sich herausstellte, dass nicht alles Gold war, das so lange glänzte, und dass
er arg getrickst hatte.
Schadenfreude ist bekanntlich die schönste Freude, deshalb sei sie allen nicht nur
heute unbenommen: Als in der Schweiz lebender kritischer Europäer habe ich zudem das
grösste Interesse, dass alle Seiten, auch die Schattenseite der Schweizer
Zeitgeschichte ausgelotet werden; schliesslich ist es gerade die Mystifizierung der
Überlebensstrategie der Schweiz in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts,
welche seit Jahren der Zuwendung der Schweiz zur Welt und zu Europa am meisten im Wege
steht.
Eine zweite Vorbemerkung: Wenn ich die These vertrete, dass die Verfassungsgeschichte
der Schweiz für die demokratische Fundierung und Konzeption der europäischen
Integration tatsächlich so manche Impulse zu bieten hat, dann denke ich nicht an die
alte Schweiz, wie dies Peter Kostelka tat. Die politische Geschichte der Schweiz
lässt sich in viele Perioden unterteilen. Von grossem europäischem Interesse
ist nicht das eher oligarchische schweizerische Mittelalter, sondern die erste Hälfte
des 19. Jahrhunderts, als sich der schweizerische Staatenbund zum modernen Bundesstaat
weiterentwickelte.
Von 1798 bis 1874 brach die alte Eidgenossenschaft zusammen, unter Napoleons Gnaden wurde
die zentralistische Helvetik geschaffen, nach 1815 gab es das konservative Rollback, 1830
griffen die liberalen Regenerations-Bewegungen wieder auf Ideen, Konzepte und
Errungenschaften der Französischen Revolution und der Helvetik zurück und
entwickelten anschliessend erste bundesstaatliche Integrationskonzepte, besiegten die
Katholisch-Konservativen in einem «very civil civil war» (der US-Historiker
Joachim Remak) und schufen 1848 Bundesverfassung und Bundesstaat, die dann in den
1860er Jahren wiederum ausgehend von besonders aufmüpfigen Kantonen,
direkt-demokratisiert wurden, was 1874 in der total revidierten Bundesverfassung gipfelte.
Diese Jahrzehnte gehören zu den konfliktintensivsten, gleichzeitig aber auch
politisch-institutionell kreativsten der jüngeren Schweizer
Geschichte.1
1848 gelang in der Schweiz eine «konkrete Utopie»
Nach dem Scheitern der zwangsweisen Zentralisierung von 1798 bis 1815 entwickelte sich
die Schweiz nach mehreren Anläufen, verschiedensten Verfassungsentwürfen,
mancherlei Umstürzen und vielerlei Rückschlägen von 1830 bis 1848 von
einem schwachen Staatenbund zum föderalistischen Bundesstaat:
Aus der Tagsatzung, der Regierung des Staatenbundes, in welche die Kantone ihre
instruierten Vertreter sandten, die nur konsensual entscheiden durften (der Ministerrat
und die Einstimmigkeitsregel der EU kommen einem sofort in den Sinn) wurde der
siebenköpfige Bundesrat; das aus den USA abgekupferte Zweikammersystem
gewährleistete die Interessenwahrung der kleinen, alten und sehr selbstbewussten
Kantone, welche sich nicht einfach dem Diktat der grossen Kantone und der Mehrheiten in
der Volkskammer beugen wollten.
Verschiedene demokratische Bewegungen der 1860er Jahre verwandelten schliesslich die 1848
im Wesentlichen repräsentative Demokratie des neuen Bundesstaates von 1874 bis 1891
in die direktdemokratische Schweiz, wie wir sie bis heute kennen. Es ist diese Periode der
Schweizer Geschichte, welche für die Konsolidierung und Demokratisierung der
Europäischen Union in Zukunft die interessanteste und anregendste, aber auch
ermutigendste ist. Denn dass der Schweiz damals die Integration und Demokratisierung
gelang, schien damals auch deren Protagonisten wie Henry Druey nicht weniger
utopisch als heute eine demokratische EU, eine transnationale Demokratie oder ein
europäischer Bundesstaat neuen Typus.2 Wobei selbstverständlich die
nordamerikanischen Erfahrungen, aus denen die Gründer der modernen Schweiz bereits
1848 manche Lehren zogen, auch für die künftige institutionelle Ausgestaltung
Europas nach wie vor mancherlei Impulse bietet, ebenso wie die Einrichtungen und
Erfahrungen neuerer Bundesstaaten wie Australien, Indien oder Südafrika.3
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass wir hier nicht einfach im nachhinein der
schweizerischen Integration im 19. Jahrhundert eine europäische Bedeutung
unterschieben. Es gab schon 1848 radikale Zeitgenossen, die das Gelingen der Gründung
der modernen Schweiz von 1848 als «europäischen Anfang» verstanden. Ihr
Ziel war keineswegs eine helvetisch-demokratische Insel inmitten eines
monarchisch-autoritären Europa. Sie verstanden den neuen Bundesstaat als ersten
Schritt hin zu einem neuen, demokratischen Europa.4 Entsprechend bereit waren
sie auch, die anderen europäischen Revolutionäre und 1848er - ohne deren
Engagement die alten Herren Europas die schweizerischen Liberalen in ihrem Wirken wohl
gehindert hätten - als Flüchtlinge aufzunehmen, nachdem deren revolutionäre
Anstrengungen vor allem in Deutschland, Italien, Österreich und Ungarn gescheitert
waren.
Dass andererseits auch manche Vordenker und Mitbegründer des europäischen
Einigungsprozesses, beispielsweise belgische Widerständler und Antifaschisten, schon
in den 1940er Jahren auf die schweizerische Bundesstaatsgründung als Vorbild und
Impulsquelle für das künftige vereinigte Europa verwiesen, ist
bekannt.5
Acht integrative Impulse aus der Schweiz des 19. Jahrhunderts für Europa
Im folgenden möchte ich nun auf acht Errungenschaften, Erfahrungen und institutionelle
Schöpfungen der Schweiz von 1830 bis 1891 hinweisen, die mir für die Diskussion
um die Möglichkeiten einer transnationalen Demokratie, die Gestalt einer
europäischen Verfassung sowie die Potentiale sowie Ausgestaltung eines
europäischen Verfassungsprozesses von besonderem Interesse zu sein scheinen und neben
anderen Erfahrungen aus anderen Ländern in sie einfliessen sollten.6
1. So zentral wie nötig, so dezentral wie möglich
Der schweizerische Verfassungskompromiss von 1848 schuf einen vergleichsweise schwachen
Zentralstaat mit relativ starken Gliedstaaten. Zentral gestaltet wurde nur, was die
Gliedstaaten alleine nicht bewältigen konnten oder was für alle absolut
unabdingbar war: Wirtschaftsrecht, Aussenhandel, Zollwesen, Aussenpolitik.
Gesichert wurde diese behutsame Gestalt von Zentralität durch die in der neuen
Bundesverfassung verankerte Klausel, dass der Bund sich nur dann weitere
Gestaltungsbereiche aneignen darf, wenn er dafür eine Verfassungsgrundlage hat,
beziehungsweise schaffen kann, was wiederum die Zustimmung der Mehrheit der
Staatsbürger und der Gliedstaaten (Kantone) voraussetzt. Das heisst, die Kantone
verhinderten eine Art Selbstermächtigung der Zentralgewalt und schufen eine
vergleichsweise hohe Hürde für die Erweiterung der Bundeskompetenzen.
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem Subsidiaritätsprinzip, wie es
in der EU der 1990er Jahre vertreten wird, und dem schweizerischen
Föderalismusverständnis: Das Subsidiaritätsprinzip ist eine Handlungsmaxime
der Zentralgewalt, wonach möglichst nur jene Regelungskompetenzen beansprucht werden
sollten, welche nicht besser und sachgerechter national, regional oder kommunal
wahrgenommen werden können. Demgegenüber darf entsprechend dem schweizerischen
Föderalismusverständnis die zentrale Staatsgewalt nur regeln, was ihr zuvor von
der Mehrheit der Bürger und der Gliedstaaten mittels einer Verfassungsbestimmung zur
Regelung übertragen worden ist.
Weil der moderne Bundesstaat eine Schöpfung der teilweise viel älteren Kantone ist, wollten die Kantone ihre Souveränität auch im neuen Rahmen so weit wie möglich behalten und nur so viel wie nötig an den Bund delegieren. Politkulturen hatte dies zur Folge, dass die Kantone Teil eines neuen Ganzen wurden, ohne sich als eigene Einheiten aufgeben zu müssen. In diesem Sinne gleicht die schweizerische Erfahrung eher der neuen europäischen Herausforderung, alte, teilweise sehr selbstbewusste Staaten integrieren und von der Notwendigkeit einer Teilung der Souveränität überzeugen zu müssen, als anderen Bundesstaaten wie den USA, Australien oder gar Deutschland, in denen sich vergleichsweise junge beziehungsweise neu geformte Gliedstaaten zusammenfanden.
2. Zweikammerparlament und doppelte Mehrheiten für Verfassungsrevisionen als föderalistische Absicherungen
Die Verfahren zur Absicherung der Dezentralität des schweizerischen Bundesstaatswesens importierte die Schweiz von 1848 aus den USA.7 Es sind dies neben der oben genannten verfassungsrechtlich beschränkten Zentralgewalt in erster Linie das aus zwei absolut gleichberechtigten Kammern bestehende Bundesparlament sowie die für Verfassungsänderungen notwendigen doppelten Mehrheiten.
Wer verhindern will, dass kleinere Gliedstaaten im Bundesstaat von den grossen, bevölkerungsreicheren Staaten überstimmt und deren Interessen eher übersehen werden, der muss den kleinen Kantonen ein besonderes, ihren numerischen Anteil am Ganzen deutlich überschreitendes Gewicht im Entscheidungsverfahren geben.
Deshalb muss in der Schweiz bis heute jedes Gesetz sowohl vom Nationalrat, der proportional zur Bevölkerungsstärke gewählten 200köpfigen 'Volkskammer', als auch vom schweizerischen 'Senat', dem Ständerat, der zweiten, kleineren Kammer angenommen werden. In ihm ist jeder Kanton, ob gross oder klein, ob sehr gross (Zürich: 1,1 Millionen Einwohner) oder ganz klein (Uri mit 30000 Einwohnern) mit je zwei Abgeordneten genau gleich stark vertreten. Beide Kammern haben in den USA und der Schweiz die genau gleichen Befugnisse; dies im bemerkenswerten Unterschied zu den zweiten Kammern in Deutschland, Österreich, Spanien oder Frankreich, wo die zweiten Kammern andere, teilweise auch nur nachgelagerte Befugnisse haben.
Damit wird die demokratische Mehrheitsregel föderalistisch zugunsten der kleineren Einheiten gleichsam gebrochen. Das heisst, entscheidungstheoretisch sind in den Gesetzgebungsverfahren Bürger aus Arkansas oder Uri in den USA oder der Schweiz ungleich mehr wert als Kalifornier oder Zürcher, von denen im Senat beziehungsweise im Ständerat, auch nur zwei Abgeordnete sitzen, obwohl deren Staaten über 30mal grösser sind als die erstgenannten.
Die verfassungspolitisch entsprechende Föderalismusklausel besteht in der Notwendigkeit, dass jede Verfassungsänderung nicht nur von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch von einer Mehrheit der 23 Voll- und sechs Halbkantone angenommen werden muss. Dabei haben alle Kantone bei der Zählung der Ständestimmen, unbesehen ihrer Bevölkerungsstärke, die genau gleiche Stimmkraft.
An der Gleichberechtigung der beiden Kammern ist die Tiefe der föderalistischen Ausgestaltung des politischen Systems ebenso gut zu erkennen wie an deren gleichwertiger Legitimation: Beide Kammern werden von den Stimmberechtigten der Kantone direkt gewählt.8 Allerdings erfolgt die Wahl der 'Volkskammer' seit 1919 im die Minderheiten berücksichtigenden Proporzsystem, während der Ständerat mit zwei Ausnahmen nach dem Majorz-Verfahren gewählt wird, was zur Folge hat, dass die in einer grossen Kammer stärkste Partei, die SP, in der kleinen Kammer von den vier Bundesratsparteien am schlechtesten vertreten ist.
3. Willensnationen ohne weitere Gemeinsamkeiten als den Willen, gemeinsam Politik zu gestalten, sind möglich und von Dauer
In Deutschland, Frankreich oder Schweden ist in Diskussionen über die Möglichkeiten der Begründung und Fundierung eines europäischen, bürgerinnen- und bürgergesellschaftlichen Bundesstaates neuen Typus auf der Basis einer in einem transnationalen, europäischen Referendum unter dem gleichzeitigen Erfordernis eines Doppelmehrs - eine Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen muss ebenso zustimmen wie eine Mehrheit der Staaten - angenommenen europäischen, föderalistischen Verfassung immer wieder zu hören, ohne eine gemeinsame Geschichte, Sprache oder ein gemeinsames Erbe liesse sich keine gemeinsame, gar transnationale Demokratie schaffen oder aufbauen.9
Werden und Existenz der modernen Schweiz, welche in diesen Aufsätzen meist gar nicht vorkommt, weist auf diese Möglichkeit hin und illustriert sie gleichzeitig. Die moderne Schweiz ist der real existierende Ausdruck für die Handlungsoption eines «europäischen Verfassungspatriotismus»: Politischer Wille, entsprechende Institutionen, politkulturelle Einstellungen und entsprechende Verfahren in der Meinungsbildung, Entscheidungsfindung und deren Vollzug sowie günstige historische sozioökonomische Interessen- und Machtkonstellationen können sowohl Grundlage als auch integrative Klammern für eine sehr vielfältige, historisch, kulturell und lebensweltlich sehr heterogene Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft sein, eine gemeinsame neue «polity», eine gemeinsame politische Form zu bilden, sei dies nun eine Stadt, ein Staat oder eine transnationale politische Gemeinschaft.
Dass jede Gemeinschaft integrative, motivierende und handlungsanleitende Identitäten benötigt, ist unbestritten. Entscheidend ist allerdings die Frage, woher diese Identitäten kommen, wie sie geschaffen werden, woraus sie sich speisen und wie sie sich herausbilden können. Am wirksamsten entstehen sie meiner Meinung nach aus dem gemeinsamen Handeln, aus der Tätigkeit, aus der Arbeit an und dem gänzlichen oder teilweisen Gelingen eines Projekts - und weit weniger aus einem passiven gemeinsamen Erbe oder anderen, eher oberflächlichen Gemeinsamkeiten.
Dieter Grimm und der ihm in diesen beiden Punkten zustimmend referierende Wolf-Dieter Narr10 haben folglich einen eingeschränkten historischen Blick und engen dadurch das Feld der künftigen europäischen Demokratisierungs- und Integrationsmöglichkeiten unnötig ein, wenn sie meinen, Verfassungen seien immer nur «gerichtet gegen einen absolutistischen Staat» errungen worden und ein europäisches Verfassungsprojekt müsste an den «pluralen europäischen Gegebenheiten» scheitern.
4. Integration durch vielfältige Kommunikation
Differenzen müssen Menschen nicht trennen. Eine Gesellschaft, welche bereit ist, immer wieder auch über das gemeinsam nachzudenken und darüber zu diskutieren, was sie scheinbar oder tatsächlich trennt und was dennoch wie gemeinsam getan werden sollte, die kann sich gleichsam über den Austausch und die Auseinandersetzung über ihre Differenzen immer wieder integrieren und auf vorläufige Handlungsperspektiven einigen. Dafür benötigt sie allerdings entsprechende Institutionen, Verfahren und Lernprozesse.
Genau dies leisten in der Schweiz die vielfältigen Teilungen, Brechungen und Zerklüftungen der politischen Macht und die Formen, in denen sich trotz allen Differenzen immer wieder gemeinsame Entscheidungen herausbilden: Föderalismus und direktdemokratische Verfahren haben zur Folge, dass wenige viel und viele immer wieder etwas weniger zu sagen haben, so dass alle sich immer wieder miteinander verständigen müssen über das gemeinsam zu Leistende oder zu Unterlassende.11
Die Kleinräumigkeit der Schweiz ist ebenso wie ihr eher ländlicher, kleinstädtischer und bäuerlicher Charakter diesem auf Kommunikation, Auseinandersetzung und Konflikt angelegten politischen System nicht sehr förderlich. Hier liegt ein eigentliches Paradox der schweizerischen politischen Kultur: Eine eher konfliktscheue, kommunikationsgehemmte Gesellschaft schuf ein politisches System mit hoher ziviler Konflikt- und Kommunikationsintensität.
Jede politische Sache muss sich in der schweizerischen Öffentlichkeit beziehungsweise im schweizerischen Parlament eine eigene politische Mehrheit suchen. Diese setzt sich parteipolitisch, kulturell, geographisch, sozial immer wieder sehr unterschiedlich zusammen. Diese permanente Mehrheitssuche ist selbstverständlich mit sehr grossen Anstrengungen, Konflikten und Verständigungsbemühungen verbunden, die alles andere als kostenlos sind. Sie entfalten freilich, gleichsam als Abfallprodukt, eine integrative Leistungsfähigkeit, die von aussen unterschätzt wird, für andere moderne und somit eher desintegrative Gesellschaften aber umso interessanter, weil hilfreicher sein dürfte.
Dies lässt sich hier nicht weiter ausführen. Es ist aber in unserem Zusammenhang deswegen von grosser Bedeutung, weil die Integrationsleistung der politischen Institutionen und Verfahren in der Schweiz trotz ihrer Kleinräumigkeit realisiert werden konnten und keineswegs wegen ihr. Dass heisst im ungleich grösseren, nicht weniger vielfältigen, jedoch viel konfliktbewährteren und konfliktgewohnteren, kommunikationsfreundlicheren Europa können ähnliche Verfahren und Institutionen noch weit mehr Integrationspotential entfalten.
Nur weil die Schweiz anders ist, bedeutet dies also nicht, dass das künftige Europa die föderalistischen und direktdemokratischen Institutionen und Verfahren, die eigentlichen Quellen der kommunikativen Verständigungsnotwendigkeiten in der Schweiz, nicht aufnehmen und in moderner Form neu anwenden könnte. Ganz im Gegenteil. Diese Verfahren haben von der Schweiz unausgeschöpfte integrative Potentiale, welcher das grosse Europa der 20 und 25 Staaten dringend bedarf.12
5. Politische Systeme lassen sich bürgerbeweglich aufbrechen und umbauen
Sowohl die liberalen Bewegungen der 1830er Jahre als auch die Integrationsbewegung Ende der 1840er sowie vor allem die demokratische Bewegung der 1860er Jahre waren nur deshalb erfolgreich, weil sie aus unterschiedlichen Gründen von grossen Teilen des Volkes getragen wurden. Es waren eigentliche oppositionelle Volksbewegungen, welche der Schweiz im 19. Jahrhundert schliesslich zu der politischen Form verhalfen, die sie heute noch im wesentlichen schätzt.
Gewiss wären diese Bewegungen ohne Organisationseliten nicht möglich gewesen. Es brauchte die mittelständischen Redakteure, Ärzte, Lehrer und Pfarrer, welche die Mobilisierung vorbereiteten, die Opposition formierten, ihre Anliegen formulierten und ihnen eine Stimme gaben. Doch die jeweiligen Herrschaften, ob konservativ oder später vor allem liberal, hätten die Legitimität der Forderungen der Oppositionsbewegungen niemals akzeptiert, wenn diese nicht mit einem massiven Druck «von unten» verbunden gewesen wären.
Dieser Druck entsprang immer auch der Not verschiedener Bevölkerungskreise. In den 1830er Jahren war es vor allem die Angst vor dem Verlust der (Heim-)Arbeit angesichts des Aufkommens immer produktiverer Maschinen in den Fabriken, in den 1860er Jahren die völlig ungleiche Verteilung der Früchte des Aufschwungs, die Vernachlässigung der Interessen der ärmsten Schichten in den Städten, die Bevormundung der ländlichen Unternehmerschicht durch die Stadt sowie die wirtschaftlichen Probleme der Bauern, deren Land immer teurer und deren Produkte immer billiger verkauft werden mussten.
Immer betonten aber die politischen Verantwortlichen der demokratischen Bewegung, dass nur mit den materiellen Missständen die oppositionelle Grundwelle nicht erklärt werden könne. So hiess es im führenden Blatt der Demokraten, dem Winterthurer Landboten, am 1. März 1868 unter dem Titel «Der Kern der Bewegung»: «Wir kommen damit auf den Kern der zürcherischen Bewegung, der nach unserer Ansicht darin besteht, dass das Volk sich den Respekt vor seinem eigenen Urteil, welche die gewählten Repräsentanten ihm in allzu zahlreichen Fällen schroff verweigerten, auf verfassungsmässigem Wege erzwingt.»
Ohne die Beispiele aus der Schweiz zu überhöhen, wobei ich allerdings etwas provozierend die These vertreten möchte, dass es Demokraten vor 150 Jahren aufgrund der materiellen Beengtheit der Menschen, ihrer kulturellen Abhängigkeiten und der damaligen Hegemonie autoritärer Strukturen, nicht zuletzt auch der Kirche, ungleich schwerer als heute fallen musste, diese Menschen für grundlegende politische Reformen zu mobilisieren:
Ich denke schon, dass sich zwei Lehren aus diesen Erfahrungen ziehen lassen, die aktueller sind denn je: Erstens bedeutet mehr Demokratie immer eine feinere Verteilung von Macht - wenige verlieren viel und viele gewinnen ein wenig mehr. Diejenigen, welche von der Macht zu viel haben, werden nur unter dem Druck der vielen anderen bereit sein, davon etwas abzugeben und zu teilen. Doch wenn es genügend gibt, die aktiv Druck entwickeln, dann lassen sich auch mächtige Systeme13 aufbrechen, umbauen und reformieren.
Die für den Umbau der EU relevante Lehre aus der schweizerischen 1848er Erfahrung hat der Zürcher Historiker Hansjörg Siegenthaler in einem Vortrag folgendermassen herausgearbeitet. «Man darf sich freuen über die Gründung des Bundesstaates», meinte Siegenthaler, «weil man der Versuchung widerstehen (sollte), die Gründung des Bundesstaates für eine wenig verwunderliche Sache zu halten nur deshalb, weil man sie im nachhinein für eine angemessene Lösung der Probleme jener Zeit betrachten kann.»
In einer Zeit wie heute, wo zu viele Menschen auch die politische Seite des Lebens als Schicksal, vom eigenen Willen und eigenen Erkenntnissen nicht zu beeinflussen, empfinden, und weil sich auch eine andere europäische polity weder automatisch einstellt noch prinzipiell unmöglich ist, sondern von jenen, die es anstreben, auch entsprechendes Engagement erfordert, ist ganz besonders daran zu erinnern, dass 1848 in der Schweiz nur gelang, weil viele Schweizerinnen und Schweizer entsprechend zu handeln bereit waren. Denn, so Hansjörg Siegenthaler: «Nicht alles stellt sich her in der Geschichte, was sich, stellte es sich wirklich her, auch bewähren würde.» Und: «Probleme institutioneller Ordnung lösen sich nicht schon deshalb, weil es sie gibt. Es genügt auch nicht die Einsicht einiger Menschen in die Wünschbarkeit einer neuen Ordnung, selbst wenn sich diese Einsicht mit klarsten Vorstellungen darüber paart, wie die neue Ordnung auszusehen habe.»
Es reicht also nicht, wenn Menschen einsichtig sind und sich vorstellen können, dass es anders besser sein könnte, sondern sie müssen auch noch ganz persönlich ein Interesse daran haben, zur Herstellung der neuen Ordnung auch wirklich beizutragen.
Den Demokraten gelang dies 1869 im Kanton Zürich durch die mehrmalige Mobilisierung von über 90 Prozent der Stimmberechtigten: Der Kanton bekam eine völlig neue Verfassung, die damals direktdemokratischste der Welt, und ein in seinen Mehrheitsverhältnissen völlig umgekrempeltes Parlament mit einer gänzlich neu zusammengesetzten Regierung!
Auch der heute transnational notwendige demokratische «Landgewinn gegenüber der Ökonomie» (W.D. Narr) setzt eine höhere eigene demokratische Legitimität voraus. Genau dies muss eine neue europäische Verfassung leisten. Die Erfahrungen aus der Schweiz, aber nicht nur aus der Schweiz zeigen, dass dies - -zweitens - prinzipiell mit zum Engagement bereiten, urteilsfähigen Bürgerinnen und Bürgern möglich ist.
6. Die legitimen Hebel zur Reform nutzen
Auch die Zürcher Demokraten bedienten sich für ihre «demokratische Revolution», in der kein einziger Bluttropfen floss, der ihnen für die Reform zur Verfügung stehenden institutionellen Hebel. Unter dem Eindruck einer ersten, kleineren Oppositionswelle hatte die alte liberale Zürcher Regierung schon Mitte der 1860er Jahre in einer kantonalen Verfassungsrevision das Volksinitiativrecht zur Auslösung der Totalrevision der Kantonsverfassung eingerichtet. Wenn zehn Prozent der Stimmberechtigten dieses Anliegen unterzeichneten, musste die Regierung eine Volksabstimmung über die Frage durchführen, ob die Verfassung totalrevidiert werden sollte oder nicht.
Genau hier setzte die demokratische Bewegung im Herbst 1867 an: Sie mobilisierte «das Volk» an einem kalten Dezembersonntag; etwa ein Fünftel der Stimmberechtigten folgten dem Aufruf zu vier Landsgemeinden, und die notwendigen Unterschriften zur Totalrevision kamen an einem einzigen Wochenende zusammen. Die Regierung war denn auch nicht wenig beeindruckt. Sie schrieb die Volksabstimmung bereits auf Ende Januar 1868 aus: 90 Prozent der Stimmberechtigten gingen an die Urnen, über 90 Prozent stimmten dem Begehren zu, ein Verfassungsrat verfasste innert einem Jahr eine völlig neue Kantonsverfassung.
Eine Verfassung und eine Demokratisierung der EU fordern heisst nicht, die EU in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil. Die FU hat heute mit Recht eine Gestaltungskraft, die, gerade weil sie beispielweise in der präventiven Friedenspolitik und vor allem der Ökonomie zur Setzung sozialer und ökologischer Grund- und Grenzwerte noch stärker werden muss, besser fundiert, feiner organisiert und tiefer verankert werden muss.
Dieser Willen zur Festigung der EU und der transnationalen Gestaltungskraft muss auch im Verfahren zum Ausdruck kommen, mit dem der Verfassungsgebungsprozess in Gang gesetzt wird. Dies sollte weniger einem Beschluss von oben, beispielsweise des Ministerrates, entspringen. Noch reicht es aus, wie dies die französischen Grünen in ihrem Artikel in Le Monde von Ende November (1998) tun, eine «grosse europäische verfassungsgebende Versammlung rund um das grosse, direkt gewählte Europäische Parlament» zu fordern.14
Am europäischen Verfassungsseminar der Universität Marburg haben wir zusammen mit Aktiven der eurotopia-Bewegung eine Idee entwickelt, die in doppelter Hinsicht tragfähiger ist. In der nächsten Revision der Unionsverträge (Maastricht III oder Amsterdam II), welche der Erweiterung der EU wegen schon bald angesagt ist, sollte eine Art Revisionsartikel verankert werden, in dem, sagen wir fünf Prozent der Bürgerinnen und Bürger der EU das Recht eingeräumt wird, mit einem noch festzusetzenden Verfahren den Wandel von der Vertrags- zur Verfassungsbasis einzuläuten und den europäischen Verfassungsprozess in der noch zu bestimmenden Form einzuleiten.15
Dieses Auslösungsrecht hätte nicht nur den grossen Vorteil, dass die mit einem sehr grossen Aufwand verbundene Aufgabe einer demokratischen Verfassungsgebung für die FU die notwendige Legitimation und den nötigen Motivationsschub erhielte. Ebenso leistete die Sammlung der notwendigen, doch einige Millionen umfassenden Bürgerinnen- und Bürgerunterschriften zusammen mit der damit verbundenen Diskussion einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Etablierung einiger der heute von einigen vermissten Voraussetzungen für eine mehr als rein parlamentarische transnationale Demokratie: Die Auslösungsinitiative schafft eine transnationale Öffentlichkeit, verschiedene regionale, nationale und transnationale demokratische Bürgerbewegungen ebenso wie die transnationale Kooperation von Parteien, Bewegungen und NGOs.16
7. Eine europäische direkte Demokratie ist möglich und hilft
Direkte Demokratie im Sinne von Volks- oder Völkerabstimmungen über Vorschläge für Verfassungs- und Gesetzesrevisionen, die von qualifizierten Minderheiten von Bürgerinnen und Bürgern veranlasst werden, sind immer Erweiterungen oder Ergänzungen zum parlamentarischen System und stellen die repräsentative Demokratie nicht nur nicht in Frage, sondern stärken sie sogar.
Je grösser Räume und Bevölkerungszahl, welche demokratisch verfasst und organisiert werden sollen, desto mehr - Rousseau wird hier gleichsam gewendet und würde sich gewiss wundern - bedarf die repräsentative Demokratie ergänzender Instrumente zur Integration der Bürgerinnen und Bürger sowie zur Reduktion von deren Distanz zu den Regierenden und den sie repräsentierenden Parlamentariern. Das Zweikammersystem, also die Miteinbeziehung nationaler Parlamentarier, allein kann noch nicht «wirklich das Europaparlament an die Innenpolitiken anschliessen» oder die «nötige Verzahnung» leisten, wie dies Aussenminister Joschka Fischer anmahnt.17 Dazu bedarf es des möglichst grossen Anschlusses und der Verzahnung zwischen Berufspolitikern und Bürgergesellschaft.
Dies ist im EU-Europa, selbst im nach 2010 gewachsenen EU-Europa, angesichts des heutigen gesellschaftlichen Bildungsstandes, der Zugänglichkeit zu Informationen, der Urteilsfähigkeit vieler Bürgerinnen und Bürger, ihrer Mobilität, Selbstorganisations- und Handlungsfähigkeit sowie vor allem der modernen Kommunikationstechnologien einfacher zu realisieren als im Frankreich oder der Schweiz von Mitte des 19. Jahrhunderts. Die geographischen und demographischen Grössenordnungen bedeuten für die indirekte wie die direkte Demokratie nicht per se und absolut «Schwierigkeiten»18, sondern diese sind ganz wesentlich abhängig von der politischen Kultur, den Verfahren und Regeln der direkten und indirekten Demokratie sowie den sozialen und politischen Handlungskompetenzen der Bürgergesellschaft.
Dass die Güte der direkten Demokratie von deren Verfahren abhängt, wird mittlerweile kaum mehr bestritten.19 So darf die direkte Demokratie, soll sie ihre Integrations-, Kommunikations-, Legitimations- und bürgergesellschaftliche Kompetenzmehrungspotentiale wirklich entfalten können, nicht wie beispielsweise in Österreich auf eine Art gehobenes Petitionsverfahren beschränkt werden. Auch dürfen die Quoren, mit denen die Bürgerinnen und Bürger verbindlich Volksabstimmungen auslösen können, nicht so hoch sein wie gegenwärtig in den meisten deutschen Bundesländern.
Denn eine echte öffentliche Debatte wird nur ausgelöst, wenn die politischen Institutionen wissen, dass sie die Volksabstimmung nicht verhindern können, wenn das Volksbegehren das notwendige Einstiegsquorum geschafft hat. Es bleibt dann allen beteiligten Institutionen, Parteien, Verbänden und bürgergesellschaftlichen Gruppen nur noch übrig, öffentliche Kampagnen und Überzeugungsanstrengungen zu entwickeln. Wenn die Quoren wiederum zu hoch sind, dann können sie nur von jenen benützt werden, die ohnehin schon über Organisations- und Ressourcenmacht verfügen und die meist bereits direkt oder indirekt in den Institutionen und Verfahren der parlamentarischen Demokratie bestens vertreten sind. Schliesslich dürfen auch, wenn solche überhaupt als notwendig erachtet werden, die Beteiligungsquoren nicht so unrealistisch hoch sein wie in manchen deutschen Bundesländern20 - würden solche beispielsweise in der Schweiz gelten, so wäre dort seit 50 Jahren kaum mehr ein rechtsgültiges Ergebnis einer Volksabstimmung zu verzeichnen gewesen.
Und damit sich Volksgesetzgebungsverfahren wirklich zu gesellschaftlichen Lernprozessen entwickeln, müssen sie - im Unterschied zu manchen US-Bundesstaaten - auf eine gewisse Dauer angelegt und organinteraktiv organisiert sein, das heisst das Parlament in den Kommunikationsprozess mit einschliessen.
Zu den Verfahren, auf die man in mancherlei Hinsicht sehr achtgeben muss, gehören schliesslich auch Vorkehrungen dafür, dass die zur Mobilisierung von Meinungen, Anhängern und Öffentlichkeit notwendigen Ressourcen möglichst vielen, auch nichtprivilegierten Gruppen, Organisationen und Verbänden zugänglich sind. Deshalb sollten, wie in Brandenburg oder Sachsen, die teilweise Rückerstattung von Abstimmungskampagnenkosten - bei gleichzeitiger Erfordernis der Transparenz der Herkunft der vorhandenen Mittel beispielsweise - im europäischen Verfahren zur Implementierung der direkten Demokratie ebenso vorgesehen werden wie Öffentlichkeitsnutzungsrechte in den Medien und entsprechende Vereinbarungen mit Fernsehen, Radio und Presse.
Während für die Ausgestaltung der europäischen direkte Demokratien, was die verlangten Quoren anbetrifft, die Schweiz als nachahmenswert erscheint,21 bemüht sie sich zumindest bisher aufgrund ihres liberalistischen Gesellschaftsverständnisses wenig um Wege zu einer egalitäreren Nutzung der vorhandenen Rechte, die doch einige organisatorische Kapazitäten, Valenzen und Ressourcen voraussetzen, die, je länger je mehr, weniger Menschen und Organisationen ausreichend zur Verfügung stehen.
8. Erfahrungen mit Mehrfachloyalitäten der Bürger und geteilten Souveränitäten
Dass Föderalismus und direkte Demokratie einander wechselseitig förderlich sind, wird gerade in der Schweiz immer deutlicher. In einer direkten Demokratie muss sich jede grosse politische Sache ihre Mehrheit suchen und organisieren. Das ist für eine Gesellschaft, die ein eigentliches Patchwork von Minderheiten verschiedenster Art bildet, eine spannungsmildernde, integrative Chance. Immer wieder ergeben sich unterschiedlich zusammengesetzte Mehrheiten. Immer wieder haben Minderheiten die Chance, Teil der momentanen Mehrheit zu werden.
Die Schweiz hat denn auch seit 1848 und vor allem seit 100 Jahren reale Erfahrungen mit mehrfach geteilten Souveränitäten und Mehrfachloyalitäten gemacht. Viele Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich primär als Angehörige einer Region, beziehungsweise als Kantonsbürger, was sie nicht daran hindert zumindest ab und zu auch stolze Staatsbürger zu sein. Ihre ausgeprägte Gemeindeautonomie - für viele ist die Gemeinde in der Schweiz bis heute der Grundsockel der Demokratie - führt zumindest in den deutschschweizerischen Kantonen auch staatspolitisch zu Dreifachloyalitäten, von den sozialen, politischen und anderen lebensweltlichen Identitäten ganz abgesehen.
Ebenso verhält es sich in der Schweiz mit der Souveränität: Die Kompetenz-Kompetenz liegt rechteigentlich im Bundesstaat immer noch bei den Kantonen, von denen sich einige - Jura, Genf z.B. - immer auch als «Republik» bezeichnen; so wie der Begriff «Staat» in Bern wie in Zürich der kantonalen Ebene vorbehalten ist, während die nationale, schweizerische als «Bundesebene» bezeichnet wird.
Wenn W.D. Narr also meint, damit Politik in Zukunft noch eine Chance haben soll, müssten Verfassungen heute Mehrfachloyalitäten vorsehen, transnational poröser und föderativ konzipiert sein,22 dann hat er mit der Schweiz ein real existierendes Beispiel dafür, dass dies möglich ist. Wenn es der Schweiz in der Mitte des 19. Jahrhunderts gelang, einer kleinen, konkreten politischen Utopie näher zu kommen, dann spricht meines Erachtens prinzipiell nichts dagegen, weshalb dies 155 Jahre später nicht mehr Europäerinnen und Europäer auf ihre Art ebenso gelingen sollte.
Summary
The constitutional history of the Swiss integration between 1830 and 1890 as a source for impulses for the future of the European integration
The Swiss' 19th century's history is rich of conflicts and changes. After the conservative backlash between 1815 and 1830 the Swiss cantons became a laboratorium for political regeneration, the drafting of new, liberal and republican constitutions and constitutional conceptions to integrate the old cantonal «federation of state» into a new federal state, in which the cantons became part of a new whole without losing their basic sovereignty. In this essay 1 would like to show, that there may be drawn eight hypotheses out of this 19th century success story of federal, that means decentralised integration which is the most accurate example for a new democratic polity for the European Union in the coming century.
1. You need a federal constitution in order to decentralise the polity as much as possible and to give the federal center as much power as needed and necessary.
2. In order to integrate the parts without them making lose all their rights Switzerland of 1848 copied the bicameral System of the US; each canton has to have the Same number of senators in the second chamber, which has to have exactly the same rights as the first chamber of the representatives of the people. Every law has to pass both houses. Every constitutional change has to be approved by the majority of the people and the cantons.
Anmerkungen:
1 Eine wertvolle Zusammenfassung dieser Zeit verfasste in der im Herbst 1998 beim Frankfurter Suhrkamp Verlag zum 150. Geburtstag der modernen Schweiz erschienenen Kleinen Schweizer Geschichte der Basler Historiker Martin Schaffner.
2 Eine skeptische Auseinandersetzung mit den «realotopischen Verfassungsperspektiven» für die EU findet sich in Wolf-Dieter Narrs Aufsatz Das demokratische Fiasko der Europäischen Union, der in der Festschrift für Wilfried Röhrich Die Demokratie überdenken (Hrsg. Carsten Schlüter-Knauer) 1997 in Berlin erschien.
3 Eine ausführliche Darstellung der schweizerischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts und der vielfältigen Quellen, aus denen sie sich speiste, findet sich in den beiden Bänden von Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, Bern 1992. Anregend für die Lektüre in der Absicht, Anstösse für die europäische Diskussion zu finden, ist auch die eben erschienene Aufsatzsammlung von Kölz, 1789-1798-1848-1998, Der Weg der Schweiz zum modernen Bundesstaat, Chur-Zürich 1998.
4 Hinweise dazu bei Schiedt, 1848 als Start. Der Traum von den Vereinigten Staaten von Europa, in Ernst et al. (Hrsg.), Revolution und lnnovation. Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1846, Zürich 1998, 141 ff.
5 Im Abschnitt «Europe» im Artikel «Nos buts», in La Voix des Belges, Nr. 1. vom 10. August 1941 der belgischen Widerstandsbewegung wurde der schweizerische Bundesstaat als «bewundernswürdige freie Konföderation» bezeichnet, die «den Mikrokosmos des zukünftigen Europa» darstelle. Abgedruckt in Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die europäische Verfassung. Dokumente von 1939 bis 1984, Bonn 1986, 67.
6 Idee, Projekt und Perspektive einer europäischen Verfassung und eines Verfassungsgebungsprozesses haben im Herbst 1998 neue Anstösse und Stärkungen erfahren. Hinzuweisen ist auf die Diskussionen im Rahmen der Kommission für parlamentarische Beziehungen des Europarates, was sich in der Plenumsdebatte von Strassburg im Januar 1999 niederschlagen wird, ebenso wie auf die alternative «Regierungserklärung» der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, die Äusserungen der italienischen Parlamentsvorsitzenden Violante, die Bemerkungen des deutschen Aussenministers Joschka Fischer in der Frankfurter Rundschau vom 25. November 1998 sowie an die gleichzeitigen Äusserungen des Vorsitzenden des Europaparlaments José-Maria Gil-Robles anlässlich seines Schweizer Besuches in Genf. Gil-Robles' SPD-Vorgänger Hänsch hatte bekanntlich entsprechende Verfassungsperspektiven für die EU immer strickte zurückgewiesen.
Besonders engagiert für eine europäische verfassungsgebende Versammlung und eine eigentliche «europäische demokratische Revolution» sprach sich die grüne Fraktion der französischen Assemblée Nationale und der Spitzenkandidat der französischen Grünen für die Furopawahlen vom nächsten Juni, Daniel Cohn-Bendit, in Le Monde vom 26. November 1998 aus.
Für wissenschaftliche Anregungen zu Fragen der Verfassung der Demokratie in Europa angesichts der Globalisierung vgl. die Zeit-lnterviews mit Jürgen Habermas (8. Oktober 1998) sowie mit Joseph Weiler (22. Oktober 1998) sowie die jüngste Aufsatzsammlung von Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998.
7 Mehr dazu bei Netzle, Die USA als Vorbild für einen schweizerischen Bundesstaat, in Ernst et al. (Hrsg.): Revolution und lnnovation. Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848, Zürich 1998, 49 ff.
8 Entsprechend der vom deutschen Aussenminister Joschka Fischer in Interviews, welche im Spiegel vom 23. November 1998 und in der Frankfurter Rundschau vom 25. November 1998 erschienen sind, vertretenen Idee eines Zweikammerparlaments für die EU, in dem das jetzige Europäische Parlament mit einem von den nationalen Parlamenten gewählten europäischen Senat ergänzt wird, sind sowohl die US-Senatoren als auch die schweizerischen Ständeherren im 19. Jahrhundert mehrheitlich von den Parlamenten der Gliedstaaten und noch nicht von den Stimmberechtigten gewählt worden. Erst die demokratischen Bewegungen der Schweiz nach 1860 und der USA nach 1890 setzten in der Mehrheit der Gliedstaaten die Direktwahl der Mitglieder der kleinen Kammer durch.
9 Sehr ausgeprägt beispielsweise Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? , München 1994.
10 Narr, Das demokratische Fiasko der Europäischen Union (FN 21) 261.
11 Ausführlichere Hinweise zur integrativen Leistungsfähigkeit der direkten Demokratie sind in meinem Anfang 1999 erscheinenden Buch Direkte Demokratie als Chance und Prozess; die verkannten Seiten einer radikalen Errungenschaft zu finden (Zürich 1999).
12 Manfred Hettling dazu: «Denn in der Fähigkeit, Heterogenität zuzulassen, zu respektieren und zugleich in einem föderalen politischen System übergeordnete politische Handlungseinheiten zu schaffen und demokratisch zu fundieren, kann die Schweiz nach wie vor als modellhaft gelten. Darin kann auch eine produktive Irritation für Europa liegen» Siehe Einleitung in Kleine Geschichte der Schweiz (FN 1).
13 Als «System» bezeichneten die Zürcher Demokraten in den 1860er Jahren den herrschaftlichen liberalen Filz um den führenden freisinnigen Kopf in Bund und Kanton, Alfred Escher. Im Landboten vom 1. März 1868 hiess es zum System Escher: «Was war denn nun aber dies 'System' im Kanton Zürich? Kein anderes, als die Anspannung des aristokratischen Elementes, welches in der Repräsentation selbst liegt, bis auf den höchsten Grad seiner Leistungsfähigkeit. Daher die napoleonische Benutzung materieller Gesichtspunkte, persönlicher Einflüsse und Autoritäten aller Art zur Erzielung des Wahlresultates, und zwar ohne Programm, ohne prinzipielle Vorbesprechung mit den Wählern, unter Wahrung grösstmöglicher Freiheit - für die Repräsentanten, zu thun, was ihnen oder ihren Gönnern beliebt ohne jede Rücksicht auf die Wünsche und Stimmungen des Volkes. Daher das Pochen (...) auf die Alleinberechtigung der glücklich für vier Jahre im Grossen Rath verkörperten Souveränität.»
14 Cohn-Bendit et al., Pour une révolution démocratique européenne, in Le Monde, 26. November 1998.
15 Siehe Schiller, Europäische Verfassungs-Initiative - ein demokratischer Verfassungsprozess für Europa, und die eurotopia-Thesen, in Erne et al. (Hrsg.), Transnationale Demokratie. Impulse für ein demokratisch verfasstes Europa, Zürich 1995.
16 Narr, Das demokratische Fiasko der Europäischen Union (FN 2), 255.
17 Im Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 25. November 1998.
18 Narr, Das demokratische Fiasko der Europäischen Union (FN 2), 265, scheint dies erstaunlicherweise so anzunehmen und nicht weiter zu problematisieren.
19 Selbst der angesichts der rot-grünen Bundesregierung und wohl auch positiven kommunal-bayerischen Erfahrungen zum Befürworter der direkten Demokratie auf Bundesebene mutierte bayerische Ministerpräsident Stoiber stimmte dieser These in seinem Spiegel-Interview vom 16. November 1998 zu.
20 Für einen neuen Überblick über die geltenden Regeln und ihre praktischen Konsequenzen vgl. Schiller/Lackner, Direkte Demokratie in Deutschland, Marburg 1998.
21 2,2% der Unterschriften aller Stimmberechtigten werden innerhalb eines Zeitraums von 18 Monaten für das Zustandekommen einer Volksverfassungsinitiative verlangt, mit der eine Volksabstimmung erzwungen werden kann - wobei ich im Unterschied zur Schweiz auf EU-Ebene zumindest vorläufig auf das Gesetzesreferendum verzichten und die direkte Demokratie auf Vorschlagsrechte konzentrieren würde.
22 Narr, Das demokratische Fiasko der Europäischen Union (FN 2), 263.
Andreas Gross
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