16. Juni 2017

Le Temps

Moutier:
Eine Frage von Herz und Verstand –
nicht der Geschichte



Von Andreas Gross
Politologe, nach 24 Jahren im National- und Europarat für die SP Zürich, wählte er St-Ursanne als Lebens- und Arbeitszentrum, aus Liebe zum Doubs und seiner Landschaft im Norden und dem Freiheitsverständnis der Uhrmacher im Süden.


Tatsächlich liegt Moutier im Herzen des Jura. Zwischen zwei der vielen typisch jurassischen Klusen, in einem der zahlreichen Jura-Quer-Täler von Nordosten nach Südwesten. Doch das geografisch-landschaftliche Verständnis des Jura ist weit, gleichsam multikantonal, von Baselland, Aargau, Solothurn bis in die Waadt und nach Genf. Mit anderen Worten: Der Jura hat so manches Herz; denken wir nur an Waldenburg, den Herz­berg, Mariastein, Noirmont, Balsthal, Tavannes, Tramelan, St.Imier, La Chaux-de-Fonds, Le Locle oder La Brevine.

Das Herz allein schafft also noch keine eindeutige politische Zuge­hörig­keit. Auch die Sprache nicht. Französisch wird nicht nur im Norden Moutiers gesprochen. Auch westlich, in der näheren wie der weiteren Nachbarschaft.

Denn auch sprachlich ist der Jura vielfältiger als sich manche bewusst sind. Freilich wird fast überall französisch gesprochen. Doch im Nord­osten (BL, AG, SO) ist der Jura Teil von deutsch-schweizerischen Kan­tonen; und im nordjurassischen Ederswiler wird vor allem deutsch ge­sprochen, genauso wie der Kanton Jura eine Deutsch-Matur ermöglicht. Auch die Sprache macht es also nicht aus.

Schon eher das Genie compagnard-industrielle, die bäuerlich-industrielle Wachheit, welche neben der (Berg-)Landwirtschaft die Existenzbasis der meisten Jurassierinnen und Jurassier ist. Doch auch diese weltweit be­wunderte Kunstfertigkeit der Uhrmacher und Feinmechaniker ist trans­kan­to­nal und blüht im ganzen weiten Jurabogen; sie gedeiht am Jura­süd­fuss ebenso wie in der Ajoie, im Waldenburger- und St.Immertal wie im Val de Travers.

Der grösste Mythos, der auch Moutier nicht weiterhilft, ist aber: «Ein (ju­rassisches AG) Volk, vereint seit tausend Jahren», wie es durch den ehe­maligen Regierungsrat Philippe Receveur im Jura Libre vom 9. Juni 2017 Erwähnung fand. Diese politische Einheit und Einigkeit hat es unter den Jurassiern noch nie gegeben. Weder vor 400, noch vor 800 oder gar vor 1000 Jahren. Ganz im Gegenteil. Auch die politische Vielfalt und die ganz unterschiedlichen politischen Beziehungen und Zugehörigkeiten sei­ner Teile sind ein besonderes und gerade typisches Merkmal des Jura. Schon vor der Reformation gehörten im Norden die verschiedenen Re­gio­nen jahrhundertelang unterschiedlichen Freigrafschaften, Burgrechten und Bündnissen an. Im Süden gab es unterschiedliche Beziehungen und Bündnisse mit Bern, Biel, Solothurn und zum Fürstbistum. Das in Basel, später in Pruntrut zentrierte Fürstbistum war eine «Zwitternatur» (so der Historiker Herbert Lüthy), dessen «geistlicher und weltlicher Bereich nie kongruent waren». Die Reformation kam in den einzelnen Talschaften ganz unterschiedlich weit. Die Konterrevolution ebenso. Im Nordjura gab es nach der Französischen Revolution vom Dezember 1792 bis in den März 1793 eine Raurachische Republik, in Moutier eine eigene autonome Republik (1793-1797). Der französische Einfluss war sehr unter­schied­lich, zeitlich wie gesellschaftlich. Und der Code Napoleon machte gar erst 1912 dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch Platz!

Der Wiener Kongress der absolutistischen Herrscher Europas schaffte 1815 nicht nur neues Unrecht, in dem er «den Jura» ohne auch nur einen der betroffenen Jurassierinnen und Jurassier zu fragen aus strategischen Interessen der Grossmächte dem damals ebenso aristokratischen Kan­ton Bern einverleibte. Er suggerierte mit diesem selbstherrlichen ahisto­ri­schen Beschluss eine politische Einheit und Einheitlichkeit, die es so vorher nie gegeben hatte.

Die südjurassischen Täler und Regionen um St.Imier, Tavannes und La Neuveville beschlossen 1959, 1974, 1975 und 2013 an den in Wien be­schlossenen Zugehörigkeiten nichts zu ändern. Die Stadt Moutier bean­spruchte einen eigenen Entscheid, der nun am kommenden Sonntag ansteht.

Ganz im Sinne des französischen Philosophen Ernst Renan (1823 bis 1892), dessen Thesen zur Nation noch viel mehr für einen Kanton und die Frage der kantonalen Zugehörigkeit gelten. Renan meinte in seinem berühmten Vortrag an der Sorbonne 1882: «Der Mensch ist kein Sklave - weder seiner Rasse, noch seiner Sprache, noch seiner Religion; weder des Laufes der Flüsse, noch der Bergketten. Eine Nation (wie ein Kanton - AG) bildet sich einzig aus dem Willen: Dem Wunsch, zusammen leben zu wollen; dem Willen, das Erbe ungeteilt zu behaupten, das man er­hal­ten hat.» (L’homme n’est pas esclave ni de sa race, ni de sa langue, ni de sa religion, ni du cours des fleuves, ni des chaînes de montagnes. Une nation (comme un canton.ag) se fait par une volonté: Le désir de vivre ensemble, la volonté de continuer à faire valoir l’héritage qu’on a reçu indivis.) Die Bürgerinnen und Bürger von Moutier erkämpften sich die Freiheit, zu entscheiden, wo sie freier sind und sein wollen: Im so nahen und in vielerlei Hinsicht verwandten kleinen Kanton Jura oder im so alten, grossen weiten anderen Bern.


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