19. Nov. 2016

Quotidien Jurassien

Das Mosaik der Demokratie

Mosaikstein 3

Der Brexit als Ausdruck der Krise der Demokratie


Eines verbindet heute die Briten und die Kontinentaleuropäer unüberseh- und unüberhörbar: Sie streiten sich über den demokratischen Charakter des Entscheides vom 23. Juni einer deutlichen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler Grossbritanniens, aus der Europäischen Union (EU) auszu­tre­ten (Brexit). Für die einen war der Brexit das Nonplusultra der Demo­kratie: Ein Volksentscheid, klare Mehrheit, eindeutige Willens­kund­ge­bung, Frucht einer wochenlangen höchst intensiven Auseinandersetzung. Absolut demokratisch.

Für die anderen ist der Brexit Ausdruck einer Karikatur der Demokratie, Vorschein der von einigen resignierten Wissenschaftern verkündeten, sich anbahnenden Post-Demokratie. Sie weisen auf den plebiszitären Charakter von Brexit hin. Das sei nicht zu verwechseln mit der Direkten Demokratie. In einer Direkten Demokratie steht in der Verfassung, wann das Volk entscheidet. Immer geht es um ein Gesetz oder eine Verfas­sungs­änderung. In einem Plebiszit ordnet der Staatspräsident oder der Regierungschef willkürlich einen Volksentscheid an. Über eine Frage, die er formuliert – nicht ohne politische Hintergedanken, die meist mit der Sache nichts zu tun haben. Die Direkte Demokratie erweitert die unmit­tel­baren Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger – das Plebiszit mehrt die Machtbefugnisse des Matchhabers; die eine demokratisiert die Demo­kra­tie, das andere stärkt die Hierarchie und die Macht.

Gemeinsam ist der Direkten Demokratie wie dem Plebiszit der Volksent­scheid – ähnlich wie der Halt des Zuges die Gemeinsamkeit zwischen einer Notbremsung und einem ordentlichen Bremsvorgang ist. Freilich mit unterschiedlichen Nebeneffekten: Nach der Notbremsung sind viele Passagiere gestürzt, das Gepäck fiel auf sie nieder und verletzt einige, die Teller flogen von den Tischen im Wagon Restaurant, keiner kann ruhig bleiben – wogegen bei einem ordentlichen Halt, alle intakt bleiben, ruhig aussteigen oder sitzen bleiben zur Weiterfahrt.

Im Tumult, den der Brexit-Entscheid auf der Insel auslöste geht der junge Schriftsteller und Student Damiano Sogaro noch weiter. Er stellt das Recht von Volksmehrheiten in Frage, solche Entscheide zu treffen. Denn Volksmehrheiten sind seiner Meinung nach immer 'tryannisch'. Wie sollen sich denn all jene, die acht Stunden am Tag einer Lohnarbeit nachgehen müssen, politisch sachkundig machen können, fragt Sogaro. In der Online-Zeitung Huffington Post schrieb er kürzlich: «Schon immer haben Mehrheiten die Sklaverei, den Rassismus und den Sexismus gebilligt. Wir müssen merken, dass die 51 % nicht mehr die magische Zahl für die Entscheidungsfindung ist.» Fazit von Sogaro: Der Brexit wie alle Mehrheitsentscheidungen seien undemokratisch.

Wir merken: Damit Entscheidungen auch von denjenigen akzeptiert werden, die unterliegen, braucht es aus dem Mosaik der Demokratie mehr Steinchen als die Mehrheit, ein Plebiszit oder eine heftige Auseinandersetzung.


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Marie Jean Condorcet (1743-1793)

«Le respect des lois ne doit pas reposer sur la peur mais bien sur la confiance en la raison commune. Cette confiance, à son tour, se fonde sur la probabilité que ces lois seront conformes à vérité. Objet d’une délibération individuelle puis collégiale et acceptée par le biais d’un vote majoritaire, une loi est la figure provisoire du vrai. La loi repose sur un motif de croire tourner vers l’intérêt générale et non sur l’intérêt particulier; la raison y détermine un enjeu universel (…) Cependant, elle procède d’une raison commune perfectible: je dois donc pouvoir la contester si mes motifs sont fondées; il doit donc exister des moyens légaux d’obtenir la réforme des mauvaises lois. Le risque d’insurrection et de violence d’éloigne ainsi!»

Zitiert nach Politique de Condorcet présenté par Charles Coutel, Petit Bibliothèque Payot/Classique, Paris 1996



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