12. Nov. 2016

Quoditien Jurassien

Das Mosaik der Demokratie

Mosaikstein 2

März 1793:
Der Frühling der Direkten Demokratie



Wer die Geschichte nicht kennt, der läuft Gefahr, Fehler und Irrtümer zu wiederholen. Wer nicht weiss, wie geworden ist, was heute ist, kann sich auch nicht vorstellen, wie aus dem Heute ein besseres Morgen ent­wi­ckelt werden könnte.

So stimmt dies auch für die Direkte Demokratie. In der Schweiz wird sie heute von vielen geschätzt. Doch kennen tun sie nur wenige. So nehmen viele an, die moderne Schweiz von 1848 sei von Anfang an eine Direkte Demokratie gewesen. Weit gefehlt.

1848 gaben die Liberalen den Ton an. Die gaben sich mit der indirekten Demokratie zufrieden. Mehr als das allgemeine Wahlrecht – immerhin eine Pioniertat in Europa - wollten sie den Bürgern nicht zugestehen. Wie alle Verfeinerungen und Demokratisierungen der Demokratie musste auch die Direkte Demokratie von den betroffenen Bürgern erkämpft wer­den. Dies geschah zwischen 1860 und 1890 zuerst in einigen Kantonen (BL, ZH, SG, TG) und anschliessend im Bund (1874 mit dem fakultativen Gesetzesreferendum und 1891, vor genau 125 Jahren, mit der Einfüh­rung der Volksinitiative für eine Verfassungsreform). Grundmotivation: Viele Bauern, Arbeiter und Bürger hatten gemerkt, dass sich die liberalen Mehrheiten in den Parlamenten kaum um ihre wirtschaftlichen und sozialen Nöte kümmerten. Deshalb verlangten sie Mitgestaltungs­mög­lich­kei­ten auch zwischen den Wahlen. Mit den sogenannten Volks­rech­ten, den Möglichkeiten, direkt auf die Gesetzgebung und die Entwicklung der Verfassung Einfluss nehmen zu können, wollten die engagierten Bür­ger die Parlamentarier zwingen, auf sie und ihre Sorgen zu hören und Abhilfe zu schaffen.

Damit verankerten die Schweizer Ende des 19. Jahrhunderts eine Idee, die 100 Jahre zuvor der französische Philosoph und Revolutionär, Auf­klä­rer und Academist Marie de Condorcet entwickelt hatte. Condorcet gehörte zum 13-köpfigen Comit&egraf; de Constitution, welches Ende des Sommers 1792 von der französischen Convention beauftragt worden war, eine demokratische Verfassung für die Republik auszuarbeiten. Mit­te Februar 1793 legte Condorcet den Verfassungsentwurf vor, den er redigieren durfte. Es war der erste Verfassungsentwurf der Weltge­schich­te, welcher Volksrechte vorsah und die Direkte Demokratie zum re­pub­li­kanischen Ordnungsprinzip erhob.

Die Direkte Demokratie ist also eine französische Erfindung. Sie fand al­lerdings in der Schweiz einen fruchtbareren Boden als in Frankreich. Im­por­tiert und hier verankert wurde sie von schweizerischen Oppo­si­tio­nel­len, welche im Unterschied zu den Liberalen nicht der Meinung waren, die Sache des Volkes sei so wichtig, dass man sie nicht dem Volk überlassen dürfe.

1793 brachte im Übrigen auch dem Jura einen politischen Frühling. Die im November 1792 in Porrentruy ausgerufene Raurachische Republik hatte sich als erste Schwesterrepublik des revolutionären Frankreich nicht als überlebensfähig erwiesen. Am 27. März 1793 stimmten die Bürger des ehemaligen Bistums Basel der Integration der Raurachischen Republik in Frankreich als D&egraf;partement du Mont-Terrible zu. Ob die Leute in der Ajoie und im Birseck damals, als sie diesen Entschluss fassten, schon vom Demokratiepionier Condorcet und seinem revo­lu­tionären Verfassungsprojekt gehört hatten, kann ich noch nicht belegen, doch dürfen wir dies durchaus annehmen. Vielleicht hat Condorcet und sein Werk einige Jurassier sogar zu ihrem Entscheid motiviert.


Kontakt mit Andreas Gross



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