23. Mai 2016

Leserbrief
an die FAZ

Nekrassows These basiert auf einer nachweislich unwahren Behauptung


Ein weiterer Manipulationsversuch im Fall Magnitsky

Im Interview mit Andrej Nekrassow zur Absetzung seines sogenannten Dokumentarfilms über den in russischen Gefängnissen umgebrachten Sergei Magnitsky durch das ZDF und ARTE (FAZ 13.5.2016) hat dieser einige falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt, die nicht unwider­spro­chen bleiben dürfen.

Als Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung (PV) des Eu­ro­pa­rates (ER) zu den Hintergründen des Todes des russischen Steuer­be­ra­ters Sergei Magnitsky habe ich eine umfangreiche, unabhängige Unter­su­chung realisiert, in deren Rahmen ich zweimal auch zu ausführlichen, mehrtägigen Gesprächen mit den zuständigen Behörden in Moskau war. Zusammen mit dem Sekretariat des Rechts- und Menschenrechts­aus­schus­ses der PV werteten wir darüber hinaus zahlreiche Dokumente aus, die wir von offiziellen russischen Quellen erhalten haben, insbesondere aus den Strafverfahren gegen Magnitsky und dessen Auftraggeber Bill Browder und den Beschwerden, die Magnitsky selbst und posthum seine Angehörigen gegen Gefängnismitarbeiter und Polizisten eingereicht ha­ben. Ein Teil dieser Unterlagen, insbesondere englische Übersetzungen, stammt tatsächlich aus dem Londoner Büro Browders. Die Über­set­zun­gen wurden jedoch auf meinen ausdrücklichen Wunsch vom Sekretariat der PV unabhängig von Browder überprüft.

Ein Teil meiner Untersuchungsarbeit bestand aus einer Art Pendel­re­cher­che: Ich habe sowohl zu den russischen Anschuldigungen gegen Mag­nit­sky und Browder als auch den dagegen von Browder ins Feld geführten Argumenten und Dokumenten Stellungnahmen der jeweiligen Gegenseite eingeholt und analysiert. Dieses Verfahren, meine Informationsquellen und Schlussfolgerungen sind ausführlich dargestellt und zusammen­ge­fasst im Abschlussbericht zur Diskussion in der Sitzung vom Januar 2014 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Explanatory Report vom 18.11.2013 und addendum vom 27.1.2014, beides im Archiv auf meiner Homepage). Beide Berichte sind vom Rechtsausschuss des ER und dann vom Plenum der PV nach intensiven Debatten, an denen sich auch russische Duma-Kollegen beteiligt haben, schliesslich mit überwältigender Mehrheit angenommen worden; alles ist auch auf der offiziellen Webseite der PV nachzulesen (www.coe.int).

Vor einiger Zeit bat mich Herr Nekrassow um ein Interview, in dem er mir vor laufender Kamera unvorbereitet Detailfragen gestellt hat, die ich nach so langer Zeit nicht ohne weiteres unmittelbar beantworten konnte. Ins­be­sondere hat er mir ein Dokument in russischer Sprache vor die Nase ge­halten, das er als Vernehmungsprotokoll von Magnitsky bezeichnete – als Protokoll der Vernehmung vor der Staatsanwaltschaft, in der Mag­nit­sky, wie in meinem Bericht erwähnt, die auch von mir namentlich ge­nann­ten Polizisten der Beteiligung an dem von ihm mitaufgedeckten Straftaten beschuldigt hat. Nekrassow behauptete vor laufender Kamera, in diesem Protokoll seien keinerlei Anschuldigungen gegen die Polizisten enthalten, auch nicht in anderen Aussageprotokollen von Magnitsky.

Inzwischen konnte ich die Akten nachprüfen lassen. Tatsache ist, dass Magnitsky in den Vernehmungen vor der Staatsanwaltschaft im Juni 2008 und im Oktober 2008 (in der letzteren im Wege der Bezugnahme auf die Vernehmung im Juni) die Polizisten namentlich beschuldigt, an dem Diebstahl der von Browders Firma bezahlten Steuergelder in der Höhe von 230 Millionen Dollar beteiligt gewesen zu sein. Genau diese Polizisten veranlassten kurz darauf seine Verhaftung. Die von Nekras­sow auch in einem zweiten Interview mit meiner Kollegin Marieluise Beck wiederholte Vorhaltung dieses Dokuments in russischer Sprache war demnach nicht nur unfair, sondern schlicht unwahr – was Nekrassow wissen musste, wenn er, wie behauptet, den Fall ausführlich recherchiert hat.

Auf der nachweislich unwahren Behauptung, Magnitsky habe die Po­li­zis­ten gar nicht beschuldigt, die deswegen auch kein Motiv gehabt hätten, ihn zwecks Änderung der Aussage in der U-Haft wie beschrieben unter Druck zu setzen – mit dem bekannten tragischen Ausgang – basiert die gesamte These von Nekrassow, mit der er meinen Bericht zu widerlegen vorgibt. Wer die uns aus verschiedenen Quellen zugekommenen Do­ku­men­te kennt, merkt, dass Nekrassow manipuliert und Sergei Magnitsky ein weiteres Mal Unrecht antut. Umso besser, dass diese Manipulation nicht auf unseren öffentlich-rechtlichen TV-Programmen weiterverbreitet wurde.


Kontakt mit Andreas Gross



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