18. Dez. 2015

TagesWoche Basel

XXX. Demokratie-Kolumne

Demokratisierung als und zur Schubumkehr


Was der grosse weise indische Philosoph Amartya Sen zur Ge­rechtigkeit schrieb, gilt auch für die Demokratie: Prioritär ist heute nicht der Entwurf einer idealen Demokratie, sondern die Antworten auf die zwei Fragen, wie die Entdemokratisierung der gegenwär­ti­gen Welt aufgehalten und wie eine neue Demokratisierung unserer Lebensumstände eingeleitet und verwirklicht werden kann.

Das war auch die Motivation zum Versuch, das mehr als hundertteilige Mosaik der Demokratie darzustellen, das Gesamtkunstwerk Demokratie auf den, beziehungsweise die, Begriff(e) zu bringen. Mit diesem Ver­such durfte ich vor vierzehn Monaten in der TagesWoche (TaWo) be­ginnen. Was macht dieses Gesamtkunstwerk aus? Was gehört zur Demokratie? Welche dieser konstitutiven Elemente der Demokratie sind daran, uns verloren zu gehen? Welche werden derzeit auch, be­ziehungsweise gerade in der Schweiz schwächer? Wie können wir diese Erosionsprozesse aufhalten? Was müssen wir tun, um die Er­neuerung der schweizerischen Demokratie zu verwirklichen? Wo kön­nen wir ansetzen, um die Entdemokratisierung der Schweiz aufzu­hal­ten, eine Schubumkehr einzuleiten und auch in der Schweiz wieder mehr Demokratie zu wagen? Um so auch mehr dazu beitragen zu können, dass die Schweiz für mehr Menschen wieder zur Heimat werden kann.

Der neue Chefredaktor der TaWo möchte nicht, dass dieses Projekt in der TaWo fortgesetzt werden soll. Deshalb soll hier eine erste Zwi­schen­bilanz gezogen werden nach genau 29 von insgesamt über 100 geplanten Annäherungsversuchen an das, was heute unsere Demo­kra­tie ist, was sie einmal war und vor allem, was sie einmal werden könnte.

In den bisherigen 29 Beiträgen wurden mehrere Dutzend konstitutive Wesenselemente der Demokratie dargestellt: Vom institutionellen Set der Demokratie (Verfassung, Gesetz, Recht, Rechtstaatlichkeit, Wah­len, Volks- und BürgerInnen-Souveränität, Grundrechte, Freiheiten, Parlament, Regierung, Gericht), über die Verfahren und Wege der Partizipation (Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz, Gesetzes­ini­tiativen und -Referenden, Verfassungsinitiativen und -Referenden, Motionen, Bürgerjuries), die Werte der Demokratie (Würde, Menschen­rechte, Gleichheit, Gleichwertigkeit, Differenz, Selbstbestimmung, Machtteilung, Dezentralisierung, Begrenzung), die Mentalität (zuhören, reden, verständigen, lesen) und Formen (Protest, Zweifel, Revolte, Widerstand, Konflikt, Engagement) über die Ressourcen der Demo­kratie (Bürgerzeit, Empathie, Handlungsbereitschaft, Bildung, Orga­nisationsfähigkeit, Öffentlichkeit, Sicherheit, Macht, Staat, lernen) und die Ansprüche (Gleichheit, Selbst- und Mitbestimmung, Freiheit, Ge­rechtigkeit, Fairness, Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Min­der­heitenschutz, Schutz und Nachhaltigkeit der natürlichen Lebensgrund­la­gen), die Prinzipien (Dialog, Kommunikation, Diskussion, Deliberation, Gewaltenteilung, Inklusion, Transparenz), Leistungen (Legitimität, Integration, Freiheit, Identifikation) und Versprechen der Demokratie (Frieden, Gerechte Verteilung der Lebenschancen, Wahrnehmung und Entfaltung der individuellen Möglichkeiten, vernünftige Ordnung) bis hin zur Infrastruktur, welcher die Demokratie bedarf (Volksschule, politische Bildung, Parteien, Gewerkschaften und politische Vereine, Verbände, Medien, Internet, Geld) oder die Anti-Thesen der Demokratie (Willkür, Ohnmacht, Fremdbestimmung, Absolutheitsanspruch, Hunger, Lüge, Unterdrückung, Gewalt ) sowie die Grenzen der Demokratie (Minder­heitsschutz, Liebe, Rechte und Würde der Anderen).

Nicht alle diese Bausteine haben die gleiche Bedeutung für die Qualität der Demokratie. Sie reichen auch ungleich tief in die Gesellschaft. Und für die Qualität des Ganzen wäre auch der Kitt zwischen den Steinen genauer zu beurteilen; nämlich wie die Mosaiksteine miteinander ver­bunden sind und so erst wirklich wirken können. Und wie gesagt, viele Mosaiksteine – da stossen wir an die Grenze der Erklärungskapazität des Bildes Mosaik – sind in verschiedenartiger Bewegung, regressiv oder progressiv, weshalb die Demokratie immer ein Prozess ist und – ganz abgesehen vom anderswo fortzusetzenden Versuch in der TaWo – auch sachlich immer unvollendet bleiben wird.

Vier besondere Schwächen der schweizerischen Demokratie lassen sich in unserem zum Demokratie-Kaleidoskop weiter entwickelten und vielfach komplexen Mosaik jedoch bereits jetzt erkennen: Zu viele be­troffene Menschen werden ausgeschlossen; völlig ungleich verteilte Geldmittel delegitimieren die Demokratie und ihre Entscheidungen; ihre rechtstaatlichen Ansprüche werden missachtet und das primäre Ver­spre­chen jeder Demokratie in Europa kann somit aus strukturellen Gründen nicht mehr eingelöst werden.

Daraus folgen vier Prioritäten zur Schubumkehr und für neue Schritte zur Demokratisierung der schweizerischen Demokratie:

1.
Alle in der Schweiz geborenen Menschen werden Schweizer und be­kom­men nach ihrem 18. Altersjahr alle demokratischen Rechte.

2.
Womit die USA vor 100 Jahren begonnen haben und Frankreich vor 30 und was mittlerweile alle Staaten in Europa praktizieren, wird auch in der Schweiz eingeführt: Der Bund regelt den Umgang mit Geld in der Politik. Private Unternehmungen dürfen mit Geld keine Wahlen und Abstimmungen mehr beeinflussen. Jede Person darf für Wahlen und Abstimmungen pro Jahr höchstens 5000 Franken ausgeben. Dafür unterstützt der Bund Parteien, Initiativ- und Referendumskomitees mit einem jährlich festzulegenden Betrag von beispielsweise 50 Millionen Franken.

3.
Die verfassungsgerichtlichen Kompetenzen des Bundesgerichtes wer­den leicht erweitert: Künftig beurteilt das Bundesgericht die Gültigkeit von eidgenössischen Volksinitiativen. Zu den Gültigkeitserfordernissen gehören dann auch die Achtung schweizerischer Verfassungs­grund­sätze sowie die Europäische Menschenrechtskonvention.

4.
Die Demokratie muss transnational erweitert und transnational verfasst werden, damit sie ihre substanziellen materiellen Ansprüche wieder einlösen kann. Deshalb wandelt sich die EU in einen demokratisch verfassten, föderalistischen europäischen Bundestaat und die Schweiz wird dessen Mitglied. Dieser Wandel wäre die schärfste Medizin gegen alle gegenwärtig wieder so erstarkenden Nationalismen in Europa.


Kontakt mit Andreas Gross



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