6. Nov. 2015

TagesWoche, Basel

XXVII. Demokratie-Kolumne

Vom Recycling des Entsorgten


Wo immer wir uns umhören, wohin wir auch blicken, der Demokra­tie geht es schlecht. In Polen und in der Schweiz scheint sie von der Angst besetzt zu werden, in der Türkei erodiert sie zugunsten einer autoritären Autokratie, nach den portugiesischen Wahlen war gar von ihrer «Entsorgung» die Rede. Nur wenige scheint es zu beschäftigen, was derzeit der Demokratie passiert, weshalb sie uns langsam aber sicher abhanden zu kommen scheint.

Zu diesen wenigen, die sich seit 35 Jahren mit den Erfahrungen mit der Demokratie in Europa befassen, gehört der französische Historiker und Politikwissenschaftler Pierre Rosanvallon (67). Letzten Samstag wurde er für sein umfangreiches Werk von der Uni Neuenburg zum Ehren­dok­tor erkoren. Sein Werk besteht u.a. aus der Trilogie mit den bezeich­nen­den Titeln «Das Heil des Bürgers» (1992), «Das unauffindbare Volk» (1998) und «Die unvollendete Demokratie» (2000). Seine Grund­satzthese, die sein ganzes Werk prägt und die er derzeit in Süd- und Nordamerika auf einer Vortragstournee einmal mehr begründet, lautet in den Worten des Korrespondenten der welschen Tageszeitung Le Temps, Richard Wehrly: «In einem System zu leben, das sich Demo­kra­tie nennt, heisst noch nicht, demokratisch regiert zu werden» (LT, 29.10.2015).

Wobei Rosanvallon auf Wehrlys Bemerkung, nach der Lektüre seines neuesten Buches («Die gute Regierung») könne man eigentlich gar nicht anders, als über den Zustand unserer Demokratien schwer be­un­ruhigt zu sein, präzisierte: «Die Geschichte der Demokratie ist diejenige einer permanenten Krise und von stets frustrierten, enttäuschten Bürgerinnen und Bürgern.»

Schon 2007 hatte Rosanvallon in einem Gespräch im Anschluss seine Publikation mit dem Untertitel «Die Politik im Zeitalter des Misstrauens» auf eine andere Frage die gleiche Antwort gegeben, diese aber be­grün­det und vertieft. Er meinte: «Die Demokratie ist deswegen gleichsam in einer permanenten Krise, weil sie gleichzeitig eine Utopie und ein po­li­ti­sches Projekt ist. Ihre Geschichte ist deshalb nicht zu trennen von ei­nem ständigen Prozess, sich um die Demokratie zu bemühen, mit ihr zu experimentieren - und dabei ständig enttäuscht zu werden.»

Diese Enttäuschungen seien, so erklärt Rosanvallon, die Folge des nicht eingelösten Versprechens der Demokratie, das Allgemein­in­te­res­se, das Interesse aller, den Gemeinsinn, zu verwirklichen. Dies sei wiederum die Konsequenz von zwei Entgleisungen der Demokratie: «Einerseits die Konfiskation der Demokratie durch die Mechanismen der Oligarchie; andererseits deren Auflösung in einer Form der populistischen Macht.»

Die Konfiskation der Demokratie durch das Geld der Reichen brachte der New Yorker Professor Burt Neuborne in seinem neuen Buch zur angemessenen Auslegung des ersten Zusatzes zur amerikanischen Verfassung* folgendermassen auf den Punkt: «Die Super-Reichen bestimmen die nationale politische Tagesordnung, wählen die Kan­di­da­ten für Parlament und Präsidentschaft aus, finanzieren deren Kam­pag­nen ... und geniessen dann nach den Wahlen das Privileg, mit ihren Anliegen jederzeit im Parlament oder der Verwaltung Gehör zu finden; der Rest von uns schlägt sich zwischen den von den Superreichen Auserwählten irgendwie durch.»

Zum Wesen des Populismus erklärte Rosanvallon schon vor vier Jahren in einem Text für Le Monde**, wir dürften ihn nicht auf seine Form der Demagogie und auf die schrecklichen Simplifikationen re­duzieren. Vielmehr sei er eine Verknüpfung der Ernüchterung gegen­über allem Politischen – eine Folge der schlechten Vertretungen in Regierung und Verwaltung – und einer totalen gesellschaftlichen Verwirrung in der Folge aller ungelösten sozialen Probleme, beides wiederum verbunden mit dem allgemeinen Gefühl der absoluten Ohnmacht und der scheinbaren Alternativlosigkeit.

Der Zürcher Historiker Jakob Tanner nannte vergangene Woche in der Zeit noch die dritte Dimension zur Begründung der Erosion der Demo­kra­tie, welche von US-amerikanischen und französischen Sozial­wis­sen­schaftlern auffallend vernachlässigt und unterschätzt wird: Die Ent­mach­tung der Demokratie als Folge der Relativierung der Autonomie und Gestaltungsmacht des Nationalstaates in einer globalisierten Wirt­schaft. Tanner: «Wichtig ist weiter, dass die Schweiz in einem harten Standortwettbewerb steht. Das hängt mit der Organisation der Welt­wirtschaft zusammen: mit einer nochmals gesteigerten Kapital­mo­bi­li­tät, mit zunehmender weltweiter Ungleichheit, mit steigender Staatsver­schul­dung und der Suche nach sicheren, rentablen Anlagemög­lich­kei­ten. Das alles gibt Grossunternehmen und Finanzmärkten eine enorme Entzugsmacht gegenüber dem Nationalstaat, die demokratisch nicht legitimiert ist.»

Die Konsequenz: Die Demokratie retten heisst sie transnational neu zu verfassen. So dass der Willen der Menschen wieder die Macht erhält, der Wirtschaft neue Rahmenbedingungen zu setzen, in denen die so­zialen Probleme gelöst und nicht einfach bewirtschaftet werden können. Nur so können wir wieder das Gemeinwohl ins Zentrum der Demokratie stellen, was die Menschen wieder zu sich finden liesse und ihre Ent­frem­dung voneinander überwinden könnte.

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*   Burt Neuborne, Madison’s Music, On Reading the First Amendment, New Press, 2015, be­sprochen von David Cole, «Free speech, big money, bad elections», in New York Review of Books, 5. November 2015, S.24.

**   http://www.laviedesidees.fr/Penser-le-populisme.html



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Andreas Gross



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