9. Okt. 2015
TagesWoche, Basel
XXV. Demokratie-Kolumne
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Das Programm zur Sanierung der Demokratie
Nationale Wahlen in der deutschsprachigen Schweiz scheinen von einer weltweit einzigartigen Krankheit befallen zu sein: Je schwerwiegender und umstrittener ein politisches Problem ist, desto weniger wird es vor den Wahlen öffentlich thematisiert und kontrovers diskutiert. Obwohl nichts so viel zur Meinungsbildung beitragen und zur Wahl motivieren kann wie gute Diskussionen.
Diese eigenartige Entpolitisierung der Wahl in die Bundesversammlung, immerhin ein Kerngeschäft in jeder Demokratie, würde in einer Tour de Suisse bedeuten, dass die Rennfahrer vom Rennvelo steigen, nur weil ihnen ein speziell steiler Berg bevorsteht. Schliesslich faszinieren die Duelle am Berg auch mehr als die öde Pedalerei des ganzen Feldes in den Ebenen. Doch wie vor der Wahl die Kandidaten wären es vor dem Berg nicht die Fahrer, welche sich der Anstrengung verweigern. Vielmehr scheinen einige der Rennteams, sprich Parteien, ihr Interesse daran verloren zu haben. Oder fürchten sie sich vor dem Streit, weil sie Angst haben, dass ihnen argumentativ der Schnauf ausgehen könnte?
Zudem ist die Strasse, welche den Berg hinaufführt, voller Löcher. Der Asphalt ist aufgerissen, teilweise weich von der Sonneneinstrahlung, schlicht unbefahrbar. Der Veranstalter hat also ein Rennen auf einer Strecke versprochen, die gar nicht befahren werden kann. Er hat zu viel versprochen, die Voraussetzungen fehlen. Auf die Wahlen übertragen hiesse dies, es fehlt die politische Öffentlichkeit, in der gefahren, beziehungsweise diskutiert, gestritten, um ein Thema gerungen werden kann. Natürlich nicht gänzlich. Doch vor allem in der deutschen Schweiz scheinen die wichtigen Medien – Fernsehen, Radio, grosse Zeitungen - höchstens noch – um beim Vergleichsbild zu bleiben – bereit zu sein, Einzelzeitfahren zu zeigen oder noch lieber Homestories der Fahrer, wie sie ihren Jungen zur Schule bringen, was sie kochen, was sie von der Politik halten.
Streitgespräche zwischen vier, fünf Sachverständigen der verschiedenen Parteien jeweils zu einem der wichtigen Themen – Europa, AHV, Krankenversicherung, Verkehrspolitik, Energiewende, Lohngleichheit, Siedlungspolitik, Bildung, Service Public – einmal pro Woche, wöchentlich nach den Sommerferien, zusammen mit Belegen über das Schicksal entsprechender Vorlagen in der letzten Legislatur ergänzt mit dem Stimmverhalten der verschiedenen Fraktionen, nada, Fehlanzeige, nicht mehr zu finden, nicht mehr zu lesen, nicht mehr zu hören. Auch berichten die Zeitungen nicht mehr von entsprechenden, von anderen als von ihnen selbst organisierten Debatten und kommentieren, das heisst erweitern dann auch nicht mehr die Argumente, das wäre zu aufwendig, anstrengend eben, aber ohne Arbeit gibt es auch keine Orientierung; Durchblick und Verständnis sind nicht so ohne weiteres auf dem Sofa zu finden.
Ein zentrales Thema, das alle angeht und das uns abhanden zu kommen scheint, fehlt auch dort, wo zumindest die Parteien noch versuchen, thematische Schwerpunkte zu setzen und programmatisch zu entwickeln: Die Demokratie. Auch hier scheint das Paradox zu gelten: Je schlimmer es um ein Thema steht, desto weniger kommt es vor den Wahlen zur Sprache. Obwohl allen klar ist, dass die Thematisierung zuvor die Voraussetzung – nicht die Garantie! - dafür ist, dass wir uns danach auch darum kümmern.
Deshalb sei hier das Sanierungsprogramm für unsere erodierende Demokratie nachgeliefert. 10 Aufträge an die Liebhaber des Gesamtkunstwerks. Und als Vorschlag, wie dessen einzelne schwach, dünn und sehr fragil gewordenen Mosaikteile saniert und restauriert und um solche ergänzt werden könnten, welche das ganze Werk, immerhin die Grundlage unserer Freiheit und die Bedingung für weniger Unrecht und Ungerechtigkeit, wieder erstrahlen lassen würden:
➲ Die Demokratie muss inklusiver werden. Es darf nicht sein, dass fast ein Drittel derjenigen, die von den Entscheiden betroffen sind, vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen werden. Drei Jahre, nach dem sie sich in der Schweiz niedergelassen haben, dürfen auch Menschen ohne Schweizer Pass an den National- und Ständeratswahlen teilnehmen.
➲ Auf Bundesebene ist das Initiativrecht zu grob. Es steht uns nur die grosse Kiste der Verfassungsinitiative zur Verfügung. Wie in den Kantonen benötigen wir die Gesetzesinitiative. Und angesichts der zunehmenden Bedeutung der Welt und Europa und der dortigen vorläufigen Dominanz der Regierungen benötigen wir ein Euroinitiativrecht, mit dem der Bundesrat entsprechende Aufträge erteilt werden kann.
➲ Die schweizerische Demokratie muss vom Geld befreit werden. Wer Geld in die Politik wirft, muss sagen, woher es kommt.
➲ Der politische Wettbewerb muss fairer werden. Die Werbebudgets vor Wahlen und Abstimmungen dürfen nicht zu ungleich sein. Es braucht einen Ausgleichsmechanismus.
➲ Die Demokratie darf nicht länger gegen die Menschenrechte ausgespielt werden. Es braucht in der Verfassung einen Schutz der Menschenrechte. Die Mehrheit darf nicht länger über Grundrechte von Minderheiten abstimmen können.
➲ Demokratie will auch gelernt sein. Demokraten fallen nicht vom Himmel. Wir müssen die politische Bildung stärken. Für jeden Franken, den die Gemeinden und Kantone dafür ausgeben, zahlt ihnen der Bund 90 Rappen zurück.
➲ Die politische Öffentlichkeit muss restauriert werden, der Service Publik ist zu erweitern. Aus dem Topf, den wir heute in Form der Radio- und TV-Gebühren füllen, müssen künftig auch Qualitätszeitungen unterstützt werden entsprechend der Seiten, welche sie für Meinungsbildung und Diskussionen bereitstellen.
➲ Demokratie ist keine Sache des Wochenendes oder des Feierabends. Sie muss auch hinter den Bürotüren und Werktoren Einzug nehmen. In Unternehmen sollten die Arbeitenden auch Betriebsräte wählen dürfen, die ihre Interessen vertreten und bei Investitionen mitreden dürfen.
➲ Die Demokratie braucht Europa wie die EU die Demokratie. Wir müssen die Demokratie in einer europäischen föderalistischen Bundesverfassung europäisieren und transnationalisieren.
➲ Die Globalisierung der Wirtschaft ruft nach der Globalisierung der Demokratie. Anders kann der Markt und das Kapital nicht zivilisiert werden. Dazu brauchen wir die Globalisierung des Strassburger-Modells mit einer Globalen Menschenrechtskonvention (GMRK), welche jedem Menschen angesichts jeglicher Macht Rechte verschafft, die er oder sie im Notfall vor einem Weltgerichtshof einklagen kann.
Kontakt mit Andreas Gross
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