18. Sept. 2015
Tageswoche
XXIV. Demokratie-Kolumne
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Was nicht ist, noch nie war - aber noch werden könnte
Die Demokratie ist viel mehr als eine Staats- oder Regierungsform. Ihr Gesamtkunstwerk sollte die wichtigsten Lebensbereiche aller Menschen prägen. Denn sie ist eine Lebensform, die sich nur entwickeln kann, wenn alle Orte des Lebens dazu beitragen. In den vergangenen Tagen erinnerten daran zwei Kunstschaffende, von denen dies nicht viele erwartet haben dürften.
Ob dem ins Sundgau verliebten, aus dem Aargau vor 57 Jahren zugewanderten Kommissär Peter Hunkeler von Basels Mittlerer Strasse der spanische Architekt und «Baukünstler mit Schweizer Pass» (Tages-Anzeiger vom 12.9.2015), Santiago Calatrava, ein Begriff ist, scheint mir nirgends verbürgt zu sein. Doch da auch auf dem Todtnauberg einschlägige Zeitungen erhältlich sind und Hunkelers Schöpfer Hansjörg Schneider (TW 26.8.2015) ein grosser Zeitungsleser ist, dürfen wir davon ausgehen, dass Hunkeler Calatrava nicht nur kennt sondern sogar schätzt.
Wie viele dürfte Hunkeler bei seinem Blick von der Rheinschanze flussaufwärts sogar immer noch bedauern, dass 1990 53 % der damals stimmenden Baslerinnen und Basler Calatravas Entwurf einer sehr eleganten Brücke auf den «Basler Friedhof der Visionen» (Baz-online 12.2.2012) verbannten und der «unechten Zukunft» (Ernst Bloch), der Verlängerung der gewöhnlichen Gegenwart, gegenüber der leichten, Herz und Geist beschwingenden Alternative den Vorzug gaben.
Calatrava unterstreicht nun in einem seiner seltenen Interviews, wie sehr er - trotz der im Zürcher Blatt nicht erinnerten Basler Enttäuschung - die Demokratie schätzt. Er sagt sogar: «Meine Gebäude zelebrieren die Demokratie». Wiederum unterlässt es der Interviewer nachzufragen, wie es denn um Calatravas ausgesprochen schwungvolle, filigrane Brückenbauten stehe. Sie verbinden doch zwei vermeintlich getrennte Ufer ähnlich wie die demokratische Auseinandersetzung zwei Ansichten zusammenführt, die ohne Streit fruchtlos voneinander getrennt blieben.
Santiago Calatrava geht noch weiter und meint ganz generell: «Baukunst ist eine demokratische Kunst». Dabei gelingt ihm ein Beispiel, das uns wiederum erlaubt, festzustellen, welche Baukünstler diesem Anspruch nicht genügen. Calatrava: «Jemand steht in einem Bahnhof, hat zwölf Stunden gearbeitet und muss pendeln. In den zehn Minuten, die er wartet, sagt ihm die Architektur: Du bist wichtig, das hier ist für dich.» (TA 12.9.2015)
Als einer, der schon viele Minuten seines Lebens wartend in Calatravas Zürcher Stadelhofen-Bahnhof verbrachte und vor einigen Monaten Calatravas mächtigen neuen Bahnhofbau in Lüttich bestaunen durfte, kann ich nur bestätigen: Die Message kommt an. Der Mensch wird durch die Architektur angesprochen; sie bringt ihm Respekt entgegen, erhebt ihn über das profane Dasein hinaus. Sie macht ihn nicht klein; erniedrigt ihn nicht, wie jenen, der den Mailänder Hauptbahnhof betritt, für mich das Sinnbild faschistischer Architektur.
Mit seinem Bekenntnis zur Demokratie stellt sich der Baukünstler Calatrava in die leider von zu vielen vergessene Tradition des Rheinländer Philosophen Ernst Bloch (1885-1977). Dieser hatte in seinem erzwungenen US-Exil während der 1930er und 40er Jahre die «Seelenlosigkeit» vieler Werke von weniger kunstsinnigen Architekten beklagt und die Baukunst als «Produktionsversuch menschlicher Heimat» verstanden. Heimat nicht im reaktionär nostalgischen Sinn, sondern so wie es Bloch unnachahmlich zum Schluss seines grossen Werkes Das Prinzip Hoffnung (geschrieben ebenfalls während des US-Aufenthaltes 1938 bis 1947) formuliert hat: «Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das seine ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.»
In dieser Heimat würde sich auch der rastlose Kommissär Hunkeler wohler fühlen. Denn ihm geht es durchaus um das, was Bloch unter der «realen Demokratie» versteht; also keine absolute (TW Mosaik vom 11.9.) mit der Allmacht weniger, sondern eine, in der der Mensch immer und überall Demokrat sein und Demokratie leben kann. In seinem neuen Fall, Hunkelers Geheimnis (Diogenes-Verlag, August 2015) wird Hansjörg Schneider an zwei Orten diesbezüglich sehr deutlich. Einmal in einer Betrachtung über Basel als «durch und durch urbane Stadt ohne Hinterland»; deshalb eben doch wie ein Dorf funktionierend. Dort heisst es dann so nebenbei aber deutlich: «Dabei hat Rot-Grün eine Mehrheit in dieser Stadt und hätte die Macht, zu regieren. Aber sie regieren nicht, sie verwalten bloss.»
Etwas später lässt Hansjörg Schneider sogar «abdanken», was so gar nie war - folglich auch nicht abdanken kann. «Basels Politik sei ein Witz» lässt er einen Beobachter sagen. Denn: «Die wichtigen Fragen werden von der chemischen Industrie entschieden, weil die alles bezahlt. Die Demokratie hat abgedankt, weil es in der Industrie keine Demokratie gibt.»
In Blochs «realer Demokratie» gäbe es auch in der Industrie, wie überall, wo Menschen arbeiten, Demokratie. Die Menschen wären nicht zur Schizophrenie verdammt, werktags fehlende Demokratie akzeptieren und wochenendlich dennoch ordentliche Demokraten sein zu sollen. Als ob einer dies auf die Dauer aushalten könnte. Weder dem Mensch noch der Demokratie kann dies gut tun.
Doch diese reale Demokratie muss erst noch werden; es gab sie noch nie. Die politische, unvollendete Demokratie ist nur wenig älter als Basels chemische Industrie. Sollte also politisch auch die unfertige Demokratie nicht existieren können, so lange sie nicht auch in der Chemischen zu Hause ist, dann hätte Basel noch gar nie eine Demokratie gehabt. Rot-grüne Mehrheiten hin oder her.
Präziser und auch konstruktiver wäre die Frage, wie wir aus der halben, wochenendlichen oder feierabendlichen Demokratie zu einer vollständigeren kommen könnten. Reichen dazu traditionelle Mitbestimmungsrechte, Betriebsräte und Gesamtarbeitsverträge aus? Oder braucht es auch die Mitbestimmung über die Verwendung dessen, was aus den Erträgen weder für Löhne oder neue Investitionen ausgegeben wird? Müssten die Erzeugerinnen und Erzeuger des Ertrags nicht mitreden können in einer realeren Demokratie?
Der Bau solcher Brücken zu neuen Mosaiken der Demokratie steht uns erst bevor. Ihr Abbruch könnte erst passieren, wenn diese Versuche scheitern. Beginnen wir aber mit dem Ende statt mit dem Anfang, unterlassen wir auch den Versuch. Und wären dann tatsächlich gescheitert, bevor wir hätten erkennen können, dass es durchaus auch gelingen könnte.
Kontakt mit Andreas Gross
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