21. Aug. 2015

TagesWoche

XXII. Demokratie-Kolumne

Eine schlichte Wahrheit


Einige Menschen dürfen für sich beanspruchen, theoretisch und praktisch wesentliche Mosaiksteinchen im Gesamtkunstwerk der Demokratie geformt und gesetzt zu haben. Der aus England stam­mende Amerikaner Tom Paine (1737 - 1809) war so einer. Und Paine war einer der ganz wenigen, die nicht nur in der amerika­ni­schen, sondern auch in der französischen Revolution engagiert waren.

Als Tom Paine Ende November 1774 nach einer mühsamen acht­wö­chi­gen Überfahrt von London in Philadelphia an Land gebracht wurde, war er schon 37 Jahre alt und hatte in England so etwas wie eine ge­schei­ter­te Existenz hinter sich gelassen. Ob als Seilmacher, Journalist, Lehrer, Zoll- und Steuerbeamter, Tabakhändler oder Ehemann, nichts war ihm während der 24 Jahre nach seinem Schulabgang in England gelungen. Und wie manch anderen Auswanderern war auch für ihn klar, dass die Monarchie im Allgemeinen und der korrupte englische Land­adel im Besonderen massgeblich schuld waren an seinen existen­ziel­len Schwierigkeiten. Angeregt zu und überzeugt von der Auswanderung hatte ihn in London Benjamin Franklin, einer der einflussreichsten Männer Neuenglands und einer dessen ersten Diplomaten. An einer von Franklins Zeitungen, dem neuen Pennsylvania Magazine, wurde Paine als Redaktor engagiert. Das sollte sich als ein grüner Zweig in der Neuen Welt erweisen.

Politisch braute sich in den 13 britischen Kolonien Nordamerikas im Winter 1774/75 ein Sturm zusammen. Der neue König George III reorganisierte sein Imperium; den Kolonien wurden ihre Verwaltungs- und Verteidigungskosten aufgebürdet, den Assemblies der Kolo­nia­lis­ten wurden aber Selbstverwaltungsbefugnisse entzogen, deren Freiheiten abgebaut und neue Zölle auf Einfuhren aus Drittstaaten erhoben. Fazit in den Augen von Paines grossem Biografen, dem in London lehrenden Australier John Keane: «Was man in London für vernünftig hielt, betrachtete man in Philadelphia als skandalös. Dort wurde die politische Saat der Revolution gesät.»*

Im Lauf des Jahres 1775 kam es zu ersten gewaltsamen Zusammen­stös­sen zwischen britischen Soldaten und Milizionären der Kolonia­lis­ten. Deren Loyalität zur britischen Krone begann zu erodieren. Im Herbst wurde Paine von einem befreundeten Arzt ermutigt, ein Pamphlet zu verfassen, welche den mehrheitlich verunsicherten, zögerlichen Amerikanern eine klare Perspektive eröffnen würde. Er liess sich nicht zweimal bitten. Innert weniger Wochen verfasste Tom Paine eine Streitschrift, welche die Welt verändern sollte. Seine ursprüngliche Titelidee war «Schlichte Wahrheit»; auf Anraten des Arztes entschieden sie sich in Anlehnung an die moderne schottische Philosophie der Aufklärung zum Titel «Common sense»; so nannten sie Prinzipien, denen sich kein Mensch mit gesundem Menschenverstand verschliessen könne.

Paine nahm zu Beginn seines Pamphlets die Monarchie auseinander, die britische wie jede andere: «Monarchen sind stets Despoten und Monarchien immer despotisch». «Die Monarchie basiert auf der Ignoranz, nicht der Weisheit, denn der Status eines Königs isoliert ihn von der Welt», wo doch das Regieren eine gründliche Kenntnis der Gesellschaft voraussetze. Paines revolutionäre Schlussfolgerung: «Ein aufrechter Mensch ist für die Gesellschaft und in den Augen Gottes wertvoller als all die gekrönten Schurken, die jemals gelebt haben». Sprich: Wir können uns selber regieren, wir brauchen dazu keine Könige.

Paine trennte als erster konzeptionell den Staat, beziehungsweise die Regierung, von der Gesellschaft und forderte die Menschen auf, ihre Sache in die eigenen Hände zu nehmen statt immer den Politikern nachzulaufen. «Die Macht der Obrigkeit muss eingeschränkt werden zugunsten der Gesellschaft, zu der sich die von Gott alle als gleich­wer­tig geschaffenen Individuen zusammenfinden.» Und: «Die Gesellschaft ist ein Segen für jeden Staat!» Wobei Paine im Unterschied zu Rous­seau durchaus davon ausging, dass die «Menschen nicht immer ihrem Gewissen und dem Gemeinschaftsgeist» folgten und eine von ihnen gewählte Regierung deshalb notwendig sei. Deren Funktion sei es, «die Freiheit der Bürger zu sichern».

Schliesslich: Jetzt sei die Gründerzeit für eine Kontinentale Union gekommen, die Menschen auf dem ganzen Kontinent müssten sich zusammen finden. Und diesen Aufruf verband Tom Paine mit der Idee, dass jeder Mensch das unveräusserliche Recht habe, selber zu ent­scheiden, wie er leben und vom wem er regiert werden möchte. So könne Amerika zur ersten Enklave der republikanischen Freiheit werden, schrieb Paine, weshalb es die Sache aller freiheitsliebenden Menschen der ganzen Welt in sich trage. Sie alle würden bewundern, wie die Amerikaner sich jetzt nicht nur den Tyrannen widersetzen, sondern der Tyrannei überhaupt ein Ende machen wollen. Paines Appell: «Bereiten wir rechtzeitig ein Asyl vor für alle, die nach Freiheit dürsten und vor Unterdrückung fliehen.»

Tom Paines 50seitiger Common sensey wurde gelesen, wie bisher kein ein anderer politischer Text seit der Erfindung des Buchdrucks. In den ersten vier Monaten des Jahres 1776 wurden unter den nicht ganz 3 Millionen Bewohnern der 13 Kolonien 150'000 Exemplare verkauft – heute entspräche dies einer Auflage von 35 Millionen Stück!

Der Setzer liebt Statistiken und kommt auf 4.79 Millionen Exemplare. Die damaligen 13 Ko­lonien entsprechen heute 16 Bundesstaaten mit aktuell 95.82 Mio. Einwohnern. Hoch­ge­rech­net auf die heutigen Vereinigten Staaten wäre die entsprechende Auflage 15.86 Millionen. Gehen wir von der damaligen Gesamtauflage von über 500‘000 Exemplaren aus, lauteten die entsprechenden Zahlen für die 13 Kolonien 16.57 Mio., für die USA sogar 70.74 Mio. Wir reden hier von höchst eindrücklichen Zahlen: In der Schweiz müsste ein Buch heute innert vier Mo­na­ten 413‘000 bzw. in der Gesamtauflage 1‘841‘000 mal über den Ladentisch gehen, wollte es den gleichen Erfolg erzielen. Vergleicht man dann noch die damaligen Vertriebsmöglichkeiten mit den heutigen und bedenkt man, dass eine gedruckte Schrift damals im Verhältnis zum frei verfügbaren Vermögen für die Menschen enorm viel teurer war, werden die Zahlen umso beeindruckender. (Fredi Krebs)

Damit war ein Bann gebrochen. Die Amerikaner hatten verstanden. Keane: «Ein ganzes Land war in Aufruhr. Die grosse Mehrheit hatte sich entschieden.» Im Juli 1776 erklärte der zweite Kongress die Un­abhängigkeit der USA von England. General Washingtons Mili­zio­näre wussten nun, worum es ging. Washington sorgte dafür, dass aus Paines zweitem Büchlein, das Ende 1776 unter dem Titel Die ameri­ka­nische Krise erschien, den Soldaten zur Ermutigung immer wieder vorgelesen wurde. Er sagte später, Paines Schriften hätten für den Erfolg der Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg mehr bedeutet als Hunderttausend Kanonen und Hunderte von Schiffen.

Tom Paine wurde erst Kriegskorrespondent, später wieder Redaktor und – als Universal-Gelehrter wie sein grosser Freund Franklin – Brückenbauer, spezialisiert auf kühne Eisenkonstruktionen. Als solcher war er auf Besuch in England, als ihn aus Paris die Kunde vom Sturm auf die Bastille erreichte. Dort wählten ihn die Revolutionäre, ihrerseits über Common sense bestens informiert, gleich zum Ehrenbürger und Abgeordneten. Im revolutionären Paris verfasste Paine 1791 sein drittes wichtige Büchlein Die Rechte des Menschen, von dem eine Million Exemplare verkauft wurden.

Kernaussage: «In einer Demokratie muss der Grund für alles öffentlich deutlich werden. Der Bürger ist ein Teilhaber der Regierung und er­ach­tet es als eine seiner Aufgaben, deren öffentliche Angelegenheiten zu verstehen.»

Dieses Bürgerrechts-Manifest verschaffte ihm die Wahl in die franzö­si­sche Nationalversammlung durch die Bürger von Pas de Calais sowie, im September 1792, in das neunköpfige Verfassungskomitee. Dort erarbeitete er neben Condorcet, Sieyes und Danton bis zum Februar 1793 den ersten Verfassungsentwurf der Welt mit den Volksrechten Referendum und Initiative (Gironde-Entwurf).

Als Gegner Robespierres überlebte Paine dessen Terrorregime nur mit viel Glück. 1794 publizierte Paine schliesslich mit dem Zeitalter der Vernunft seinen vierten grossen Text. In dessen Zentrum steht Paines besondere Beziehung zu Gott und der Religion. Ein portugiesischer Medizinstudent, der sich unter den schottischen Aufklärern auskannte, verteidigte Paines umstrittenste Schrift und schloss mit den Worten: «In katholischen Ländern sind alle, die zu denken wagen Ketzer. Unter Protestanten hält man sie sofort für Atheisten.»

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* John Keane: Tom Paine, a political life. Bloomsbury Verlag, London, 1995, 644 Seiten. Deutsch: Thomas Paine, ein Leben für die Men­schen­rechte. Claassen Verlag, Hildesheim, 1998, 543 Seiten.




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