17. Juli 2015

Tages-Woche, Basel

IXX. Demokratie-Kolumne

Quantitativ gibt es in der Schweiz keine Probleme mit der Direkten Demokratie


Jetzt lässt es sich auch mit Zahlen belegen. Es gibt in der Schweiz nicht zu viele Volksinitiativen. Das Problem der schweizerischen Direkten Demokratie ist nicht quantitativer, sondern qualitativer Art.

Das Reden von der Initiativenflut gehört in Bundesbern zum guten Ton. Es hat sich gleichsam eingebürgert in den vergangenen Jahren. Das Parlament werde überschwemmt von Volksinitiativen heisst es, die Parteien würden sie missbrauchen, Bundesrat und Parlament blieben keine Zeit mehr für Wesentlicheres. Und wer so redet, der weiss auch gleich, was zu tun ist: Das Unterschriftensammeln erschweren, die notwendigen Unterschriftenzahlen erhöhen, das verbindliche Initia­tiv­recht zu einem unverbindlichen Antragsrecht kastrieren – kurzum die Einflussmöglichkeiten engagierter Bürgerinnen und Bürger zurück­bin­den, und dadurch die repräsentative Autonomie des Bundeshauses stärken.

Solche Momente sind nicht neu. Bereits Mitte der 1930er Jahre meinte der Bundesrat, es gäbe zu viele Volksinitiativen; 1933 waren inmitten der grössten Wirtschaftskrise erstmals sechs statt wie seit 1891 jährlich maximal bloss drei Volksinitiativen lanciert worden. Anfangs der 1970er Jahre – die 68er hatten die Volksrechte entdeckt und begannen sie für die Modernisierung der Gesellschaft, für den ökologischen Umbau und die Gleichberechtigung der Frauen zu nutzen – waren es durch­schnitt­lich sechs pro Jahr und wieder prägte man, diesmal Bundesrat Kurt Furgler, einen Abbau-Begriff: Er sprach von der Notwendigkeit, die Demokratie zu „verwesentlichen“. Als ob es nicht zur Freiheit und zur Demokratie gehört, Unterschiedliches als wesentlich zu empfinden und auf die öffentliche, politische Tagesordnung stellen zu wollen. Furglers Antrag, die für Volksinitiativen und Referenden notwendigen Unter­schrif­ten­zahlen zu verdoppeln, hatte freilich damals auch eine objektive Basis: Mit der Einführung des Frauenstimmrechtes hatte sich die Zahl der Stimmberechtigten etwas mehr als verdoppelt. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger stimmte 1977 Bundesrat Furglers Vorschlag zu.

Doch nach einem kurzen Einbruch wurden aus den initiativen Spitzen­wer­ten der 1970er Jahre die Durchschnittszahlen der 1980er und 1990er Jahre: Fast zehn Volksinitiativen wurden nun jährlich lanciert. Und es war Bundesrat Koller, der sich von diesen Zahlen blenden liess und sie zum Anlass nahm, zu versuchen, die Mitbestimmungsmög­lich­kei­ten an sich zu schmälern. Glücklicherweise scheiterte er damit aber schon im Parlament.

Koller machte den gleichen Doppel-Fehler wie jetzt wieder all jene, die von einer Flut reden und glauben, mit der Axt durch das Unterholz der Direkten Demokratie hauen zu müssen: Die Zahl der Volksinitiativen ist nicht biologischer Natur, sondern Ausdruck der von einigen Bür­gerIn­nen als ungelöst erachteten gesellschaftlichen Nöte und Probleme, der politischen Schwierigkeiten, Kompromisse zu finden, welche aus­rei­chend befriedigen, sowie des gesellschaftlichen Bedarfs an Reformen und neuen Perspektiven, welche im Umfeld des Bundeshaus zu wenig zur Sprache kommen und deshalb von aussen eingespeist werden müssen in den politischen Betrieb.

Zweitens wird übersehen, dass im Unterschied zu den ersten 90 Jahren der Geschichte der Direkten Demokratie heute viel mehr der lancierten Volksinitiativen auch an der Unterschriftensammel-Hürde scheitern und Bundesrat sowie das Parlament gar nie beschäftigen. Seit den 1960er Jahren wagen sich viel mehr Einzelpersonen und Bürgergruppen, die sich ausschliesslich wegen und für ihre Sache zusammenfinden, an eine Volksinitiative – in den vergangenen 15 Jahren auch beflügelt durch Vollerfolge, die einige unter ihnen erleben durften. Beide unter­schätzen aber immer noch oft die organisatorischen und kommuni­ka­ti­ven Probleme, die es dabei zu meistern gilt, bereiten sich zu wenig umsichtig vor, wollen zu schnell lancieren und scheitern dann an der eben trotz aller neuen elektronischen und digitalen Mittel nicht zu unterschätzenden Hürde, innert 18 Monaten 100'000 gültige Unterschriften zu sammeln.

Zwar sind Ende der 2000er Jahre in einem Jahr tatsächlich wieder wie 1999 mit 20 fast doppelt so viele Volksinitiativen eingereicht worden wie dies normalerweise in einem Jahr der Fall ist, doch waren es in den vergangenen 12 Jahren (2003-2015) insgesamt nicht mehr als in den drei Legislaturperioden zuvor (1991-2003). Vor allem sind 2013 und 2014 mit je zehn lancierten Volksinitiativen aber auch noch nie so viele jährlich gescheitert und haben die notwendigen Unterschriften in der gebotenen Frist nicht zusammengebracht. Schliesslich hat auch das gegenwärtige Wahljahr weniger Initiativen provoziert wie früher – es dürften 2015 etwa halb so viel werden als 2014; von den Parteien 2015 wählten nur die SVP, die Grünen und die Jusos wiederum dieses Agi­ta­tionsinstrument. Und an der Unterschriftenhürde gescheitert ist 2015 bereits auch wieder eine Initiative, und es dürfte nicht die letzte gewesen sein dieses Jahr.

Fazit: Von Initiativenflut oder direktdemokratischen Überschwem­mun­gen – bezüglich der Referenden bewegen wir uns seit einiger Zeit unter dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahrzehnte – kann keine Rede sein. Die Probleme der Schweiz mit den Volksrechten sind nicht quan­titativer, sondern qualitativer Natur. Um diese abzubauen, bedarf es weder einer Axt noch sonstiger Grobheiten, sondern feiner und präziser verfassungs-, steuer-, medien- und bildungspolitischer Reformen. Und bitte vergessen Sie nicht: Der Fiebermesser ist nicht verantwortlich für die Temperatur, die er Ihnen anzeigt; ebenso wenig wie der Spiegel für das Gesicht, das er Ihnen jeden Tag zeigt. Sie können den Fieber­mes­ser vergröbern, den Spiegel zerstören: Die Krankheiten müssen Sie dennoch anders und klüger behandeln, um wieder zu gesunden.


Kontakt mit Andreas Gross



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