14. Juni 2015
Dagens Nyheter
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Willkommen in der Piratenfestung
Von Björn af Kleen
Es ist ein angenehmer Dienstagabend in Visp. Die Heimatstadt des Fussballbonzen Sepp Blatter in der Bergregion Wallis im Südwesten der Schweiz ist von schneebedeckten Gipfeln umringt. Die Stadt mit ihren 7300 Einwohnern ist geprägt von schmalen Gassen mit Kopfsteinpflaster, Steinkirchen und Weinbergen. - Wir essen Raclette, eine klebrige Decke aus Käse die mit zwei ungeschälten Kartoffeln und eingelegten Gurken serviert wird. Die regionale Delikatesse passt zum rauen Image des Wallis. Der Kanton wird auch als das Texas der Schweiz bezeichnet. Oder wie ein sozialdemokratischer Parteichef einst sagte: «Das Sizilien der Schweiz. Es ist nicht ganz falsch, wir lieben unsere Freiheit hier.»
Unser Gastgeber in Visp heisst Thomas Burgener. Er ist Anwalt und sozialdemokratischer Lokalpolitiker. Er trägt eine runde Brille und einen Ring mit Familienwappen. Der eine Bruder ist Botschafter in Asien, der andere Kommunikationschef in Genf. Ihr Familiengrab in Visp grenzt an das der Blatters. Thomas Burgener grüsst die meisten, an denen er vorbeigeht. Er kaut seinen geschmolzenen Käse mit offenem Mund. «Wir sind etwas wilder hier – vielleicht ist das Blut in unseren Adern etwas mehr archaisch, ein bisschen mehr anarchistisch.» Thomas Burgener nennt ein Beispiel. Als die Schule im Ort den Namen Sepp Blatters annahm, kam die Initiative hierzu von unten. Zwei Lehrer und ein Hausmeister nahmen die Sache an die Hand: eines Morgens trug das blassgelbe Schulgebäude einfach den Namen des langjährigen Fifa-Königs.
Die Schweiz ist ein dezentralisiertes Land. Jede Region, jede Stadt hat ihre eigene Rechtsprechung, ihren Dialekt, ihre Identität. Im Wallis waren die Bergbauern lange isoliert. Die Selbstständigkeit ist tief verankert. Peter Hossli, Sternjournalist des Sonntagsblick in Zürich schrieb einen Artikel über die Sepp Blatter-Schule einige Wochen bevor der Fifa-Skandal in der Nacht zum 27. Mai detonierte. «Sie haben niemanden gefragt. Sie haben einfach den Namen auf die Schule gemalt und enthüllten die neue Fassade bei einem Fest für Sepp Blatter. So macht man das hier. So funktioniert das Wallis, so funktioniert Sepp Blatter», sagt er.
Sepp Blatter hat sich selbst mit einer Bergziege verglichen. «Treffend», findet Hossli. «Bergziegen sind sehr selbstständig und extrem stur. Man kann sie nicht steuern.» Hossli ist stolz über diese Eigenschaft. «Es ist wichtig, dass man versteht: Die Schweizer machen immer ein bisschen, wie sie wollen. Die Regierung hat keine besondere Kontrolle über das, was passiert. Die Macht ist lokal. Das ist eine gute Sache. Das hat dem Land gut getan. Wir versuchen selbst herauszufinden, was richtig ist und meistens fällt das gut aus. Wir sind ja ein extrem reiches Land, wir haben kaum Jugendarbeitslosigkeit.»
Die Dämmerung bricht über Visp herein, die Fensterläden werden geschlossen. Bald schon liegen die Gassen verlassen da. Thomas Burgener will noch nicht schlafen gehen. Er bringt uns ins Napoleon, eine Bar, die Sepp Blatters Tochter gehört. Man serviert uns gekühlte Gläser mit Heida, einem lokalen süssen Wein, von dem man sagt, dass Tina Turner ihn liebt. Es hängen Gewehre an der Decke. Die Gegend ist Gastgeber für einen Schützenwettbewerb. Auf dem Marktplatz hat Sepp Blatter in ein Wohnheim für Rentner investiert. Ein runder kleiner Balkon mit heruntergelassenen Jalousien steht aus der Fassade heraus. Die Bergziege wird sich vermutlich hierher zurückziehen, als Vorsitzender des Boule-Vereins. Das glaubt zumindest Thomas Burgener, vielleicht projiziert er seine eigene Vorstellung vom Alter auf Sepp Blatter.
Boule und ein Glas Aperol am Fluss. Das wäre ein würdiges Ende. Ein solcher Ehrenposten würde sich nicht sehr von Blatters Fifa-Auftrag unterscheiden. Siebzehn Jahre lang war er der Vorsitzende. Oder doch, es wäre ein Unterschied. Aber nicht juristisch gesehen. Das Besondere mit Vereinen in der Schweiz ist, dass sie alle vom gleichen liberalen Regelwerk umfasst werden.
«Die Fifa schätzte es nicht besonders, als ich der Financial Times erklärte, dass die Organisation in ihrer Struktur mehr einem Jagdclub als irgendetwas anderem gleicht.» Mark Pieth, Kriminologie-Professor an der Universität Basel, lacht. Pieth ist eine internationale Autorität im Bereich Korruption. Die Liste seiner Auftragsgeber könnte ebenso gut die Einladungsliste für das Wirtschaftsforum in Davos sein. Die Weltbank, die Arbeitsgruppe der OECD-Länder gegen Schmiergelder in internationalen Geschäftstransaktionen, auch die Fifa. Im Winter 2012 schlug er Reformen für das Exekutiv Komitee der Fifa vor: vor allem das Einrichten des Postens für eine Art unabhängigen Staatsanwalt innerhalb der Organisation. In der gleichen Woche, in der er seinen Vorschlag der Fifa präsentierte, sagt Mark Pieth zur Financial Times: «Diese Kerle haben mit einer Art Straffreiheit gearbeitet. Als Strafanwalt verstehe ich, warum die Leute wütend sind.»
«Die juristische Struktur passt überhaupt nicht zu dem, wie und wofür die Organisation arbeitet. Und da ist die Fifa besser als die meisten ähnlichen Organisationen hier. Ihre Bücher werden von Revisoren geprüft. Aber laut dem Schweizer Regelwerk ist in Vereinen fast alles erlaubt. Das kann für einen Kaninchenzüchterverein oder einen Chor gut sein. Aber für einen Verein mit Milliardenumsätzen ist das weniger gut.»
Die Schweizer Zivilgesellschaft ist auf Vereinen aufgebaut, die das dezentralisierte Land verbinden soll, das in 26 Kantone aufgeteilt ist, vier Sprachen spricht, zwei Religionen hat und einen schwachen Zentralstaat. Vereine müssen sich nicht registrieren. Kaum Steuern zahlen. Sie sind zum Beispiel in der Frage um Transparenz in Form von Revisoren viel freier als Unternehmen. Probleme entstehen, wenn Vereine plötzlich zu einem globalen Riesen anschwellen und Mitgliedstaaten mit ganz anderen Traditionen haben, als die patriarchale Konsenskultur, die die Schweiz geprägt hat.
Das etwas abstrakte Bild einer Gesellschaft, die von Vereinen gesteuert wird, wird plötzlich konkret, als wir in Visp zu Abend essen. Gleichzeitig als unser Käse serviert wird, setzen sich neun Herren mittleren Alters mit Bierkrügen an den Nebentisch. «Man Sport Club», erklärt Thomas Burgener und nickt der Gesellschaft zu. Allein in Visp gibt es um die 130 Organisationen.
Am gleichen Dienstag treffen wir Andreas Gross, einen bekannten sozialdemokratischen Schweizer Parlamentsabgeordneten in Bern. Gross war Mitglied einer Gruppe des Europarates, die die Fifa untersucht hat (The ad-hoc sub-committee on the reform of international football). Er zeichnet das gleiche Bild wie Professor Pieth. «Wenn Sie und ich hier und jetzt einen Verein für die Freunde Schwedens gründen würden, würde der schweizerische Staat uns auf die gleiche Weise behandeln wie die Fifa. Wir müssten keine Steuern zahlen, auch wenn die Fifa begonnen hat, ein wenig zu zahlen. - Ein Zehntel von dem was die Fifa bezahlt hätte, wenn sie ein Unternehmen wäre», sagt Gross.
«Es wird ein gewisser Druck auf die Regierung ausgeübt, dies zu ändern. Aber die Mehrheit der Schweizer will dies nicht, weil man Angst hat, dass die Organisation dann ihren Hauptsitz nach Bonn, London oder Wien verlegen würde. - Die Unabhängigkeit ist gegenseitig», so Gross. «Die Vereine managen sich selbst, wenn es in die Hose geht, trägt der Staat keine Verantwortung. - Gestern sagte unser Aussenminister: ‚Alle wissen, dass die Fifa nicht die Schweiz ist. Die Fifa ist die Fifa. Ihre Geschäfte schaden uns nicht. Das gleiche gilt für die Banken, der Staat identifiziert sich auch nicht mit ihnen.‘ Das ist natürlich für Mafiastrukturen attraktiv. Oder um das ganze etwas höflicher auszudrücken: Die Schweiz ist attraktiv für Holdingunternehmen, die Milliarden umsetzen. Die Steuern sind niedrig und der Einblick gering.»
Andreas Gross hebt auch die guten Seiten der Vereinsgesellschaft hervor. «Es hängt mit der direkten Demokratie zusammen. In den Vereinen lernt man, ein guter Mitbürger zu sein. Die Zivilgesellschaft schafft den Staat. In Schweden ist das genau anders herum. Die Gesellschaft wurde von oben geschaffen. - Es gibt eine vergebende Eigenschaft in der Schweizer Kultur, die humanistisch ist: es ist erlaubt, seine Fehler zu korrigieren. In Deutschland wird man direkt gefeuert. Hier haben wir eine begrenzte Anzahl an Bürgern. Man haushaltet miteinander. – Auch aus diesem Grund habe ich Herrn Blatter ein wenig verteidigt. Und in Südafrika findet man, dass er der einzige Europäer ist, der in den letzten zwanzig Jahren etwas für sie getan hat.»
Andreas Gross ist eine gebildete und etwas schrille Politikerpersönlichkeit von einer Art, wie man sie nur selten in Schweden antrifft. Er scherzt, dass Schweden der letzte preussische Staat in Europa sei, Krawattenzwang im Parlament! Das besondere Interesse Gross‘ gilt Ĺland und er betrachtet Björn von Sydow als guten Freund. Vier Jahre lang hatte er eine schwedische Freundin. Im Café Federal gegenüber des Parlamentsgebäudes in Bern breitet er ein historisches Räsonnement vor uns aus: Schon früh verstand die Schweiz es, aus ihrer geopolitischen Exponiertheit Kapital zu schlagen. Eingeklemmt zwischen expandierenden Grossmächten sah das Land ein, dass seine Existenz von der Akzeptanz der Nachbarländer abhing. Aus diesem Grund waren internationale Organisationen im Land willkommen. Die Internationale Teleunion, der Weltpostverein, die zwischenstaatliche Organisation für Eisenbahnverkehr. Nach dem ersten Weltkrieg wurde der Völkerbund in Genf etabliert, wie auch die Internationale Arbeitsorganisation. Es folgten die Vereinten Nationen und die Welthandelsorganisation. Das Internationale Olympische Komitee sitzt in Lausanne, die Fifa in den Hügeln gleich östlich von Zürich.
Die Schweiz ist eine geschickte Gastgebernation. Die Organisationen locken Armeen von Anzug tragenden Männern mit Rollkoffern an, die gut wohnen und essen wollen. Die Infrastruktur ist kaum zu schlagen. Die Züge verlassen die Bahnhöfe planmässig, Streiks sind selten, Potentaten können sich ohne grössere Gruppen von Sicherheitskräften im Land bewegen. Die Bürokratie ist begrenzt oder nicht vorhanden, gleichzeitig ist die Nähe zu den Entscheidungsträgern gross.
«Die Kehrseite ist eine Art Verschlagenheit, die Schweizer sind berechnend intelligent, cruelly intelligent«, sagt Andreas Gross und verweist auf den grossen Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. «Es begann bereits nach dem ersten Weltkrieg», sagt Gross. «Die Steuern in allen europäischen Ländern wurden erhöht, weil die Regierungen mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg beginnen wollten. Man gab reichen französischen Familien die Möglichkeit, die erhöhten Steuern zu vermeiden. Dann setzte sich dies im Zweiten Weltkrieg fort. Schweizer Banken gaben Juden die Möglichkeit, ihre Vermögen auf Schweizer Konten zu deponieren. Eine gute Sache, aber die Initiative war nicht idealistisch.»
Eine infizierte Geschichte: Widerwillig hat sich die Schweiz in den letzten Jahren mit ihrem Handeln im Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt. Ein Gesetzesparagraf, den Präsident Clinton 1996 unterzeichnete, der War Crimes Disclosure Act, hatte grosse Konsequenzen. Der umstrittene Schweizer Soziologie-Professor Jean Ziegler gab im Jahr darauf das Buch Die Schweiz, das Gold und die Toten heraus, welches das Handeln der Schweiz im zweiten Weltkrieg kritisiert. Laut Ziegler nahm die Schweiz deutsches Gold im Wert von1.7 Mrd. CHF entgegen: oftmals Zahngold und Schmuck von vergasten Juden, Kapital, das die Schweiz waschen liess und von welchem abhing, dass das Hitlerregime den Krieg weiterführen konnte. Gleichzeitig häuften sich auf Schweizer Banken jüdische Vermögen. Aber als Hinterbliebene versuchten, an das Vermögen ihrer Verwandten zu kommen, verlangte die Schweiz Totenscheine. Diese wurden in Gaskammern aber nicht ausgestellt.
2002 präsentierte die Kommission ihre Schlussbetrachtung. Man konstatierte, dass schweizerische Behörden, Banken, Museen und Versicherungsunternehmen es unterliessen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die rechtmässigen Eigentümer nach dem Krieg ihre Vermögen zurückbekamen und dass die restriktive Schweizer Flüchtlingspolitik in den Kriegsjahren zum «schlimmsten der Ziele des Nazismus beitrug: Der Vernichtung der Juden.» - «Die Logik für einen kleinen Staat wie die Schweiz war, allen ihre Dienste anzubieten, um nicht selbst angegriffen zu werden. Unser Schweigen nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein grosser Fehler», sagt Gross.
Druck von amerikanischer Seite ist langsam zu einer Tradition in der Schweiz geworden. Die Untersuchenden tauchen mit gleicher Regelmässigkeit auf wie Hollywoodstars auf Werbeplakaten für Patek Philippe und Nescafé. «Es ist immer das Gleiche», sagt der Journalist Peter Hossli. Europäischen Ländern war das Bankgeheimnis seit Jahren ein Dorn im Auge. Als die Amerikaner einen Banker zu fassen bekamen, der im Detail aufzeigen konnte, wie Schweizer Banken Amerikanern halfen, ihre Steuern zu hinterziehen, war dies das Ende. Sobald die Amerikaner etwas zu fassen bekommen, was nicht mit rechten Dingen zugeht, ist das das Ende davon. «They destroy you.» Und jetzt gehen sie nach dem gleichen Drehbuch bei der Fifa vor.
In der Fifa-Sache verschmilzt alles. Eine schwergewichtige internationale Organisation in Zürich. Die Abwesenheit staatlicher Einsicht. «Ihre Frage, ob die Praxis in diesen Organisationen mit der schweizerischen Kultur zusammenhängt, ist relevant», sagt der Abgeordnete Andreas Gross. «Ein grosser Unterschied zwischen Schweden und der Schweiz ist die Fläche. Wir haben ungefähr die gleiche Anzahl Einwohner, aber die geografische Fläche ist viel geringer. Alle wissen, dass man sich wieder treffen wird. Aus diesem Grund behandelt man sich gegenseitig nicht so streng. Was von Nachteil sein kann, wenn man aufräumt. Herr Blatter ist ein typisches Beispiel dieser Bergkultur, in der man sich gegenseitig nicht prüft, solange alle zufrieden sind. Es ist ein Geben und Nehmen.»
Mark Pieth, Professor in Basel sagt: «Tortuga! Da wo alle Piraten im Film Pirates of the Caribbean mit Johnny Depp an Land gehen.» So sieht Mark Pieth die Schweiz. «Wir haben unser Territorium schon immer für alle möglichen Zwecke zur Verfügung gestellt, wo der gemeinsame Nenner immer ein extrem liberales Verhalten unsererseits war. Früher war es der Waffenhandel mit dem Apartheidregime in Südafrika, das Waschen von Drogengeldern. Und: Wo, meinen Sie, landen all die Antiquitäten, die der IS jetzt in Mesopotamien plündert? Bis vor kurzem war die Schweiz der Hauptmarkt für Kaffee, Öl und Mineralien. Wir hatten 50 Prozent dieser Märkte. Obwohl hier fast nichts wächst und wir selbst kaum selbst Abbau betreiben. Erst, wenn die Lage für konkurrierende Staaten auf dem gleichen Markt zu anstrengend wird, haben diese genug.»
Frage: Betrachten Sie die Fifa-Affäre als etwas, was der Schweiz Kopfzerbrechen bereitet?
«Wenn Sie die offizielle Schweiz fragen, hat die Affäre natürlich nichts mit uns als Nation zu tun», sagt Mark Pieth. «Meine Antwort ist aber, dass es einen Grund geben muss, warum 60 globale Sportorganisationen ihren Sitz in der Schweiz haben. Sie sind minimal reguliert.»
F.: Ist die Schweiz es nicht leid, mit Skandalen wie diesen gedemütigt zu werden?
«Sie überschätzen das Vermögen unserer Politiker, proaktiv zu denken.»
Der Bundesrat, das Exekutivorgan der Schweiz, besteht aus sieben Mitgliedern in einer permanenten Koalitionsregierung. «Eine Koalition, die 80 % der politischen Landschaft abdeckt. Ein gutes Modell, wenn man das Aufkommen eines Einparteienstaats verhindern will. Aber keine Struktur, die strategisches Denken fördert.»
Ich frage den Journalisten Peter Hossli, ob die Schweiz sich schämt. Er war gerade im Zürichsee schwimmen, die nasse Badehose hängt in der offenen Redaktionslandschaft zum Trocknen. «Das Motto unseres Landes bei der Weltausstellung 1992 war: Die Schweiz existiert nicht, Switzerland does not exist. Es ist schwierig, hier eine gemeinsame Reaktion zu finden. - Das Resultat ist nicht nur zynisch», sagt er. «Die Neutralität hat anderen Ländern auch genutzt; wir haben dafür gesorgt, dass Gorbatschow und Reagan 1985 in Genf Frieden gestiftet haben. Die EU, die USA und der Iran haben vor kurzem ein Atomwaffenabkommen in Lausanne geschlossen. Manchmal ist es ganz gut, eine Schweiz in der Welt zu haben.»
Wir besteigen den 12.57 Uhr Zug nach Basel. Der Zug eilt durch schwarze, ewig lange Tunnel, über altertümliche Aquädukte, durch grüne Landschaften. Die Natur ist so dramatisch, wie die Menschen kontrolliert sind. Es ist ein Land voller Paradoxe. Auf der einen Seite offen und zugänglich, auf der anderen Seite geprägt von einer starken Geheimhaltungskultur. Auf der einen Seite kosmopolitisch: Hotel Baur au Lac, wo man die Fifa-Funktionäre am 27. Mai festnahm, das Sinnbild für diskreten Luxus: ein kleiner Palast, eingeklemmt zwischen Bahnhofstrasse und Zürichsee, der nach zigarrengeräucherten Gobelins duftet, wo königliche Hoheiten aus dem Nahen Osten unter riesigen Kronleuchtern Espresso trinken. Auf der anderen Seite provinziell; mit Volksabstimmungen mit dem Ergebnis, dass Minarette verboten werden und die freie Einwanderung begrenzt wird.
In Basel wartet Irena Brezna, 65, Schriftstellerin mit kohlrabenschwarzem Haar und Hosen mit Zebramuster. Brezna wanderte im Alter von 18 Jahren aus der Tschechoslowakei ein. 2012 erhielt sie den Schweizer Literaturpreis, die feinste literarische Auszeichnung des Landes, für ihren Roman Die undankbare Fremde. Nun ist sie auf Tournee durch das Land und geisselt die Eigenheit der Bevölkerung. «Das wäre einst unmöglich gewesen», sagt sie. Da ihre Satire nun durch die Auszeichnung staatlich zertifiziert ist, wagen es die Menschen, darüber zu lachen. In einem Strassencafé in Basel fragt Brezna eine 22-jährige Kellnerin, was sie an der Schweiz am meisten schätzt. Ihre Antwort: die Sicherheit. Brezna sieht dies als Begründung für die spiessbürgerliche Seele des Landes.
«Dieses Land war einmal sehr arm. Die Männer waren dazu gezwungen, Legionäre zu werden. Sie wurden bezahlt, um für ausländische Interessen zu töten. Die Schweizergarde im Vatikan ist ein Überbleibsel dieser Tradition. - Ich glaube, dass die Geschichte die Schweiz sehr geprägt hat. Wir bieten anderen gerne unseren Service an. Es fällt uns leicht zu dienen. Gleichzeitig sind wir sozial sehr reserviert. Es ist schwierig, sich mit einem Schweizer anzufreunden. Das erklärt auch die Vielzahl an Clubs und Vereinen: Wir brauchen eine Struktur, ein Ziel, wenn wir miteinander umgehen.»
Die soziale Kontrolle, die sie beschreibt, zeigt sich als wir über den Rathausplatz gehen. Dank seiner geografischen Lage und seines Reichtums ist das Land attraktiv für Bettler. In vielen Städten ist betteln verboten. Strassenmusiker müssen laut Brezna von der Stadt eine Zulassung kaufen. Ein Mann unterhält ganz allein den riesigen Platz. Ein reiner, heller Ton schwebt aus seiner Flöte. Die Szene ist herzzerreissend einsam. «Die Schweiz ist provinziell. Wir streben in allen Situationen nach Stabilität. Wir stimmen gegen Veränderungen. Unser Selbstbild sagt, dass wir ehrbar, hart arbeitend und gut organisiert seien. Wir finden, dass wir unseren Reichtum verdient haben. Wir misstrauen allen, die herkommen.» Gleichzeitig gibt es hier mehr internationale Organisationen als anderswo in Europa. «Die Stabilität lockt. Es kommt nie zu einer Revolution. Wir suchen ständig den Konsens. Aus diesem Grund sind wir gute Friedensmakler.»
Später am gleichen Abend kommen wir in Genf an. Klebrige südeuropäische Dämmerung. Gerade als der Zug in den Bahnhof einfährt, ruft einer der berüchtigtsten Namen der Diplomatenstadt zurück: Jean Ziegler! Es knistert im Telefon. Vielleicht ist es die Liebe zu Olof Palme, die sich hier zeigt. Viele würden sagen, dass der 81-jährige Soziologie-Professor und UN-Veteran die Doppelmoral der Schweiz in der Welt verkörpert. Ziegler war besonderer UN-Beauftragter für Ernährungsfragen und Ratgeber im UN-Menschenrechtsrat. Gleichzeitig ist er einer der Gründer des hart kritisierten Ghaddafipreises für Menschenrechte, gestiftet im Namen des libyschen Diktators und ausgeteilt unter anderem an Fidel Castro und Roger Geraudy, den französischen Antisemiten.
In mehreren viel diskutierten Büchern, wie La Suisse lave plus blanc kritisiert er die faule Schweizer Moral, nicht zuletzt das Bankwesen – die Wurzel des Bösen in der Vorstellungswelt des Jean Ziegler. «Das gleiche gilt für die Fifa: Das Rechtswesen in diesem Land hat noch nie von sich aus einen Finger gerührt, um aufzuräumen. Sobald es um Summen von mehr als einer Milliarde gehen, schlafen die Richter ein.» Er brüllt mit starkem französischem Akzent. «Das hat damit zu tun, dass die Gerechtigkeit von den Bankoligarchen kolonisiert ist. Die Schweiz ist eine simulierte Demokratie. Die wirkliche Macht gehört den Banken. Es gibt kein professionelles Parlament in der Schweiz, keine bezahlten Abgeordneten. In Schweden können meine sozialistischen Freunde im Parlament keine Einkünfte von multinationalen Unternehmen beziehen, das ist hier ohne weiteres möglich. Die Schweiz unterscheidet sich auf diese Weise von allen anderen Ländern in Europa: Parlamentarier erhalten eine tägliche Vergütung, keinen Lohn. Aus diesem Grund kommen Initiativen zu Rechtsreformen nie aus der Schweiz selbst. Es gibt weder den Willen noch die Mittel. Die Richter konzentrieren sich auf Verkehrsvergehen, nicht auf Milliardenschurken.»
Laut Jean Ziegler steht die Schweiz still. Das Rechtspathos ist nicht vorhanden. Trotz Prozessen gegen die wirtschaftliche und juristische Struktur seit fast drei Jahrzehnten.
Sein Parteifreund Andreas Gross stimmt dem nicht zu: «Das Verhältnis von Banken und Staat hat sich völlig verändert. Vor zwanzig Jahren sagte ich im Parlament: Glauben Sie, dass die Welt einen Staat akzeptiert, der Herrn Ikea sein Vermögen vor der schwedischen Steuerbehörde verstecken lässt? Alle lachten.»
Andreas Gross spielt auf Ingvar Kamprad an, der früher in Epalinges, ausserhalb von Lausanne wohnte. «Heute kann der schwedische Staat unsere Regierung zwingen, Informationen herauszugeben, wenn sie den Verdacht haben, dass Herr Ikea etwas falsch gemacht hat. Es findet eine Veränderung statt.» Bis 2018 soll sich die Schweiz an das Abkommen der OECD-Länder über den freien Informationsaustausch angepasst haben.
«Theater», meint Jean Ziegler. «Das Gesetz ist tot, die Geheimhaltung ist immer noch total. Ich bin mir sicher, dass eine Volksabstimmung den freien Informationsaustausch stoppen wird. Die Bankoligarchen werden alle Versuche zu Transparenz sabotieren. Bis jetzt hat sich überhaupt nichts verändert in der Schweiz.»
Übersetzung: Christina Thiex, Botschaft Stockholm
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