6. März 2015
TagesWoche, Basel
IX. Demokratie-Kolumne
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Das anspruchsvolle Zentrum der Demokratie:
Die Volkssouveränität!
Die Demokraten begrenzten mit den Menschenrechten ihre eigene Macht
Es steckt wörtlich im Zentrum der Demokratie: Das Volk, der «demos». Und die «Kratie» meint die Herrschaft, in der Demokratie eben die Volksherrschaft. Doch bedeutet die Demokratie auch die Allmacht des Volkes? Darf es unter seiner Herrschaft selber wirklich alles – so wie früher der «Souverän», beispielsweise der König, den das französische Volk ja unter anderem gerade wegen der Folgen dieser Allmacht gestürzt hat?
Vielleicht haben Sie die frühere freisinnige Zürcher National- und Ständerätin Vreny Spoerry auch noch im Ohr. In den 1990er Jahren pflegte sie jeweils am Radio und Fernsehen Volksentscheide knorrig nasal mit dem Satz zu kommentieren, der «Souverän» hätte nun entschieden. Punkt, Schluss. Als ob ein König, der alte «Souverän» vordemokratischer Zeiten, entschieden hätte.
Doch der Begriff des Souveräns ist irreführend. Das zeigt sich schon daran, dass dort, wo es im Unterschied zur Schweiz in den vordemokratischen Zeiten, im Ancien Regime Frankreichs beispielsweise, tatsächlich einen König, den Souverän, gab, heute nicht mehr vom Souverän die Rede ist. Denn das revolutionäre französische Volk stürzte nach 1789 den König, köpfte ihn später sogar, erlag aber nie der Versuchung, sich an seine Stelle zu setzen. Es masste sich dessen Allmacht nicht an.
Das wird im bedeutendsten Dokument der Revolution, der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (EMB) vom 26. August 1789, welche später jeder französischen Verfassung vorangestellt wurde, sehr deutlich gemacht. Zwar stellt sie fest, dass die Bürger, hier die «Nation», der Ursprung der (Volks-)Souveränität sind; dass also die Bürger die einzige Quelle legitimer politischer Macht seien (Art.3).
Doch gleichzeitig spricht sie allen Menschen Grundrechte, «Menschenrechte» zu, die unabhängig vom Willen der Nation gelten und auch von ihr zu achten seien. Ja sie sagt sogar, dass der Zweck des Staates nicht etwa die Ermächtigung der Bürger, sondern «die Erhaltung der natürlichen und unveräusserlichen Menschenrechte» sind (Art 2). Im letzten Satz heisst es dort: «Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung».
Mit der Demokratie wurden also gleichzeitig auch die Menschenrechte begründet. Menschenrechte, die unabhängig vom demokratisch manifestierten Willen der Bürger gelten. Mit anderen Worten: Es gab nie Menschenrechte ohne Demokratie. Doch die Menschenrechte begrenzen gleichzeitig die Demokratie. Beide bedingen einander. Die Demokraten begrenzten mit den Menschenrechten gleichzeitig auch ihre eigene Macht.
Und wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem Volk, dem Subjekt der Demokratie, dem Teil der Menschen, die nicht nur über die Menschenrechte verfügen, sondern auch direkt oder indirekt über die Gesetze bestimmen?
Auch hier hilft es, wenn wir uns an der Aufklärung orientieren und uns so vor völkischen, nationalistischen oder vordemokratischen Irreführungen zu schützen. Mit den Worten der grossen deutschen Philosophin und Immanuel-Kant-Spezialistin, Ingeborg Maus: «Volk war weder durch historisches Schicksal, schon gar nicht durch gemeinsame Abstammung, auch nicht durch das Territorium, nicht durch die Kultur oder die Sprache definiert, sondern durch nichts anderes als den Akt der gemeinsamen Verfassungsgebung.» (Aus Ingeborg Maus: Menschenrechte, Demokratie und Frieden, suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt, 2015)
Das Volk ist also ein Kind der Verfassung und nicht dessen Voraussetzung. Es umfasst all jene, die sich eine Verfassung geben, beziehungsweise 1791 im revolutionären Frankreich oder 1848 in der modernen Schweiz, eine Verfassung gegeben haben. Und in dieser Verfassung definieren sie auch, wer zu diesem ihrem Volk gehört: Alle Männer (1848) oder all jene, die ein Stück Land besitzen und Steuern bezahlen (USA, 1787), später dann auch alle Frauen, seit einigen Jahren auch alle Bürgerinnen und Bürger, die das 18. Altersjahr hinter sich haben.
Diejenigen, die sich eine Verfassung gegeben haben oder diese erneuern, können bestimmen, wer dazu gehört und wer (noch?) nicht. Der Demos der Demokratie ist also Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und deren Frucht. Wobei auch hier die EMB ein richtungsweisendes Zukunftspotential aufweist. Wenn nämlich alle Menschen «gleich und frei sind und bleiben» (Art 1), gleichzeitig aber alle auch nur jenen Gesetzen gehorchen müssen sollten, die sie sich direkt oder indirekt mitgegeben haben, dann heisst dies auch, dass langfristig in einer weniger unvollendeten Demokratie, zwischen Mensch und Bürger beziehungsweise Bürgerin, kein Unterschied mehr gemacht werden können sollte.
Das heisst alle sollten zum «Volkssouverän» gehören, egal welche Farbe beispielsweise ihre Pässe haben; doch alle sind sich bewusst, dass ihre Souveränität wie jegliche Macht durch die Menschenrechte und weitere Bestimmungen der von ihnen mehrheitlich angenommenen Verfassung begrenzt sind. -- Zwei Mosaiksteine unseres Gesamtkunstwerks, denen es derzeit nicht besonders gut geht.
Kontakt mit Andreas Gross
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