15. Nov. 2014
TagesWoche
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Ohne Zivilgesellschaft keine Demokratie
Demokratie ist ein ewiger Prozess. Er kennt kein Ende, kann aber immer und überall einen Anfang finden. Damit eine demokratische Revolution gelingen kann, braucht es eine starke Zivilgesellschaft. Das lässt sich im arabischen Raum gegenwärtig gut beobachten. Von Andreas Gross
Die Idee, sich die Demokratie als Mosaik von Hunderten sich bewegender Elemente vorzustellen, die jedes für sich und alle zusammen auch in ihrer Beziehung zueinander die Qualität der Demokratie ausmachen, ist ganz praktisch. Deshalb begegnet man ihr derzeit immer wieder an verschiedenen Orten und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen.
An den Orten, wo viele unter der Regression des Prozesses der Demokratie leiden, erlaubt dieses Konzept die Benennung konkreter Defizite und verdrängter Ansprüche. Dort, wo der Fortschritt des demokratischen Prozesses deutlich wird, ermöglicht dieses Konzept dessen Analyse. Und zwar derart, dass an wiederum anderen Orten, wo der demokratische Prozess noch gar nicht richtig in Gang gekommen ist, viele merken, woran sie arbeiten müssen, um diesen Prozess zu starten.
Dies im Wissen, dass die Demokratie ein ewiger Prozess ist, der nie zu Ende sein wird – es gibt schliesslich nirgends und niemals eine perfekte, vollendete Demokratie –, dass aber keine Lebensumstände oder gesellschaftlichen Bedingungen zu schlimm wären, um nicht mit diesem Prozess zu beginnen. Das heisst, der Prozess der Demokratie ist nie zu Ende, kann aber immer und überall einen Anfang finden. Ein Gedanke, den der ehemalige portugiesische Präsident Jorge Sampaio kürzlich in Lissabon ins schöne Bild fasste, die Demokratie sei eben kein Ziel, sondern eine lange, nie endende Reise.
Die Indignados aus Spanien rufen nach einer «wahrhaften Demokratie»
Das Land, in dem die Regression der Demokratie derzeit in Europa wohl am intensivsten diskutiert wird, ist Spanien. Seit dem Sommer 2011, als Hunderttausende vor allem junge und arbeitslose Spanierinnen und Spanier – sie nannten sich selber die Indignados (Die Empörten) – wochenlang die grossen Plätze unzähliger Städte belagerten, wird um deren Forderung nach «wahrhafter und echter Demokratie» gerungen.
Der den Indignados nahestehende Intellektuelle Emmanuel Rodriguez erklärte in einer Streitschrift unter dem Titel «Die Hypothese Demokratie; 15 Thesen zur angekündigten Revolution», was unter dieser Forderung zu verstehen ist. Rodriguez beklagt, dass der Begriff Demokratie heute nur noch für eine «Gesamtheit von Institutionen» stehe. Und plädiert für die Rückbesinnung auf die Substanz des Begriffes Demokratie: die radikale Gleichheit eines jeden Menschen in der politischen Partizipation und in der Verteilung des Reichtums.
Damit illustriert Rodriguez einmal mehr, dass die Demokratie nicht nur all die Verfahren, Institutionen, Orte und Formen gesellschaftlich wesentlicher Entscheidungen meint, sondern auch ein normatives Versprechen bezüglich dem Ergebnis dieser Entscheidungen beinhaltet: dasjenige einer fairen Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums, einer gerechten Verteilung der Lebenschancen. Rodriguez meint denn auch, Spanien sei in vielerlei Hinsicht keine Demokratie, sondern eine «Oligarchie in den Händen einer politischen Klasse mit engen Bindungen an die Wirtschaftseliten».
Die drei wichtigsten Bausteine der tunesischen Revolution
Mohamed Bouazizi hatte genug von der Überheblichkeit und der Willkür, mit der ihm die Behörde der Kleinstadt Sidi Bouzid im Zentrum Tunesiens eine kleine Standbewilligung verweigerte. Sie verhinderte damit, dass Bouazizi, immerhin ein junger Mann mit abgeschlossenem Studium, sich und seine Familie als Gemüsehändler über die Runden bringen konnte. Seine Protestaktion – er zündete sich vor dem Stadthaus an – kostete ihn das Leben. Doch es gelang ihm, eine eigentliche friedliche Revolution in Tunesien auszulösen.
Mehr als eine Million Menschen gingen auf die Strasse, der Diktator verschwand innert drei Wochen und eine grosse, alle bisher unterdrückten sozialen Kräfte der Revolution (Jugendliche, Arbeitslose, Menschenrechtler, Gewerkschafter, Frauen, Rechtsanwälte, Schriftsteller, Journalisten) repräsentierende Versammlung verständigte sich unter anderem auf ein neues Wahlrecht. Dieses erlaubte im Herbst 2011 die erste demokratische Wahl in der 55-jährigen Geschichte des unabhängigen Tunesiens zur Verfassungsgebenden Versammlung und Ende Oktober nun auch die Wahl des ersten wirklich demokratischen Parlamentes.
Die tunesische Revolution griff schnell auf die benachbarten Staaten und Regionen über und führte zu dem, was schnell im Anklang an den europäischen Völkerfrühling von 1848 als «Arabischer Frühling» bezeichnet wurde. Doch dieser gelang bisher nur in Tunesien. Weshalb? Als er diese Frage zu beantworten hatte, verwies der erste postrevolutionäre Premierminister Beji Caid Essebsi, der durchaus in den Wahlen vom übernächsten Wochenende zum ersten Präsidenten des demokratischen Tunesiens gewählt werden könnte, auf drei weitere Bausteine jener Demokratie hin.
Essebsi erklärte vor den europarätlichen Wahlbeobachtern Mitte Oktober: «Die tunesische Revolution 2011–2014 gelang, weil unser erster Präsident, der autoritäre Habib Bourgiba, nach der Unabhängigkeit Tunesiens 1956 drei fundamentale, damals besonders für diese Region einzigartige Errungenschaften realisierte: Er befreite die Frauen und realisierte ihre zivilrechtliche Gleichstellung, er ermöglichte allen den Zugang zur kostenlosen Primar- und Sekundarschule, und er löste eine wirtschaftliche Entwicklung aus, welche einen tunesischen Mittelstand entstehen liess.»
Ohne zivilgesellschaftliche Basis keine Demokratie
Obwohl Bourgiba kein lupenreiner Demokrat war, entwickelte sich in Tunesien unter seiner Vorherrschaft eine starke Zivilgesellschaft mit starken Frauenorganisationen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen. Sie waren es, welche im Januar 2011 der revolutionären Jugend unter die Arme griffen und vergangenes Jahr die an der zweiten postrevolutionären Regierung enttäuschende islamische Ennahda-Partei zum Rücktritt und zum nationalen Dialog zwang, der die Revolution rettete.
Eine solche organisations- und handlungsfähige zivilgesellschaftliche Basis, eine breite Bildung des Volkes und derart emanzipierte Frauen gibt es weder in Ägypten, Syrien oder gar Libyen. Ohne sie lässt sich eine demokratische Revolution kaum schaffen. Sie gehören zu den wichtigsten Mosaiksteinen der Demokratie und ermöglichten in Tunesien etwas, was durchaus ein kleines politisches Kunstwerk werden könnte.
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Kommentare:
H J Martens
am 16.11.2014, 11:00
Eine schöne Übersicht über die Wurzeln der Demokratie!
Allerdings sollten wir uns in der Schweiz, wo wir längst eine erwachsene Demokratie eingerichtet haben, endlich um die Blüten dieser Spätform der Demokratie kümmern. Daher sollten wir uns die Mechanismen bewusst machen, welche uns hier und jetzt die Demokratie still und leise, aber gründlich unter dem Hintern weggezogen haben. -- Es wirken globale Kräfte, denn anders als uns die SVP glauben machen will, ist die Schweiz keine Insel, sondern hochgradig vernetzt. Unsere Handlungsfreiheit besteht daher weniger im Agieren als im Reagieren. Und das können wir immerhin klüger oder dümmer tun. Oder noch dümmer: Mit Verdrängung, und - beraten von unserer Selbstherrlichkeit - durch stumpfes Aussitzen, also durch Nichtstun. Dann wirken nicht nur fremde Richter... -- Auch im Inneren ist die Macht sehr intransparent. Korruption ist eben in einer modernen, reifen Demokratie viel subtiler als in einer Bananenrepublik. Statt einem Bündel Banknoten unter dem Tisch bekommt der brave Junge hierzulande halt ein Mandat im Verwaltungsrat. Kein wirklicher Unterschied. -- Leider bleibt die politische Debatte beim Unwohlsein, der Frustration und gelegentlich verbaler Empörung stehen – Futter für die Schweigende Mehrheit und das Geschäftsmodell zynischer Populisten. Unser Wohlstand lullt uns ein, und der Aktivismus der Leistungsgesellschaft vernebelt die Sicht auf das Wesentliche vollends. -- Daher frage ich Sie, Herr Gross: Woher beziehen Sie den politischen Optimismus in unserer schönen (Post)-Demokratie?
s chröttli (als Antwort auf obigen Kommentar von H.J.Martens)
am 16.11.2014, 11:50
Ein spannender begriff, die «postdemokratie»! Gekennzeichnet ist sie vorab durch den allseitig getragenen vorauseilenden gehorsam im sinne des wirtschaftsprimats: wir wollen das ja alle so ... nicht wahr.
s chröttli
am 16.11.2014, 11:34
Wie gut er tut, der blick nach aussen – und wie wertvoll der rückbezug auf die schleichenden regressionen am heimischen herd. Ja, sehr viele errungenschaften müssen stets wieder hinterfragt, errungen!, und belebt werden. -- Eine kritische abnutzungserscheinung besteht nicht nur darin, sich diesbezüglich gesättigt zu fühlen, sondern auch darin, dass sich wiederholende anliegen – zb explizit die emanzipation – stets wieder gehör finden. Und zwar gemessen an den tieferen zielsetzungen einer jeden demokratie: gerechte teilhabe an allen gütern. -- Vom demokratischen grundverständnis als prozess her ist ein ziviles engagement in gesellschaftsrelevante fragestellungen unabdingbar. -- Politik sei weder verwaltung noch selbstzweck, sonst verliert sie ihren stellenwert angesichts der wirtschaftsdominanz ohnehin.
M Fischer
am 16.11.2014, 14:09
Die faire Verteilung des Wohlstandes ist nicht Teil der Substanz der Demokratie. Sie kann aber in einer Demokratie erreicht werden, sofern man das sie Mehrheit so will. -- Was aber für das Gelingen einer Demokratie leider sehr wichtig ist, ist dass die Bevölkerung gleich stark (z.B. CH oder USA) oder gleich schwach (z.B. Costa Rica) bewaffnet ist, wie die Staatsorgane. Die Austarierung der Macht, auch die der Institutionen unter sich, ist entscheidend bei dem Versuch eine Demokratie zu errichten.
H J Martens (als Antwort auf vorstehenden Kommentar von M. Fischer)
am 16.11.2014, 18:06
«Die faire Verteilung des Wohlstandes ist nicht Teil der Substanz der Demokratie.» -- Nun, Herr Fischer, teilweise schon! Denn Demokratie muss die Macht fair verteilen, das ist ihr erstes Anliegen. Ich denke nicht, dass alle Menschen gleich viel Macht haben sollen; man muss sie sich schon verdienen! Am besten durch Verdienste für die Gemeinschaft, vielleicht idealistisch im Sinne der «Sozialen Marktwirtschaft» Ludwig Erhards, einer modernen Form des Gesellschaftsvertrags. -- Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin keineswegs für die vulgäre Formel: «Du bist reich, ich nicht! – Also schuldest Du mir etwas.» -- Es ist so, dass global vernetzte, unsinnige Konzentrationen von wirtschaftlicher und militärischer Macht verhindern, dass der demokratische Prozess im Sinne der Erfinder funktionieren können: Die Mehrheit bekommt nicht was eigentlich will, denn sie wird bewusst und systematisch desinformiert und dumm gemacht. Wer genug Kohle hat, kann eine «Leistungsgesellschaft» proklamieren, die uns de facto versklavt in Konsumismus oder in den schwachsinnigen finanztheoretischen Konstrukten der Neocons, die sie uns als «Sachzwänge» andrehen. -- Definieren wir den Wohlstand also bitte ausserhalb der 1D-Ökonomen! -- Und hey presto! wird die faire Verteilung der Lebensqualität (alias Wohlstand) eine prioritäre Aufgabe der Substanz Demokratie!
Piet Westdijk
am 16.11.2014, 17:15
Ohne «Zivilgesellschaft» keine Demokratie: Heißt das, dass dort wo bei uns keine Demokratie empfunden wird, die «Zivilgesellschaft» fehlt? Die Leute, die über Bern schimpfen, weil die eh tun, was die wollen, uns aber nicht vertreten, sind über die Parteien nicht zufrieden und lassen sich nur noch über Initiativen mit reduzierten Inhalten zu politischen Entscheidungen verführen, gehören aber nicht zur Zivilgesellschaft, denn nur die Verbindung über eine Partei führt zur Legislative und Exekutive, oder?
Anna Christina
am 19.11.2014, 20:48
Es kann wertvoll sein, über die Entwicklungen in anderen Ländern nachzudenken und sich auf eine Staatsform zu berufen, die bereits in der Antike bekannt war. Doch vielleicht ist auch Zeit, uns nicht einfach mit «wir sind neutral und demokratisch» zu begnügen, sondern dies auch wirklich umzusetzten. «Unsere» Demokratie wird schon als derart selbstverständlich erachtet, dass man ja sowieso nichts dafür tun muss. -- Kürzlich hat mich jemand gefragt, ob Ecopop ein Musikstil sei. Traurig. -- Das Recht mitzubestimmen nutzt sich ab, wenn man es nicht nutzt.
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