15. Oktober 2014
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Auch die grösseren Strukturen und Prozesse müssen demokratisiert und zivilisiert werden
Weshalb viele Bürger den Einstieg in offene Prozesse verweigern
Nachdem die Bürgerinnen und Bürger im Berner Jura im vergangenen November sich zum Projekt einer neuen Kantonsaufteilung äussern konnten, sind nun die Baselbieter und Baselbieterinnen an der Reihe. Wie beurteilen Sie, Herr Gross, den Vorschlag, über den die Bevölkerung abstimmen muss?
Unglücklicher- und bezeichnenderweise lässt sich das Baselbieter Resultat mit gleicher Sicherheit voraussagen wie seinerzeit das Resultat im Berner Jura. Der Vorschlag wird im Kanton Baselland genauso zurückgewiesen werden. Interessant sind also weder die Prognose nach das Resultat. -- Bezeichnend für den Seelenzustand vieler Schweizerinnen und Schweizer derzeit ist die Tatsache, dass viele sich dem Einstieg in einen offenen Prozess verweigern. Sie wollen erst gar nicht, dass man einsteigt in die Erarbeitung einer gemeinsamen Verfassung, die man später gegebenenfalls immer noch ablehnen könnte, weil sie auf jeden Fall ebenso zur Volksabstimmung käme wie jetzt der Einstieg. Es gibt also einen Unwillen, sich überhaupt einzulassen auf etwas Neues, vielleicht sogar Überraschendes. Man will gar keine positive Überraschung erleben können. Man verunmöglicht von vornherein die Chance, dass etwas Neues überhaupt erarbeitet werden kann.
Welche Vergleiche sind möglich mit der seinerzeitigen Debatte im Jura?
Es gibt viele Parallelen. Auch im Jura war es so, dass der Norden wie jetzt die Stadt Basel gerne einen gemeinsamen Kanton hätte, während der Süden wie jetzt die Mehrheit im Baselbiet, vor allem eben das Oberbaselbiet weiss, dass es schon den Gedanken an einen gemeinsamen Kanton unerträglich findet und deshalb schon den Einstieg in einen solchen Prozess vereiteln will. Beides deutet nicht auf viel Selbstverstrauen hin, auch nicht auf viel Zukunftsvertrauen, und schon gar kein Prozessvertrauen. Lieber macht man sich gar nicht auf den Weg; man kann sich gar nicht vorstellen, dass der Weg zu etwas überraschend Gutem Neuen führen könnte.
Abgesehen vom Resultat, das die Abstimmung vom nächsten Sonntag zeitigen wird, äussert sich doch auch in dieser Abstimmung, dass eine Notwendigkeit zu Veränderungen in der Struktur und Organisation der Kantone besteht. Aber diese Reformen haben es schwer vor dem Volk. Was befeuert die Widerstände, die solche Prozesse behindern?
Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen den Eindruck haben, sie würden von grösseren Strukturen (Globalisierung, Europäisierung, Weltmarkt) überfahren und in diesen grösseren Prozessen und Entwicklungen hätten sie nichts zu sagen; sie würden total fremdbestimmt. Ein Eindruck, der ja nicht falsch ist. Doch als Reaktion krallen sie sich am Bekannten, Kleinen, fest und sehen nicht, dass dies ihnen auch nicht weiterhilft. Stattdessen sollte man die grösseren Prozesse so umbauen, dass diese nicht markt- oder profitstrukturiert ablaufen. Sie müssen die Nöte der Menschen berücksichtigen. Auch die grösseren Strukturen und Prozesse müssen demokratisiert und damit zivilisiert werden. Das sollte vor allem für die Europäische Union die grosse Zukunftsaufgabe sein: Sie braucht statt der Verträge eine eigentliche föderalistische Verfassung, welche die Entmachtung der Demokratie stoppt, diese transnationalisiert und auf Grund ihres föderalistischen Charakters auch den kleinen Regionen wieder eine Stimme gibt.
Kontakt mit Andreas Gross
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