Ende Okt. 2014

Le Temps

Wegen der nationalistisch verengten Perspektive wird die Fremdbestimmung der Schweiz grösser


Wenn beide mehr Demokratie wagen würden, könnten die Schweiz und die Europäische Union einander finden - 11 Schritte, wie man sich finden könnte

1.
Die Mehrheiten, welche die SVP-Initiative gegen die sogenannte Masseneinwanderung bei den am 9. Februar 2014 stimmenden Schweizer Bürgern und Ständen fand, sind durch Einstellungen und Verhaltensweisen zu erklären, die derzeit nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen westeuropäischen Gesellschaften deutlich sichtbar sind: Eine neue Hinwendung, Priorisierung und Überschätzung des Nationalen (eine Art Neo-Nationalismus), eine instinktive Abwehr gegenüber Ausländern, Ausländischem und übernationalen Normen, ein chauvinistischer Egoismus, Angst vor Selbstverlust, Lohndruck und Fremdbestimmung, Kritik an den Wachstumsfolgen sowie Ablehnung der negativen Globalisierungseffekte. -- Die Schweizer Gesellschaft ist also auch in dieser Beziehung sehr europäisch und weit eher ein Teil Europas als das ihr dies bewusst ist: In ihren Abstimmungen bringt sie Einstellungen und Haltungen zum Ausdruck, die auch in Frankreich, Dänemark, Bayern oder den Niederlanden sehr deutlich zu erkennen sind. Nur prägen sie dort nicht die Verfassungswirklichkeit, sondern höchstens den Talkshowtenor oder die Wahlergebnisse der vergleichsweise zweitrangigen Europawahlen.

2.
Zentrale Motivation der schweizerischen Mehrheit vom 9. Februar 2014 war nicht der Bruch der Bilateralen Verträge zwischen der EU und der Schweiz, sondern der Wunsch, die Zuwanderung von Menschen in die Schweiz nicht einfach als Schicksal erfahren oder hinnehmen zu müssen, sondern ihn selber zumindest mitgestalten zu können. Die Bundesversammlung wird nun im kommenden Jahr versuchen, ein Gesetz zu formulieren, das diesem Wunsch entgegenkommt und die Bilateralen Verträge sowie die ihnen zugrundliegenden Vereinbarungen nicht grundsätzlich in Frage stellt. Das könnte dann durchaus den Initianten der Abstimmung vom 9.2.14 zu wenig weit gehen. Diese würden dann das Referendum gegen das neue Gesetz ergreifen, so dass 2017 wiederum die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger entscheidet, ob das neue Gesetz ausreicht oder nicht. -- Auch dieser Wille, die Personenfreizügigkeit in Europa gestalten zu können, ist übrigens keine schweizerische Eigenheit; er ist derzeit in vielen westeuropäischen Gesellschaften zwischen London, Paris, Kopenhagen und München immer wieder zu hören.

3.
Der Grund der Mühe, welche viele Schweizer mit der EU haben, ist weder konjunkturell noch mit den Folgen der Finanzkrise oder der äusserst mageren Leistungsbilanz der Barroso-Kommission zu erklären. Er ist vielmehr historisch bedingt. Die Schweiz hat alle grossen europäischen kriegerischen Katastrophen (von 1870 bis 1945) alleine relativ unbeschadet überlebt. Diese Erfahrung hat eine Mentalität geschaffen, welche davon ausgeht, dass man alleine alles besser machen könne und sich über die übliche Kooperation hinaus nicht enger mit anderen Staaten verbünden müsse. Und Mentalitäten lassen sich nicht so schnell umpolen wie der Lichtschalter. Das dauert und bedingt einiges an neuen Erfahrungen und Einsichten. Zudem hat die Mehrheit der Schweizer den Ehrgeiz nicht, die Welt oder Europa mitgestalten zu wollen. Sie sind mit der Existenz in einer Art Nische gleichsam im Schatten grosser Veränderungen zufrieden und haben wenig über das eigene Wohl hinausgehende Ambitionen. -- Dies ist durchaus ein heutiges politisches Paradox der Schweiz. Denn mit dieser Genügsamkeit in der Nische und mit diesem minimalen Horizont sind viele Schweizer bereit, auch eine grosse Dosis Fremdbestimmung hinzunehmen; denn vieles, was die Schweiz umtreibt, lässt sich in der und durch die Schweiz allein nicht gestalten. Dafür bräuchte es die enge Kooperation und das gemeinsame kontinentale Handeln. Dies ist für ein Land, das sehr viel von Selbstbestimmung redet und ihr viel zuhält, ein grosses Paradoxon, ja ein eigentlicher Widerspruch, den aufzuzeigen und zu problematisieren bisher den Demokraten und Europäern in der Schweiz nicht gelungen ist. Daran müssen wir gewiss viel mehr arbeiten, ohne freilich in Grossmachts-Versuchungen oder einen entsprechenden Anspruch zu verfallen.

4.
Die Schweiz ist nicht nur soziologisch und kulturell in sich selber mitten in (West-)Europa ein kleines Europa. Sie verdankt ihre moderne Ex­is­tenz - die Tatsache, dass ihr als einziges europäisches Land die 1848er (liberale) Revolution gelang und sie die erste, alle Männer umfassende Demokratie in Europa wurde, auch - Europa! Denn hätten viele andere Völker 1848 nicht auch die Revolution gegen die Konservativen um den Wiener Fürsten Metternich versucht - namentlich die Wiener, die Pra­ger, die Ungarn, die Mailänder, die Böhmen – dann hätte Metternich freie militärische Kapazitäten gehabt, die er gegen die liberalen Schweizer eingesetzt und den hiesigen Konservativen zum Durchbruch verholfen hätte. Versprochen hatte er diesen dies – doch wegen der eigenen Revolutionäre konnte er dieses Versprechen nicht einlösen.

5.
Die schweizerischen liberalen Revolutionäre von 1848, ganz besonders der radikale Flügel unter ihnen, wollte 1848 auch keine selbstge­nü­gen­Sde Insel im monarchischen Europa erreichen, sondern mit konti­nen­ta­lem Elan in und mit der Schweiz einen Anfang machen für ein ganzes demokratisches Europa. Diese Ambition und das Bewusstsein, dass man den eigenen Erfolg auch dem revolutionären Engagement der Anderen verdankte, kam darin zum Ausdruck, dass man den in ihren Ländern Unterlegenen und jetzt vor der Rache der Konservativen flüchtenden Revolutionären nicht nur sofort Asyl gewährte, sondern ihnen auf Wunsch auch noch das schweizerische Bürgerrecht offerierte – so wie die Französische Revolution Heinrich Pestalozzi zum Ehrenbürger ernannt hatte, nebst vielen anderen revolutionären Schweizern des ausgehenden 18. Jahrhunderts.

6.
In Anlehnung an US-Erfahrungen und unter der Weiterentwicklung von republikanischen demokratischen Errungenschaften der 1830er Jahre gelang der Schweiz 1848 das Design eines föderalistischen Bundes­staates, dessen Verfassung, wie von Condorcet 1791 gewünscht, erst in Kraft trat, nachdem sie von der Mehrheit der Männer und der Kan­tone angenommen worden war – eine absolute demokratische Pionier­leistung. Die über den Gründungsakt hinausgehende direkte Demo­kra­tie kam erst später - 1874 und 1891- hinzu, als mächtige Bürger­be­we­gun­gen angesichts von parlamentarischen Mehrheiten, welche die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen vernachlässigten, die Volksrechte und damit das letzte Wort bei Gesetzes- und Verfassungsrevisionen erkämpften.

7.
Auf diese demokratische und föderalistische Errungenschaft von 1848 verwiesen übrigens schon 1942 die belgischen Widerständler, als sie in ihrer klandestinen Zeitung diskutierten, wie das nach dem Krieg auf­zu­bauende Europa aussehen sollte, das einen 3. Weltkrieg verunmög­lichen müsste: Sie wollten es, so schrieben sie, tun wie die Schweizer von 1848, ein auf der Basis einer demokratisch angenommenen Ver­fassung organisierter föderaler, diesmal europäischer Bundesstaat. -- Ursprünglich haben ja dann auch einige der 10 Gründerstaaten des Europarates 1949 dessen Parlamentarische Versammlung auch deshalb so begrüsst, weil sie darin die verfassungsgebende Ver­sammlung dieses kommenden europäischen Bundesstaates sahen. Dass dies dann nicht klappte, hat ja den ersten Präsidenten dieser Versammlung, den grossen Belgier Paul Henri Spaak, im Dezember 1951 sogar zum Rücktritt veranlasst.

8.
Statt auf einer die BürgerInnen miteinbeziehenden Verfassung fusste dann die 1957 begründete EWG und bis heute die EU nur auf Ver­trä­gen – ein übrigens revolutionärer Unterschied. Verträge binden Eliten, Verfassungen sind Vereinbarungen zwischen Bürgerinnen und Bür­gern, in denen sie festhalten, wer wann wo wie viel zu sagen hat und wo die Kompetenzen zwischen den verschiedenen Entscheidungs­ebenen angesiedelt werden.

9.
Bei allen immensen Erfolgen dieses Vertrags-Europas – ich sehe den grössten nicht nur in der ausserordentlichen wirtschaftlichen Ent­wick­lung und der Versöhnung Frankreichs und Deutschlands, sondern vor allem in der Tatsache, dass nach 1989 die allermeisten ost- und mitteleuropäischen Staaten gewaltfrei integriert und die Nachkriegs­spaltung Europas friedlich überwunden werden konnte – zeigen sich heute auch die Nachteile der fehlenden europäischen Bundesverfas­sung: Die Bürger sind der EU zunehmend entfremdet, die EU ist viel zu zentralistisch und die Verträge werden in einer Art ausgelegt, dass die Märkte nicht ausreichend sozial und ökologisch korrigiert werden können - die EU-Rechtsetzung hat zudem keine ausreichende direkte demokratische Legitimation.

10.
Soll eines der Kernversprechen der Demokratie, eine gerechte Ver­tei­lung der Lebenschancen, wirklich eingelöst werden, dann muss Europa, die transnationale politische Ebene – jene, welche auf Augenhöhe den transnationalen Märkten gegenübersteht - stärker werden. Dies kann sie aber nur, wenn sie auch demokratischer wird. Das heisst, die EU muss sich eine föderalistische Bundesverfassung geben, welche von den Europäern und den Mitgliedstaaten mehrheitlich in einer einzigen ersten grossen europäischen Völkerabstimmung angenommen werden muss.

11.
Je föderalistischer und je demokratischer die EU wird, desto leichter wird es auch sein, die Schweizerinnen und Schweizer von einem EU-Beitritt zu überzeugen. Denn auch gut ausgebaute nationale Demo­kratien sind zu klein geworden zur Entscheidung der grossen existenzi­ellen Fragen - von der Art der Wirtschaft bis zum Klimawandel, von der Verkehrspolitik bis zu den Sozialstandards, die zu berücksichtigen sind -, doch die Schweizer sollen auch in der EU mitbestimmen können und dies geht nur über eigene Vertreterinnen und Vertreter. -- Ich hoffe also, das die neue Kommission einen neuen Anlauf, diesmal einen echten, für den Einstieg in den europäischen Verfassungsprozess und damit zur Transnationalisierung der Demokratie wagen wird; beispielsweise indem in die Verträge hineingeschrieben wird, dass zehn Millionen Europäerinnen und Europäer einen solchen Einstieg auslösen dürfen.

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Ich hoffe ebenso und werde alles dazu beitragen, die Europa-Debatte auch in der Schweiz von der herrschenden nationalen Priorisierung - kann man Migrationsströme beispielsweise nationalstaatlich selber wirklich steuern? - zu befreien und damit zu verhindern, dass mit einer nationalistisch verengten Perspektive der ungewollten Fremdbestim­mung der Schweiz durch die EU- Kommission und den Regierungen der EU- Mitgliedsstaaten tatsächlich Tür und Tor geöffnet werden.


Kontakt mit Andreas Gross



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