04. Dez. 2012

Auszug auf dem offiziellen Protokoll, Di, den 4.12., 08.00 bis 12.45, freie Rede nach Notizen

Die Geschichte eines ganz bewussten Verzichtes zugunsten einer starken Demokratie


AG Votum als Kommissionssprecher gegen die Volksinitiative der SVP für die Wahl des Bundesrates durch das Volk.

Ich danke Ihnen, dass Sie so früh aufgestanden sind. Es geht tatsächlich um etwas, das die Politik in unsrem Land grundsätzlich verändern würde. -- Im Sommer 2011 hat die SVP eine Volksinitiative zur Wahl des Bundesrates durch das Volk eingereicht. Das war eine Idee, mit der sie sich seit 1998 befasst hatte. Die Initiative bekam 109‘000 Unterschriften. Sie möchte eine Volkswahl des Bundesrates in einem nationalen Wahlkreis nach dem Majorzsystem, mit zwei Wahlgängen. Sie reserviert zwei Mitglieder für die sogenannt lateinische Schweiz, wobei sie dann alle Gebiete aufzählt, in denen Nichtdeutschsprachige wohnen. Der Bundespräsident würde aus der Mitte des Bundesrates gewählt.

Die SPK empfiehlt Ihnen als Zweitrat mit 16 zu 7 Stimmen, die Volksinitiative den Stimmberechtigten zur Ablehnung zu empfehlen. Auch gibt sie der Petition Wäfler, die das Gleiche verlangt, keine Folge. Die Minderheit II (Amarelle) mit fünf Mitgliedern möchten einen Gegenvorschlag machen: Sie möchte keine Volkswahl, aber sie möchte die Repräsentanz des Bundesrates durch die Erhöhung der Anzahl Bundesräte auf neun und eine andere, bessere Vertretung der lateinischen Sprachen bzw. der Welschen, der Tessiner und der Südbündner garantieren. Die Minderheit III (Glättli) nimmt die Volkswahl auf, möchte aber auch die Anzahl Bundesräte auf neun erhöhen und vor allem auch die Wahlkampffinanzierung transparent ausgestaltet haben.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns mit der Volkswahl des Bundesrates auseinandersetzen; auch unsere Vorgänger haben das immer wieder gemacht. Ein solothurnischer Staatsrechtler, der in Zürich Professor war, hat in seinem grossen Buch zur Schweizer Verfassungsgeschichte dazu geschrieben, die Volkswahlidee sei «wie die Glut, die unter verschiedenen politischen Winden periodisch immer wieder aufflamme». Es ging aber bei jenen, welche seit 1848 immer wieder die Volkswahl des Bundesrates verlangen, selten um eine bewusste Verschiebung der Gewichte zwischen den Institutionen, d. h. um ein anderes Verständnis der Demokratie. Vielmehr ist die Forderung primär eigentlich immer - und das werde ich anhand der historischen Beispiele aufzeigen - eine Folge anderer Überlegungen, meist einer subjektiven Unzufriedenheit über die Art, wie die eigene Partei, wie die eigenen Wähler im Bundesrat untervertreten seien, bzw. die Forderung nach einer anderen Politik des Bundesrates. Diese komplexe Kritik reduziert man dann auf die simple Forderung der Volkswahl.

Es wird immer wieder darauf verwiesen - und es trifft auch zu -, dass 1848 in der Verfassungskommission die Volkswahl nur mit 10 zu 9 Stimmen abgelehnt worden ist. Aber es ist ganz interessant, mit welchen Argumenten die Volkswahl damals begründet wurde. Es ging nicht um das, was uns heute beschäftigt. Vielmehr hat Herr Ochsenbein, später einer meiner Lieblingsbundesräte, die Volkswahl verlangt, weil er Angst hatte, dass das kantonale Element die Bundespolitik prägen würde, nachdem man im Nationalrat die Kantone zu Wahlkreisen gemacht hat - er sah für den Nationalrat das gesamte Land als Wahlkreis vor, verlor aber in dieser Sache und kam deshalb beim Bundesrat auf die Volkswahl mit der ganzen Schweiz als einem Wahlkreis zurück. Er hat die Volkswahl nicht deshalb verlangt, weil er dem Volk dieses Gewicht oder dem Bundesrat diese Legitimität verschaffen wollte, sondern weil er die nationale Politik gegenüber den kantonalen Interessen favorisieren wollte.

Professor Kölz, der dies Bild mit der Glut gebraucht hat, hat dann betont, dass man 1848 ganz bewusst eine Art «Parlamentsausschuss-Regierung» gewählt habe - das ist eben das, was heute geändert würde, was heute diametral anders gemacht würde, wenn man die Volkswahl einführte. Man wollte ganz bewusst keine Annäherung an die Monarchie, wie man gesagt hat, oder an ein Präsidialsystem, sondern wollte ganz bewusst «die Unterordnung der vollziehenden Behörde, der Exekutive, unter die oberste gesetzgebende Gewalt». Das heisst also: Mit der Wahl des Bundesrates durch das Parlament wollte man garantieren, dass sich der Bundesrat nicht über das Parlament hinwegsetzt, weil er bei der Volkswahl ja die gleiche Legitimation hätte wie das Parlament. Ich komme noch darauf zurück.

1863 kam die Volkswahl zum ersten Mal wieder zur Sprache. Damals sagte der Basler Linksfreisinnige Wilhelm Klein interessanterweise, man müsse den Einfluss der Wirtschaftsverbände und der Wirtschaftsleute in der Landesregierung beschränken, deshalb müsse man die Volkswahl einführen. 1873, anlässlich der ersten Totalrevision der Bundesverfassung, sagte ein Genfer genau das Gegenteil von dem, was Ochsenbein gewollt hatte. Er sagte, man müsse die Volkswahl einführen, um den Einfluss der Kantone zu stärken; er sah es also genau umgekehrt.

Die erste Volksinitiative kam, nachdem 1891/92 das Volksinitiativrecht eingeführt wurde. Die direkte Demokratie mit dem Referendum war zwanzig Jahre vorher eingeführt worden und hatte die Gewichte zugunsten der Bürgerinnen und Bürger verschoben und das Parlament sozusagen in den Sandwich zwischen Bundesrat und Volk geklemmt. Die Demokraten und die Sozialdemokraten, das waren damals zwei verschiedene Gruppierungen, hatten eine Doppelinitiative lanciert, um die Repräsentanz der Bevölkerung, der Bürgerinnen und Bürger, im Parlament zu stärken. Die Sozialdemokraten legten das Gewicht vor allem auf das Proporzsystem. Es war die erste von drei Initiativen, wobei die dritte dann, zusammen mit dem Generalstreik, tatsächlich zur Einführung des Proporzsystems führte. Die Demokraten wollten mit der Volkswahl eigentlich eine Verwaltungsreform initiieren. Sie wollten mehr «Volksmänner» in der Regierung - Frauen waren damals in der Politik noch nicht gleichberechtigt. Es gab also die gleiche Kritik an der unzureichenden Repräsentation des Bundesrates.

1942 gelangte die zweite Volksinitiative, welche die Volkswahl verlangte, zur Abstimmung. Sie kam ausschliesslich von der SP, aber mit einer ganz ähnlichen Argumentation, wie sie heute die SVP vorbringt. Die SP war zwischen 1929 und 1939 eindeutig die stärkste Partei, mit einem Anteil von 26 bis 28 Prozent bei den Nationalratswahlen. Ihr wurde - im Unterschied zur BGP, die 1929 mit Rudolf Minger ihren ersten Bundesrat bekam - der Einsitz in den Bundesrat immer verwehrt. Sie war für die Volkswahl, um die Präsenz ihrer Partei im Bundesrat zu garantieren. 1993 hat dann ein ehemaliger Kollege, Herr Hämmerle, aus Protest darüber, wie 1993 die Wahl von Frau Dreifuss erfolgte, auch die Volkswahl verlangt. Es war also wiederum ein Protest gegenüber etwas anderem.

Wenn man die Unterlagen studiert, dann sieht man meines Erachtens, dass die SVP genau gleich motiviert ist. Wie ich gesagt habe, hat sie das Thema seit 1998 beschäftigt, von dem Moment an, als ihr Bundesrat Ogi nicht mehr der Mehrheit der Partei folgte und auch sein Nachfolger, Herr Schmid, dasselbe tat. Diese These lässt sich deshalb vertreten, weil in dem Moment, als Herr Blocher im Bundesrat war, zwischen 2003 und 2007, das Volkswahlprojekt für die SVP eigentlich vom Tisch war.

Wie Sie sich vorstellen können, war die Diskussion in der Kommission heftig und kontrovers. Man war sich aber in einem Punkt einig, zog jedoch aus diesem gemeinsamen Punkt ganz unterschiedliche Konsequenzen. Man war sich einig, dass die Volkswahl die Legitimität des Bundesrates massiv erhöhen würde. Die SVP möchte dies auch. Aus Ärger über das Parlament möchte sie das Parlament schwächen. Mit einem mythischen Volksbegriff - darüber müsste man länger nachdenken - möchte sie, dass der Bundesrat «vom Volk gewählt wird und mit dem Volk regiert», ohne Rücksicht auf Parteien und Parlament nehmen zu müssen. Das ist ein anderes Demokratieverständnis als das, welches wir bisher in der direkten Demokratie im Grunde genommen haben.

Die Mehrheit der Kommission möchte keine solche Gewichts- bzw. Machtverschiebung. Im Zuge der Internationalisierung und der zunehmenden Aufgaben wird der Bundesrat eh immer stärker gegenüber dem Parlament. Wenn er dann auch noch die gleiche Legitimität hätte, dann würde er total dominieren. Das Parlament würde geschwächt, was nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger wäre. Auch in einer direkten Demokratie braucht es ein starkes Parlament, weil die Bürger meist über das entscheiden, was im Parlament beschlossen worden ist.

Wir wären zudem das einzige Land - und das, finde ich, ist ein wichtiges Argument, das in der Kommission von verschiedener Seite betont worden ist -, das jeden Minister wählen würde. Aber wir wären auch immer noch das einzige Land, das kein Gesetz zum Verhältnis zwischen Politik und Geld hat. Und ausgerechnet wir würden ein System wählen, das enorm geldintensiv wäre, das die Bundesräte beschäftigen würde und das die Kollegialität - auch ein gewolltes Prinzip von 1848 - und die Konkordanz, wie sie sich entwickelt hat, massiv untergraben würde. Jeder Bundesrat wäre, wenn er einzeln gewählt würde, noch mehr um seine Wiederwahl besorgt, anstatt auf das Ganze zu schauen und sich als Teil eines gleichen Ganzen zu verstehen.

Die Volkswahl ist schliesslich keine Komplettierung der direkten Demokratie, denn - und darauf müssen wir wahrscheinlich zurückkommen – Kern der direkten Demokratie ist die Sachabstimmung, und die Wahl ist, wie gesagt, eine Personenwahl. Die Volkswahl wäre also eine Weiterentwicklung des indirekten Teils der direkten Demokratie, nicht der direkten Demokratie selber.

Die Kommission bittet Sie deshalb, diese Initiative abzulehnen, wie dies auch der Ständerat tut, und eine Minderheit möchte Ihnen einen Gegenvorschlag unterbreiten.

Vier Stunden später nach fast 50 Redebeiträgen:
Ich möchte mich noch abschliessend zu drei Aspekten äussern:


1. Von verschiedener Seite ist Goethe zitiert worden. Es stimmt, dass Goethe eine politisch viel inspirierendere Quelle ist, als viele sich bewusst sind. Aber das Zitat, das vielleicht alle eint und das sehr prophetisch war, weil es auf ein Verständnis von direkter Demokratie hinweist, das uns eigen ist, besagt, dass «die beste Regierung jene sei, die das Volk lehrt, sich selber zu regieren»;. Damit sind vielleicht Balthasar Glättli und Hans Fehr einverstanden.

2. Wir sagen immer, die direkte Demokratie sei das Herz und der Kern unserer politischen Identität und unserer Besonderheit. Aber was auffällt: Wir haben ganz unterschiedliche Verständnisse von dieser direkten Demokratie. Das muss uns vielleicht zu denken geben. Dass wir im Kern so unterschiedliche Interpretationen haben, ist eigentlich eine Schwäche, denn jene, die sagen, die Volkswahl sei der Gipfel der direkten Demokratie, verkennen eine ihrer zentralen Besonderheiten, welche ihre Gründer und Entwickler immer besonders betont haben. Karl Bürkli zum Beispiel, ein Zürcher, der ein Pionier der Oppositionsbewegung zwischen 1860 und 1890 war, welche die direkte Demokratie mit erkämpft hat, hat diese Besonderheit betont und darauf hingewiesen, dass eine Volkswahl des Bundesrates im Kern etwas genuin anderes ist als die direkte Demokratie. Er hat gesagt, dass das Volk «weit eher verführt werden kann, wenn es um Personen geht, als wenn es um die Beurteilung von Sachen, um Abstimmungen über Gesetze geht. Dies aus dem einfachen Grunde, weil Herz und Nieren einer Person unendlich schwieriger zu prüfen sind als der Kern einer Sache, das heisst der Sinn und Geist eines Gesetzes». Diese Begründung, dass die viel ältere Wahl von Personen eigentlich eine Grenze der Demokratie sei und dass die Sachlogik eines Gesetzes einfacher zu verstehen sei als jede Person , weist auf den Kern der direkten Demokratie hin. Es geht um die Sache und nicht um die Person; dazu wäre vielleicht noch eine längere Diskussion wichtig.

3. Das entscheidende Argument der Mehrheit, weshalb wir finden, dass eine Schwächung des Parlamentes das institutionelle Gefüge in der Schweiz zuungunsten der Demokratie verschieben würde, ist das, dass zur Demokratie auch Institutionen gehören, die sich gegenseitig bremsen und zähmen. Es ist nicht so, dass im Kanton Zürich z. B. die Direktwahl der Regierung keine Konsequenzen in Bezug auf das Verhältnis zum Parlament gehabt hätte. Vor 100 Jahren, als die erste Initiative hier im Haus diskutiert wurde, hat ein Zürcher gegenüber einem Befürworter der Volkswahl argumentiert und hat einen freisinnigen Regierungsrat zitiert, wie dieser damals mit dem Kantonsrat umging. Er hatte gesagt: «Meine Herren Kantonsräte, heute» - wo die Regierung direkt gewählt ist - «sind die Dinge anders, heute sind wir nicht mehr von Ihnen» - den Parlamentariern - «abhängig, wir kümmern uns nicht um Ihre Einrede!»

Das heisst, dass sich auch in den Kantonen die Kraft der Macht aufseiten der Regierung verstärkt hat. Das war einer der Gründe, weshalb in einigen Kantonen in den letzten zwanzig, dreissig Jahren Verfassungsrevisionen stattgefunden haben, um dieses Gewicht wieder zu verschieben. Wir von der Mehrheit der Kommission glauben nicht, dass der Schweiz eine solche Verschiebung guttun würde und bitten Sie deshalb, die Volksinitiative abzulehnen.


Kontakt mit Andreas Gross



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