14. Sept. 2012
Tagblatt der Stadt Zürich
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Zum Tod von Alt-Bundesrat Otto Stich (1927-2012)
Otto Stich hatte und machte es sich nicht leicht im Leben. Ihm wurde wenig geschenkt. Umso mehr kämpfte er. Und umso mehr erkämpfte er für sich und all jene, welche die Schattenseiten des Lebens kennen.
Schon als Bub erfuhr er die Not, wenn Menschen keine Lohnarbeit finden. Seinem Vater, einem Mechaniker, erging es so, während der grossen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, in Dornach, der solothurnischen Enklave am Fusse des Jura ganz in der Nähe von Basel, 85 Jahre lang der Lebensmittelpunkt Otto Stichs. Weshalb es die Gesellschaft und ihr Staat zuliessen, dass Menschen in eine solche Not kamen? Weshalb Menschen plötzlich für ihre Arbeit nicht mehr entlohnt werden? Was tun, damit dies anders wird? Wie kann es anders bleiben?
Auf diese Fragen suchte Otto Stich Antworten. Deshalb studierte er als Arbeitersohn an der Uni Basel Volkswirtschaften. Deshalb ging er mit 20 in die Politik, wo er versuchte, die Früchte seiner Erkenntnisse für die Sache des Volkes nützlich zu machen. Mit den Sozialdemokraten, wie sein Vater. Zuerst, bereits Handelslehrer, in die Rechnungsprüfungskommission seiner Gemeinde, 1957 als Gemeinderat und bald schon als Nachfolger seines Vaters als Gemeindeammann. 1963 rutschte er für Willy Ritschard in den Nationalrat nach. Als dieser 1983 kurz vor seinem Rücktritt starb, wählte die bürgerliche Mehrheit der Bundesversammlung Otto Stich auch zu dessen Nachfolger im Bundesrat. Er wurde damals der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen vorgezogen – zum grossen Ärger der meisten aktiven SPler, auch mir, die anschliessend eine «schampar unbequeme Oppositionspolitik» (Zitat Helmut Hubacher) ausserhalb des Bundesrates erwogen hatten.
Doch Stich enttäuschte seine bürgerlichen Wähler, blieb Sozialdemokrat, machte auch im Bundesrat sozialdemokratische Politik und mauserte sich zu einem der erfolgreichsten sozialdemokratischen Bundesräte aller Zeiten. Mit der gleichen Hartnäckigkeit, einige würden wohl Sturheit sagen, mit der er zuvor opportunistischere SPler jahrelang verärgert hatte, vertrat er als Bundesrat gegen alle Mehrheiten, veröffentlichten Meinungen und Trends seine sozialen Überzeugungen, verteidigte einen ausgeglichenen Bundeshaushalt, schenkte den Reichen keine Steuersenkungen und den Banken keine Steuerschlupflöcher.
Stich arbeitete sich so nicht nur wieder ins Herz der SP zurück, sondern vermochte auch immer wieder die Mehrheit der Stimmenden von unpopulären Steuererhöhungen zu überzeugen, von einem höheren Benzinpreis beispielsweise oder vom Beitritt der Schweiz zu den Bretton Woods Institutionen, der Weltbank und dem IWF. Leise und beharrlich vertrat Stich seine Überzeugungen; unbequem, aber nie aggressiv, immer an der Sache orientiert und nie auf den Mann spielend. Und so wurde aus dem «Anti-Star von gestern», wie er auch betitelt wurde, ein klammheimlicher Liebling zumindest der politischen Nation: Viele spürten, da war einer, der nie vergass, dass jene Frauen und Männer, bei denen er gross geworden war, auch jene waren, denen er in erster Linie dienen wollte: Der grossen Mehrheit der Arbeiter und Angestellten, der Mieter und Konsumenten, denen nicht egal sein konnte, ob sie 200 Franken mehr oder weniger Lohn bekamen pro Monat.
Otto Stich mag manchen manchmal unnahbar erschienen sein. Doch diese raue Schale war viel dünner als es schien, sein Herz viel weicher, seine Sensibilität gross. Entsprechend seine Verletzlichkeit, die ihn nach Niederlagen so manche Tabakpfeife kaufen liess im Souterrain des Berner Bahnhofs. Doch diese Sensibilität, seine Fähigkeit, sich in die Nöte anderer einzufühlen und entsprechend politisch zu handeln, gab Otto Stich auch die Kraft, immer wieder die Einsamkeit auszuhalten, die ein derartiges soziales Engagement mit sich bringt. Ohne zu verhärten, ohne sich verbiegen zu lassen.
Heute können viele besser verstehen, weshalb Otto Stich ein ausgeglichener Bundeshaushalt und keine Verschuldung des Bundes so wichtig waren. Er wollte nicht von den Banken abhängig werden, er wollte möglichst wenig Steuergelder für Zinsen ausgeben. Deshalb kämpfte er jahrelang und ganz entschiedenen gegen den mehr abstimmungstaktisch als volkswirtschaftlich begründeten gleichzeitigen Bau von zwei Alpenbasistunnels und als er 1995 im Bundesrat unterlag – trat Stich zurück. Nicht aus Altersgründen, nicht um der SP bessere Wahlchancen zu verschaffen, wie viele in seinen Rücktritt hineinzuinterpretieren versuchten, sondern weil er einfach die Verantwortung für das, was er als Fehler ansah, nicht übernehmen wollte.
Otto Stich pfiff auf Trends, er passte sich nicht an, er blieb sich und seinen Überzeugungen treu, auch wenn rund um ihn herum alle mit den Fingern auf ihn zeigten. Das machte ihn stark, authentisch und zu einem der glaubwürdigsten Sozialdemokraten, den die Schweiz in den letzten 40 Jahren kannte. Er wird uns fehlen.
Kontakt mit Andreas Gross
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