3. Sept. 2012

Tages-Anzeiger

«Die SVP bringt Argumente gegen die Direkte Demokratie und das Referendum als solches, nicht gegen das Konstruktive Referendum»


Mit Andreas Gross und Claudio Zanetti sprachen Pascal Unternährer und Thomas Zemp.

Herr Zanetti, ausgerechnet die SVP, die sich oft aufs Volk beruft , will ein Volksrecht abschaffen. Das müssen Sie uns erklären.

Zanetti: Es geht nicht darum, dem Volk etwas wegzunehmen. Sondern darum, Klarheit zu schaffen. Denn mit dem konstruktiven Referendum ist vieles unklar geworden. In einer Demokratie ist nicht entscheidend, wie oft wir abstimmen. Sonst müssten wir uns auch fragen, warum die Befürworter des konstruktiven Referendums für die Abschaffung des obligatorischen Gesetzesreferendum waren. Warum waren sie gegen die Ausweitung des Staatsvertragsreferendums? Warum wollen Sie keine Demokratie bei den Einbürgerungen? Warum wollen Sie ein Verfassungsgericht, das sich als Wächter der Demokratie aufspielen soll? Warum sind Sie gegen die Direktwahl des Bundesrates durch das Volk? All das fordern wir. Es kann uns niemand sagen, wir seien gegen die Demokratie.

Und was sind Ihre konkreten Gründe für die Abschaffung des konstruktiven Referendums?

Zanetti: Weil dem Stimmbürger damit bei Abstimmungen eine Auswahlsendung präsentiert wird. Die Varianten, die sich dadurch ergeben, führen zu Verwirrungen. Beim Steuergesetz zum Beispiel gelangten drei Vorlagen zur Abstimmung, dabei waren 729 Kombinationen möglich. Das kann niemand mehr begreifen. Ich behaupte, kein einziger Kantonsrat wäre in der Lage gewesen, kompetent Auskunft zu geben.

Herr Gross, haben Sie diese Abstimmung begriffen?

Gross: Ja, mithilfe der Medien, die genau erklärt haben, was die Logik hinter den einzelnen Stichfragen war. Claudio Zanetti verlangt Klarheit. Sein Problem ist, dass ihm als Parlamentarier nicht klar ist, wie ein Gesetz genau ausschaut, wenn es im Kantonsrat fertig beraten ist. Denn er weiss nicht, wer ein konstruktives Referendum ergreift. Bürgerinnen und Bürger können mit diesem Instrument noch klarer sagen, was sie wollen. Sie haben mit dem konstruktiven Referendum die gleiche Möglichkeit wie das Parlament: Dieses kann einer Initiative des Volks einen Gegenvorschlag gegenüberstellen. Nun kann der Stimmbürger zu einem Artikel eines Gesetzes des Parlaments einen Gegenvorschlag machen. Das Parlament darf das seit über 100 Jahren, das Volk aber erst seit sechseinhalb Jahren und ist zufrieden damit.

Trotzdem: Die Abstimmungen werden komplizierter.

Gross: Das liegt aber nicht am konstruktiven Referendum alleine: Beim Spitalfinanzierungsgesetz kam eine der beiden Varianten vom Parlament. Der Kantonsrat verzichtet aber nicht von sich aus auf seine Varianten. Dieses Recht will das Parlament behalten, dasselbe Recht dem Volk aber wegnehmen. Das zeigt letztlich: Hinter der kantonsrätlichen Forderung nach Abschaffung des konstruktiven Referendums steht der Parlamentsegoismus, diese Mehrheit will eigentlich eine parlamentarische Dominanz.. Wir leben aber in einer direkten Demokratie. Und in der Verfassung steht: Der Kantonsrat besorgt im Zusammenwirken mit den Stimmberechtigten, nicht an deren Stelle oder in deren Namen, die Gesetzgebung und Verfassungsentwicklung.

Herr Zanetti: Warum soll das Volk künftig nicht mehr das machen dürfen, was das Parlament darf?

Zanetti: Weil das Volk das Parlament eingesetzt hat. Es wird immer wieder behauptet, in der Schweiz hätten wir eine direkte Demokratie. Das stimmt so nicht. Wir haben eine Referendumsdemokratie ...

Gross: ...das ist eine ganz heisse Aussage. Die Referendumsdemokratie ist ein Teil der direkten Demokratie.

Zanetti: Wir haben viele direktdemokratische Elemente. In der reinen Lehre würde eine direkte Demokratie bedeuten: Das Volk stimmt über sämtliche Fragen ab.

Gross: Dieses Zanetti’sche Verständnis der Direkten Demokratie ist völlig neu und abwegig. Entscheidend ist, dass die Stimmberechtigten über die umstrittenen, nicht über alle Frage abstimmen können. Und es gibt keine Demokratie ohne Parlament, auch keine direkte.

Zanetti: In der Schweiz haben wir aber ein Parlament, das vom Volk eingesetzt wird. Das Parlament hat den Auftrag, Gesetze zu machen. Dafür wird es bezahlt. Der Bürger hat das Recht und die Pflicht, Gesetze zu machen, delegiert. Er hat aber immer noch das Recht, am Schluss Ja oder Nein zu einem Gesetz zu sagen.

Gross: Das einfache Ja- und Nein-Sagen ohne Varianten ist doch eine Simplifizierung der Demokratie.

Zanetti: Der Bürger will sich gar nicht um die Details kümmern.

Gross: Vielleicht der SVP-Bürger ... Die meisten Bürgerinnen und Bürger wissen aber, dass auch in der Politik der Teufel im Detail sitzt und kümmern sich immer wieder auch darum.

Zanetti: Wir hatten in den letzten Jahren mehrmals Abstimmungen mit konstruktiven Referenden, bei denen man das Resultat infrage stellen kann.

Zum Beispiel?

Zanetti: Das Hundegesetz. Die Variante A erzielte mehr Ja-Stimmen, bei der Stichfrage bevorzugten die Bürger die Variante B. Das ist unlogisch. Ich will das Ergebnis als Demokrat nicht anzweifeln. Vermutlich wurde da aber etwas nicht ganz richtig verstanden. Der Stimmbürger hat meiner Ansicht nach aber das verfassungsmässige Recht, dass er am Abstimmungsabend weiss: Das will die Mehrheit.

Gross: Sie stören sich ganz offensichtlich an der Stichfrage, nicht am konstruktiven Referendum. Doch diese gibt es auch bei Volksinitiativen, wenn das Parlament eine Variante zur Abstimmung bringt, oder wenn es eine Variante der Volksabstimmung unterbreitet. Bei den acht Abstimmungen mit konstruktiven Referenden im Kanton Zürich gibt es nicht ein einziges Resultat, das, nicht in sich logisch gewesen wäre.

Herr Zanetti, ist für Sie das Volk zu dumm für solche Abstimmungen?

Zanetti: Das würde ich nie sagen. Nochmals: Ein Kantonsrat – oder auch ein Regierungsrat –, der sich intensiv mit den Fragen auseinandergesetzt hat, ist bei gewissen Kombinationsmöglichkeiten nicht mehr in der Lage zu erklären, so oder so ist es. Dazu kommt: Solche Varianten können auch justiziabel sein.

Hat‘s das schon gegeben?

Zanetti: Ja, beim Flughafen, da wurden Vorschläge für teilungültig erklärt, der Streit ging schliesslich bis vor Bundesgericht ...

Gross: ... in der Ausmarchung im Kantonsrat haben Grünliberale das neue Volksrecht eingesetzt und ausgereizt. Bei jedem neuen Volksrecht wird dies versucht. Mit Hilfe des Bundesgerichtes lernen dann die Parlamentarier damit korrekt umzugehen.

Zanetti: Genau hier liegt der Punkt: Das konstruktive Referendum sollte ein Volksrecht sein, in der Regel greifen aber Parteien zu diesem Instrument, und nicht Bürger. Ein einziges konstruktives Referendum stammte nicht von Parteien, sondern von ÄÄrzten. Das ist eine sehr gut vernetzte Bevölkerungsgruppe. Nur solch schlagkräftige Organisationen können ein konstruktiven Referendum als letzten Rettungsanker organisieren.

Gross: Auch das wäre ein Argument gegen die Direkte Demokratie und das Referendum als solches, nicht gegen das Konstruktive Referendum.

Passiert nicht dasselbe bei einem einfachen Referendum und einer Volksinitiative? Die kommen meist auch von Parteien.

Zanetti: Das sind zwei unterschiedliche Volksrechte. Unsere Verfassungsväter haben sich etwas überlegt. Sie sagten 1874: Wir führen eine Initiative ein, mit der man etwas Neues anstossen kann – das dann in der Verfassung festgeschrieben wird und nicht in einem Gesetz. Dabei müssen Volk und Stände zustimmen. Die Gesetzesinitiative wurde ja einmal eingeführt, aber zum Glück wieder abgeschafft, bevor sie zum ersten Mal zum Einsatz kam.

Sie sind also nicht für jedes Volksrecht, das möglich wäre?

Zanetti: Wir wären für weitere Volksrechte: Das obligatorische Gesetzesreferendum wurde gegen den Willen der SVP abgeschafft.

Gross: Weil es zu unnötigen Abstimmungen führte und die Regierung dazu verleitet hat, via Verordnung Volk und Parlament zu umgehen. Das hat nichts mit dem konstruktiven Referendum zu tun.

Zanetti: Natürlich nicht, aber mit Partizipation, die für Sie so wichtig ist. Und ich frage Sie darum: Warum ist die Partizipation bei Staatsverträgen nicht gut? Beim Einbürgern?

Gross: Bei umstrittenen Staatsverträgen funktioniert das fakultative Referendum bestens. Beim Einbürgern findet die Demokratie statt. Denn die Hürden für Einbürgerungen sind gesetzlich festgelegt, die unterstehen dem Referendum. Wenn Sie in Zollikon ein Haus bauen wollen, müssen Sie sich an die Bauzonenordnung halten, die demokratisch beschlossen wurde. Die Verwaltung entscheidet schliesslich, ob ihr Haus der Bauzonenordnung entspricht und nicht das Volk. Das ist vergleichbar.

Zanetti: Ihr verwehrt den Bürgerinnen und Bürgern zu entscheiden, wer eingebürgert werden soll und wer nicht.

Zurück zur Frage der Parteien: Diese und nicht das Volk haben bis jetzt fast immer das Mittel des konstruktiven Referendums gegriffen.

Gross: Parteien gehören auch zum Volk. Hätte man Parteien ausschliessen wollen, hätte man in der Verfassung schreiben müssen, dass alle ausser die Parteien das konstruktive Referendum ergreifen können.

Zanetti: Das geht doch nicht.

Gross: Dann dürfen Sie sich jetzt aber auch nicht beklagen, dass Parteien das konstruktive Referendum benutzen. Zumal Parteien über die Zeit gesehen Volksrechte wie Referendum und Initiative sehr unterschiedlich einsetzen. Vor 40 Jahren nutzten diese vor allem Linke und Mitteparteien, vor 20 Jahren waren diese Parteien in der Minderheit. Heute wiederum lancieren alle Parteien Initiativen, sogar die Freisinnigen. Das konstruktive Referendum wird sich entwickeln. Man darf es nicht wegen der Parteien abschaffen ...

Zanetti: ... das sagt doch niemand ...

Gross: ... doch: Sie ...

Zanetti: ... es geht um Rosinenpickerei der Parteien. Das konstruktive Referendum bietet ihnen Möglichkeiten dazu.

Gross: Keineswegs. Die bisherigen Beispiele zeigten: Einige haben dies vielleicht so gemeint und versucht, sind aber immer gescheitert.

Das hat ja die SVP auch gemacht. Oder nicht?

Zanetti: Das Sozialhilfegesetz fanden wir eigentlich gut. Wir wollten aber eine Verschärfung bei den abgewiesenen Asylbewerbern.

Gross: Bei der Arbeit an einem Gesetz müssen im Parlament alle Kompromisse machen. Wer heute das Gefühl hat, der Kompromiss sei schlecht, und er sei nicht angemessen berücksichtigt worden, kann ein konstruktives Referendum ergreifen. Die Tatsache, dass ein solches Recht existiert, zwingt das Parlament zu einer solideren Arbeit. Der Tages-Anzeiger schrieb, der Ton im Kantonsrat sei wegen des konstruktiven Referendums härter geworden. Das ist ein Argument für meine Seite. Die, die kämpfen, wissen, dass sie ein Instrument hinter sich haben, das sie einsetzen können, wenn sie den Eindruck haben, nicht richtig gehört worden zu sein.

Zanetti: Kompromisse werden ja nicht im Parlament selber, sondern in Kommissionen getroffen. Da kommt man sich viel eher entgegen.

Haben Sie in Kommissionssitzungen auch schon mit konstruktiven Referenden gedroht?

Zanetti: Nicht explizit mit dem konstruktiven Referendum. Beim Integrationsgesetz, wo Arbeitgeber für Kurse hätten bezahlen sollten, sagte ich, dass die SVP dagegen garantiert ein Referendum ergreifen würde.

Gross: Es gibt keine Kommissionsdebatte, zumindest auf nationaler Ebene, in der nicht einer mit einem Referendum droht.

Zanetti: Das Konstruktive ist halt doch noch einmal etwas anderes. Und das existiert auf Bundesebene ja gar nicht.

Gross: Das konstruktive Referendum ist das bessere Instrument, weil es das ehrlichere ist. Es ist aber auch anspruchsvoller. Denn beim einfachen Referendum können sie ganz verschiedene Neins hinter sich scharen, das führt zu unheiligen Allianzen. Das konstruktive Referendum zwingt sie, konkrete Alternative aufzuzeigen. Das zwingt das Parlament zu präziseren Verständigungsanstrengungen. Und uns Parlamentarier dazu, genauer auf die Leute zu hören. Es verhindert somit, dass Parlamentarier zur Classe Politique werden und abheben, um einen Ausdruck der SVP zu verwenden.

Welche Erfahrungen hat denn die SVP gemacht mit den konstruktiven Referenden, die sie ergriffen hat?

Zanetti: Es hat uns zusätzliche Profilierungsmöglichkeiten gegeben.

Gross: Die SVP konnte sich dabei nicht nur profilieren, sondern sagen, welchen Vorschlag sie besser findet. Genau das wollen wir. Es macht die öffentliche Diskussion präziser.

Obwohl die SVP auch schon konstruktive Referenden ergriffen hat, will sie dieses abschaffen. Ist das nicht widersprüchlich?

Zanetti: Unter dem Strich ist es für die Demokratie besser, wenn wir klare Verhältnisse haben: Mit der Initiative kann das Volk etwas anstossen, mit dem einfachen Referendum stoppen. Dem Volk ist besser gedient, wenn er dem Parlament sagen kann, dieses habe die Arbeit gut gemacht. Denn vom Volk haben wir den Auftrag erhalten, Gesetze zu machen. Und nicht, ihm eine Auswahl zu präsentieren.

Warum wurden bisher alle konstruktiven Referenden abgelehnt?

Gross: Die Kompromisse im Parlament waren genügend solide und konnten die Mehrheit der Stimmberechtigten überzeugen.

Wäre es möglich, das konstruktive Referendum zu verbessern?

Zanetti: Die CVP machte den Vorschlag, die Unterschriftenzahl zu erhöhen. Das löst aber das Problem nicht, denn es handelt sich um ein strukturelles Problem. Die Regierung war zu meiner Ü&Uuuml;berraschung auch für die Abschaffung. Mit dieser Unterstützung habe ich nicht gerechnet.

Gross: Regierungs- und Kantonsrat wollen ein vom Volk beschlossenes neues Volksrecht nach sechseinhalb Jahren schon wieder abschaffen , das ist ebenso respektlos wie falsch.

Zanetti: Nach acht Anwendungsfällen darf man darüber diskutieren.

Gross: Gewiss, diskutieren darf man immer über alles. Man kann es sogar verbessern: Wenn mehr als zwei Varianten vorliegen, wird es tatsächlich unübersichtlich. Das Problem kann in einem Ausführungsgesetz gelöst werden. Doch dafür müssen wir das Recht erhalten, nicht abschaffen.

Neben Zürich kennen nur die Kantone Nidwalden und Bern das konstruktive Referendum. Wenn es ein so gutes Instrument ist: Warum haben es nicht mehr Kantone eingeführt?

Gross: Die Demokratisierung der Demokratie hat vor allem in der deutschen Schweiz mit Ausnahme des fundamentalen Frauenstimmrechtes und des Staatsvertragsreferendum im 20. Jahrhundert stagniert. Deshalb bin ich gar nicht unglücklich über diese Diskussion im Kanton Zürich. Sie erlaubt uns, nach- und weiter zu denken. Bern hat übrigens eine Bremse eingebaut: Wenn das Parlament eine Variante vorschlägt, kann kein konstruktives Referendum mehr ergriffen werden. Das wollten wir im Verfassungsrat aber nicht, weil das Parlament das Volk so bevormunden könnte.

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Link zur Variante, wie sie im TA abgedruckt worden ist.


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