27. Okt. 2011
WOZ
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Revolution demokratisiert – Demokratie revolutioniert
Der 23. Oktober 2011: Ein Meilenstein in der Geschichte Tunesiens. Der Tag, an dem Tunesien gewann.
Von Andi Gross
Drei Stunden war er in der Schlange gestanden im weiss getünchten Pausenhof der Primarschule von Karthago. Die dreistöckige Primarschule mit den schmucken blauen Fenstern und Türen enthielt drei Wahllokale. Achmed, 46 Jahre alt, Computerspezialist, Familienvater. Drei Stunden stand er am vergangenen Sonntag, 26 Grad im Schatten, ohne Fläschchen Wasser bei sich, ohne Zeitung, ohne MP3 oder I-Pad, einfach ruhig gewartet, ab und zu einen Schritt weiter, ab und zu eine schwangere Frau oder einen alten Mann an sich vorbei lassend. Um sich herum mindesten vier Hundert weitere Tunesierinnen und Tunesier, jeglichen Alters, jeglicher Hautfarbe, mit ganz verschiedenen Hintergründen, mit oder ohne Kopftuch, in drei Reihen wartend, die spontan und doch kunstvoll rund um die zwei Bäume drei Menschenbanden bildeten, so wie in vielen der 8000 Wahllokale, meist Schulhäuser, Tunesiens. Bilder der ersten freien Wahl in der Geschichte des Landes Tunesiens, welche um die Welt gingen.
Endlich durfte Ahmed durch die Türe treten. Er zeigte der Wahlbürofrau seinen Zettel mit der langen Nummer. Sie fand diese in der zehn Zentimeter dicken Wählerliste wieder. Er unterschrieb neben seiner Nummer, tauchte seinen Zeigfinger in ein Plastikfläschchen mit schwarzer Tinte – das zweite Bild der freien Tunesier, das um die Welt ging -, tupfte die schwarze Fingerspitze mit WC-Papier ab, bekam einen A5-Bogen mit 80 Namen von Parteien, Kleinstparteien, freien Listen und ihren Symbolen von der Sonne über den Fisch bis zum Kamel und verschwand hinter einem der drei weissen Stimmkabeuschen aus Karton um das Kreuz zu machen, am richtigen Platz, neben dem richtigen Symbol. Dann trat Ahmed wieder hervor, faltete den Bogen zweimal und steckte ihn in den roten Schlitz der durchsichtigen Wahlurne. Erhobenen Hauptes, sichtlich mit sich und der Welt zufrieden, blickte er in die Runde und strebte wieder zur Tür hinaus. Da fragte ihn einer der internationalen Beobachter, ob sich das gelohnt habe, die dreistündige Warterei. Ahmed blickte ihn ungläubig an. Er sprach französisch, verstand auch die Frage und schüttelte dennoch den Kopf, mit einem leisen verständnisvollen Lächeln im Gesicht. Er sei 46 Jahre alt, antwortete Ahmed: «26 Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet, 26 Jahre habe ich mich danach gesehnt, frei wählen zu dürfen, unbedrängt entschieden zu dürfen, wer mich vertreten darf, 26 Jahre! Was sind diese drei Stunden angesichts dieser 26 Jahre? Ich hätte heute morgen auch länger gewartet, wenn es nötig gewesen wäre! Diese paar Stunden sind nichts gegen die Ewigkeit, während der wir uns auf diesen Moment gesehnt haben.»
In den 1930er Jahren begannen die Tunesier ihren Befreiungskampf gegen die kolonialen Herrschaften. Sie, die sich schon 1862 als erster afrikanischer Staat eine ordentliche Verfassung gegeben hatten. 1956 erkämpften sie sich die Unabhängigkeit. Doch schon ihr erster Präsident erwies sich als Autokrat. Der zweite etablierte 24 Jahre lang eine Diktatur, die sie als eine der grausamsten der Welt bezeichneten. Zur Unterdrückung jeglicher Kritik, jedes eigenen Gedankens, kam die schamlose Bereicherung eines ganzen Clans, die Privilegierung einzelner Landesgegenden gegenüber den meisten anderen. Das Land siechte dahin. Hunderttausende ohne Lohnarbeit, davon fast 200'000 mit abgeschlossenem Universitätsstudium. Ein unwürdige Existenz, erbarmungslos. Millionenfache Erniedrigungen. Eine Kaltschnäuzigkeit einer Provinzbürokratin war dann zu viel. Am 17. Dezember 2010 hatte ein junger, einfacher Gemüsehändler , der eigentlich studieren wollte, es satt. Mohamed Bouazizi übergoss sich vor dem Stadthaus von Sidi Bouzid, wo ihm ohne Grund, rein schikanös, die Standbewilligung verweigert worden war, mit Benzin und zündete es an. 16 Tage später starb er. Doch dies war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hunderttausende gingen auf die Strasse. An allen Orten.
Revolution. Am 14. Januar 2011 zog der Diktator ab. Am 15. Januar wurde die autoritäre Verfassung aufgehoben. Drei grosse revolutionäre Gremien wurden geschaffen. Eine provisorische Regierung neu gebildet. Sie vermochten eine revolutionäre Ordnung zu schaffen, illegal, aber legitim. Sie fanden in tagelangen, nächtelangen Debatten auch zu neuen Gesetzen, dem Wahlgesetz beispielsweise, einem Parteiengesetz, die am vergangenen Sonntag für alle faire, freie, transparente und unabhängige Wahlen zur Nationalen Verfassungsgebenden Versammlung ermöglichten, von denen sogar die gleichentags wählende Schweiz etwas lernen könnte.
Die Gewinner der Wahlen stehen im Detail noch nicht fest. Doch die grössten Sieger dieser ersten freien Wahlen sind alle Tunesier und Tunesierinnen. Die Revolution! Erstmals haben sie sich eine politische Institution geschaffen, welche Macht legal und legitim ausüben kann. Sie wird innert einem Jahr nicht nur eine neue Verfassung ausarbeiten, sondern bald auch eine neue Regierung und einen neuen Präsidenten wählen. Am 23. Oktober hat das tunesische Volk illustriert, was Volkssouveränität, Freiheit, Demokratie, wirklich meinen. Begriffe, die hierzulande für zu viele ihren Glanz verloren haben. Tunesien hat sie gelebt, geschaffen und die ersten Früchte geerntet. So meinte Ahmed auch noch im Pausenhof: «Wir werden nie mehr Angst haben müssen vor der eigenen Meinung und deren öffentlicher Diskussion. So werden wir auch nie mehr zulassen, dass uns jemand unsere Macht wegnimmt und uns unterjocht. Unsere Befreiung ist nicht mehr rückgängig zu machen.» Das ist die tunesische Botschaft des 23. Oktober 2011!
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