23. Sept. 2011
Editions le Doubs
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Die kleine Konkordanz für Zeiten grosser Probleme
Beitrag zu: Andreas Gross, Fredi Krebs, Dani Schönmann, Martin Stohler - Über den Herbst hinaus. Innenpolitische Alternativen mit europäischer Perspektive, Editions le Doubs, 256 Seiten (hier: S. 37 - 40), St-Ursanne 2011.
Das Buch wird am 30. September in Bern und am 1. Oktober um 17 Uhr im Nasobem in Basel der Öffentlichkeit vorgestellt.
Von Andreas Gross
Kollegialität als Verfassungsauftrag, Konkordanz als Folge: In Zeiten des Umbruchs kann sich die Schweiz die grosse Konkordanz nicht mehr leisten.
1959, als vier Bundesräte neu gewählt werden mussten, verständigten sich die vier grossen Landesparteien bezüglich der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung auf die sogenannte Zauberformel. Wenn sich in ihr auch die parteipolitischen Stärkeverhältnisse widerspiegelten, so war sie doch viel mehr als das: nämlich der Ausdruck einer breiten programmatischen Übereinkunft.
Die damaligen Bundesratsparteien waren sich nämlich über die Parteigrenzen hinweg zu 75 Prozent einig, was der Bundesrat zu tun habe und was für die Schweiz zu tun sei. Dies änderte sich aber spätestens im Laufe der 1980er-Jahre.
Die Erosion der programmatischen Gemeinsamkeiten der grossen Vier-Parteien-Konkordanz begann allerdings schon vor dem Ende des Kalten Krieges. 1975, das Jahr, in dem das Ende des AKW Kaiseraugst mit der Besetzung des Baugeländes begann, kann als symbolischer Wendepunkt angesehen werden. Die Umweltfrage begann den ökonomischen Mainstream ebenso in Frage zu stellen wie zu begrenzen. Die militärische Hegemonie in der schweizerischen Sicherheitspolitik geriet ins Wanken. Es war nicht mehr alles richtig, was möglich schien, selbst wenn es schon ordentlich entschieden worden war. Die Folgen des kulturrevolutionären 68 begannen die offizielle Politik auch in der Schweiz zu erfassen. Ölkrise und Wirtschaftseinbruch machten unterschiedliche Interessen deutlich. Dies kam auch in den Parteien zum Ausdruck, am deutlichsten in der SPS, doch auch in der CVP machten sich Reformer bemerkbar. Die Grünen formierten sich zum Ende des Jahrzehnts.
Vergessener Auftrag der Bundesverfassung
Die grosse Wende des Jahres 1989 beschleunigte die Erosion der programmatischen Gemeinsamkeiten der schweizerischen Bundesratsparteien vehement. Felsen dieser selbstverständlichen Gemeinsamkeiten schmolzen dahin wie die berühmte Butter an der Sonne: die traditionelle Neutralität, die aussenpolitische Abstinenz, die Doktrin der autonomen Landesverteidigung, das Sonderfalldenken, das traditionelle Fortschritts- und Wachstumsverständnis (immer mehr sei identisch mit immer besser); der Autobahn-AKW-Armee-Konsens war dahin.
Doch je deutlicher der Zerfall des Konkordanz-Kerns wurde, desto mehr wurde das Ende der bisherigen Konkordanz offiziell geleugnet. Selbst dann, als es auch in der personellen Zusammensetzung des Bundesrates nicht mehr zu übersehen war: So vertrat der SVP-Bundesrat Adolf Ogi als EMD/VBS-Vorsteher die Mehrheit seiner Partei im Bundesrat ab 1995 genauso wenig wie sein gegen eben diese Mehrheit gewählter Nachfolger Samuel Schmid.1
Bereits vor den Nationalratswahlen 2003 reduzierten alle Bundesratsparteipräsidenten - SPS-Präsidentin Brunner eingeschlossen - die Konkordanz auf ihren kleineren, mathematischen Teilaspekt. Die spektakuläre Abwahl der CVP-Vertreterin Metzler und die Wahl der personifizierten Anti-Konkordanz Christoph Blocher als zweiter, echter SVP-Vertreter waren die Konsequenz dieser mathematischen Reduktion. Ganz vergessen ging der einzige Auftrag, den die Bundesverfassung an den Bundesrat stellt: Die Schweiz kollegial zu regieren.
Konkordanz bedingt eine gemeinsame programmatische Basis
Erwartungsgemäss war Christoph Blocher dazu nicht fähig. Die Quittung erhielt er im Dezember 2007 nach grosser Überzeugungsarbeit seiner Gegner und wider jegliche mathematische Logik und Reduktion der Konkordanz auf eine numerische Formel der exekutiven Proportionalität. Dennoch wurde im herrschenden öffentlichen Diskurs weiterhin die von den allermeisten gewünschte Konkordanz auf die arithmetische und proportionale Dimension reduziert und dabei die Logik der parlamentarischen Repräsentativität im Namen der direkten Demokratie doppelt falsch auf die Regierung projiziert. Entsprechend schaffte es Ueli Maurer ganz knapp als Nachfolger Samuel Schmids.
Erst der fundamentalistische Umgang der SVP mit Eveline Widmer-Schlumpf sowie das absolute Regierungsversagen von Bundesrat Merz im Besonderen und des Nicht-Kollegiums im Allgemeinen in den Vielfachkrisen der Jahres 2009/2010 (UBS, Libyen etc.) verschaffte der Einsicht zum Durchbruch, dass mit der Konkordanz doch auch eine mehr oder weniger grosse gemeinsame programmatische Basis gemeint sein muss.
Konsequent verfolgte Reformen sind gefragt
Deutlich wurde dies im Frühjahr 2011 nicht nur in Statements des CVP- und des FDP-Parteipräsidenten, sondern vor allem auch in der entsprechenden Artikel-Serie der NZZ vom Januar bis zum April 2011.2 Martin Senti bilanzierte: «Das Machtkartell wankt - nicht die Konkordanz», und Professor Pascal Scarini nahm ohne Quellenhinweis unsere seit 1999 zur Diskussion gestellte Reformperspektive auf unter dem Titel «Plädoyer für die kleine Konkordanz - Mehr Zusammenhalt und verbesserte Regierungsfähigkeit durch Ausschluss einer der Polparteien».3
Der Atomausstiegs-Beschluss des Bundesrates im Frühjahr 2011 ebenso wie der Bundesratsbeschluss zur Milderung der Folgen der Frankenstärke lieferten weitere empirische Belege für die These, dass in Zeiten der Umbrüche und Krisen eine Regierung, die alles und jedes und auch nichts will, nichts taugt, sondern enorm schadet. In solchen Zeiten braucht es kohärente Reformvorschläge, die überzeugend vorgetragen und dann auch nachhaltig über Jahre hinweg konsequent verfolgt werden.
Politik aus der untersten Schublade: Kuhhandel und Erpressungsversuche
Doch kaum hatte Micheline Calmy-Rey Anfang September ihren Rücktritt angekündigt, schienen alle besseren Einsichten aus den vergangenen Monaten vergessen zu sein. Kaum einer widersprach dem SVP-Präsidenten, als dieser meinte, die SP könne nun mit der Wahl eines zweiten SVP-Bundesrates die Konkordanz wiederherstellen. Wenn widersprochen wurde, dann galt der Widerspruch nur dem damit verbundenen Erpressungsversuch beziehungsweise dem Kuhhandel, den Brunner vorschlug: Wenn die SP einen zweiten SVP-Bundesrat wähle am 14. Dezember 2011, dann würde die SVP im letzten Wahlgang dieses Wintertages auch den zweiten SPler wählen.4
Auch NZZ-Redaktor Martin Senti fiel wieder in die alte die Konkordanz auf Proporz und Arithmetik reduzierende Logik zurück, als er sich zur These verstieg, Micheline Calmy-Rey habe durch ihren Rücktritt «die Konkordanz gerettet», indem sie zwecks Absicherung des zweiten SP-Sitzes die SP zur Wahl des zweiten SVP-Bundesrates «disziplinieren» würde.5
Dass einige SP-Parlamentarier via Sonntagspresse am Wochenende nach der Ankündigung des Rücktritts von Calmy-Rey den Eindruck erweckten, sie würden durchaus den Anspruch der SVP auf zwei Sitze anerkennen und eher durch die Abwahl eines der beiden FDP-Vertreter Platz schaffen für die von vielen respektierte und deshalb nicht abzuwählende Eveline Widmer-Schlumpf, halte ich für sowohl grundsätzlich wie taktisch falsch.6 Grundsätzlich, weil in der kleinen Konkordanz die FDP miteinbezogen werden muss, und taktisch, weil es falsch ist, die FDP insgesamt, und sei dies auch nur rhetorisch, noch näher Richtung SVP zu treiben.
Sollte die FDP tatsächlich weiter Wähleranteile verlieren und die Grünen solche gewinnen, dann gehört es zu den im Rahmen und im Hinblick auf die kleine Konkordanz zu fassenden Absprachen, den Grünen anlässlich des nächsten ordentlichen Rücktritts der erst 2009 und 2010 in den Bundesrat gewählten FDP-Bundesräte diesen Sitz zuzusagen.7
Neue Perspektiven und Gewinn an Glaubwürdigkeit
Die Schweiz muss lernen, sich auch in Sachen Zusammensetzung des Bundesrates zu entscheiden. In schwierigen Zeiten des Umbruchs kann sich auch die Schweiz keine Regierung mehr leisten, in der sich zu viel Energie gegenseitig neutralisiert, ja lähmt. Wir brauchen Reformen im Interesse aller, die in sich stimmen, Reformen, für die Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. Dies kann nur eine kleine Konkordanz mit einer Mitte-links-Kollegialität gewährleisten. Und wenn diese will, dann vermag sie im Parlament und unter den Stimmberechtigten auch gegen eine sich gegen alles und jedes sträubende SVP notwendige Mehrheiten zu schaffen.
Eine solche kleine Konkordanz dürfte parteipolitisch durchaus zu Verschiebungen führen, wobei die Stahlhelmtruppen der CVP und FDP sich der SVP anschliessen dürften. Doch links, grün und die Mitte würden ebenso gewinnen wie die Glaubwürdigkeit und die Kraft der Politik ganz allgemein.
1 Wir gehörten mit Zeitungsartikeln (1999) und in Buchform zu den Ersten, die auf diese Erosion, die Krise und dann das Ende der grossen Konkordanz aufmerksam machten. Siehe Eine andere Schweiz ist möglich (2003), Fahrplanwechsel (2007) und Bundesratswahlen sind keine Casting-Show (2009), jeweils herausgegeben von Gross/Krebs/Stohler u.a. in den Editions le Doubs.
2 Die Serie begann unter dem Titel Konfusion um Konkordanz in der NZZ vom 21.1.2011 und endete am 7.4.2011.
3 NZZ vom 16. 3. 2011
4 SPS-Präsident Levrat widersetzte sich der mathematischen Reduktion der Konkordanz auch im Gespräch auf TSR vom Sonntagabend, dem 11.9.2011, nicht, indem er den Anspruch der SVP auf zwei Bundesratssitze anerkannte. Ja, er unterstrich die proportionale Reduktion der Konkordanz dadurch, dass er die Zusammensetzung des Bundesrates ganz vom Ausgang der Wahlen in den National- und Ständerat abhängig machte. Levrat simplifizierte auch dahingehend, als er als Alternative zur grossen Feuer-&-Wasser-Konkordanz nur ein traditionelles Konkurrenzsystem erwähnte, was niemand ernsthaft will und was die kleine Konkordanz vergessen gehen lässt.
5 NZZ vom 8. 9. 2011
6 NZZ am Sonntag und Sonntagszeitung vom 11. 9. 2011; vielleicht ist dieser Diskurs aber auch nicht ganz zum Nennwert zu nehmen, sondern sollte bloss die FDP dazu einladen, mit der SP eine gegenseitige Unterstützung auszuhandeln.
7 Genau so haben dies 1955-1959 auch die CVP/FDP/BGB mit der SP gemacht, als diese 1952 nach dem politisch motivierten Rücktritt von Max Weber nicht mehr im Bundesrat vertreten war: Bei der nächsten Vakanz wurden ihr zwei Sitze zugesprochen, was 1959 dann der Fall war und zur berühmten Zauberformel im Bundesrat geführt hat. Eine weitere Möglichkeit wäre selbstverständlich, im Rahmen der Regierungsreform endlich die Zahl der Bundesräte auf neun zu erhöhen und einen von ihnen den Grünen zukommen zu lassen.
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