04.01.2003
Der Bund
Tribüne
Seite 7
10 JAHRE EWR-NEIN: Autoren ziehen Bilanz und skizzieren mögliche Zukunftsperspektiven.
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10 Jahre EWR-Nein, ein Blick zurück nach vorn
Das Nein zum EWR war nicht einer der raren Fehlentscheide in der Geschichte der schweizerischen direkten Demokratie, wie alt Bundesrat Arnold Koller und der Zürcher Staatsrechtler Daniel Thürer behaupten. Wenn vor zehn Jahren jemand einen Fehler gemacht hat, dann der Bundesrat und die Bundesversammlung. Sie hielten den EWR irrtümlicherweise für eine realistische, Volk und Stände überzeugende Option. Volk und Stände liessen sich aus drei historischen Gründen nicht überzeugen:
o Wer so viel auf Freiheit und Selbstbestimmung hält wie die Schweizerinnen und Schweizer, kann keinem Vertrag zustimmen, der die unbesehene Übernahme von Rechtsnormen mit sich bringt und die Schweiz - notwendigerweise - nicht wie die EU-Mitglieder selber an der EU-Rechtsentwicklung partizipieren lässt.
o In der direkten Demokratie ist jeder Fortschritt Ausdruck eines Lernprozesses. Das gilt für die Schweiz ganz besonders in Integrationsfragen. Die Schweizer Erfahrung zwischen 1870 und 1945 hat bei der Mehrheit die Meinung gefestigt, alles Üble lasse sich am besten alleine überleben. Dies als wenig zukunftstauglich zu erkennen, setzt Zeit für Lernprozesse und taugliche Lernobjekte voraus. 1992, sechs Jahre nach dem Nein zur Uno, drei Jahre nach der Revitalisierung des Reduit-Denkens als Entgegnung auf die GSoA-Initiative und ein Jahr nach den selbstherrlichen 700-Jahr-Feiern, war der EWR dazu ungeeignet.
o Drittens war der EWR 1992 europa-geschichtlich schon überholt. Er war gedanklich 1988 entwickelt worden, um die neutralen Westeuropäer ohne Umbau der Union in den EU-Binnenmarkt zu integrieren. Aber 1989 geschah weltgeschichtlich Revolutionäres. Jacques Delors, der Vater des EWR, wusste sofort, dass der Umbau der EU nun historisch unausweichlich geworden war, weil die mitteleuropäischen und baltischen Staaten in die EU integriert werden wollten. Damit war der EWR höchstens noch eine Übergangsoption auf dem Weg in die EU geworden.
So haben es damals die meisten Romands auch verstanden und gewollt. Ihre Bundesräte Delamuraz und Felber - ihre Kollegen Cotti und Ogi überzeugend - sagten es auch deutlich. Aber die meisten Deutschschweizer tickten europapolitisch total anders. Die Bürgerlichen unter ihnen glaubten allenfalls, sich mit dem Zugang zum europäischen Markt ihr Geschäft sichern zu können, aber sie hatten mit einem echten europäischen Integrationsschritt wenig am Hut.
Nach zehn Jahren lässt sich aus der EWR-Erfahrung, aus den seither deutlich ausgeprägteren Globalisierungstendenzen und aus den neuesten Entwicklungen der EU dreierlei feststellen:
o Der Nationalstaat ist als Basis für die wesentlichsten Entscheide über unsere Existenz zu klein geworden. Wer souverän mitentscheiden will, muss seine Souveränität mit der anderer Staaten poolen, das heisst auf die kontinentale Ebene transferieren, föderalistisch fusionieren und neu organisieren. Das ist die grosse Herausforderung für die Schweiz.
o An ihrem Konvent schlägt die EU sich mit der selben Herausforderung herum. Denn Souveränität zu poolen heisst nicht, die Selbstbestimmung aufzugeben. Damit dies garantiert ist, braucht es eine europäische Verfassung als Fundament einer neuen, eurobundesstaatlichen Ordnung. Dies kann 2004 noch nicht gelingen, weil der Konvent keinen eigentlichen verfassunggebenden Auftrag hat. Er darf den Staats- und Regierungschefs nur Vorschläge unterbreiten.
o Wenn die beiden grossen Lernprozesse sich aufeinander zu bewegen sollen, müssen auch wir in der Schweiz für die kommenden Jahre eine grosse öffentliche Europa-Diskussion aufbauen. Die schweizerische Demokratie ist von unten aufgebaut worden, sie lässt sich auch nur von unten nach oben von neuen epochalen Weichenstellungen überzeugen. Sind Bundesrat und Bundesversammlung dazu nicht fähig, so müssen die überzeugten schweizerischen Demokraten und Europäer mit einer Volksinitiative wieder nachhelfen.
In einer solchen schweizerischen Europa-Debatte würde sich zeigen, dass sich die welsche und die deutsche Schweiz in den vergangenen zehn Jahren angenähert haben. Jenseits der Saane ist die Skepsis gewachsen - diesseits die Einsicht, dass es ohne Europa nicht geht. «Über die Bande gespielt», gehen beide Positionen in einer einzigen Reformperspektive auf: rein in die EU, aber Reform und Verfassung der EU im Sinne einer Demokratisierung und Föderalisierung. Es gibt paradoxerweise kaum einen Staat in Europa, der so europäisch ist wie die Schweiz. Und es gibt kaum einen, der die Demokratie politisch so ernst nimmt. Die Partizipationsrechte jedes Einzelnen sind unsere gelungene Utopie des 19. Jahrhunderts. Aber genau so wie der europäische Integrationsprozess - die gelungene Utopie des 20. Jahrhunderts - die Demokratie braucht, um sich stabilisieren zu können, genauso braucht die Demokratie heute Europa, um sich gegenüber der transnationalen Wirtschaft transnational durchsetzen zu können.
Die EU wird sich nur mit der Demokratie festigen können. Die Schweiz wird nur mit Europa sich selber, das heisst eine lebendige Demokratie, bleiben können. Die beiden Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts benötigen einander, wenn sie im 21. Jahrhundert nicht erschöpft eingehen wollen.
Andreas Gross
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