Januar 2004

Protokoll CoE

«In diesem Konzept und in diesen Erfahrungen steckt ein sehr grosses Friedenspotential»


Lesen Sie hier den Autonomie-Bericht von Andi Gross.
(PDF-Dokument, 60 Seiten)


Es gilt das gesprochene Wort. Korrekturen Fredi Krebs.

Andreas GROSS, Schweiz, SOC:

Danke, Herr Präsident, meine Damen und Herren,

Dieser Bericht zwingt niemanden dazu, etwas zu tun, was er oder sie nicht will. Er ist ein Angebot, sozusagen eine Offerte, von unseren eigenen Erfahrungen zu lernen. Von einer Quelle der Inspiration zu sprechen, wäre für uns normale Politiker vielleicht etwas zu poetisch, aber so ist es gedacht.

Unsere Geschichte gibt uns Anschauungsunterricht. In dieser Geschichte wurden mittels autonomer Lösungen - ich komme gleich darauf zurück, was das genau bedeutet - positive Erfahrungen gemacht wie Konflikte, die mit Gewalt trächtig waren, ohne Gewalt zum Wohle aller gelöst werden können. Die ursprüngliche Idee von Herrn Atkinsons Motion war, dass wir von diesen Erfahrungen lernen sollten. Ich versuchte dies so umzusetzen, dass jedermann merkt, dass die positiven Erfahrungen vor allem der Aland-Inseln - einer Inselgruppe von zweitausend Inseln zwischen Schweden und Finnland - vor dem 2. Weltkrieg einerseits und der autonomen Region Bozen-Südtirol nach dem 2. Weltkrieg andererseits, auf fünfundzwanzig Faktoren zurückgeführt werden können. Diese Faktoren zeigen, wie in der Gesetzgebung, der Verfassungsentwicklung und der Kultur der Interpretation dieser Gesetze in einer Art ein rechtlicher Rahmen geschaffen wurde, der es erlaubte, eine starke Minderheit, die in einem bestimmten Gebiet eines Staates eine Mehrheit hatte, so zu integrieren und ihr eine große Eigenständigkeit so zuzugestehen, dass sie die Souveränität und die Einheit des Staates akzeptierte.

Die Grundidee der autonomen Lösung ist also eine Versöhnung kultureller Vielfalt mit der Einheit des Staates. Es ist also keine Bedrohung der Einheit des Staates, sondern eine Garantie, eine Medizin für die Einheit, wenn man die Macht, die Souveränität, die Gewalt, die Eigenständigkeit so verteilt, dass alle etwas bekommen und niemand zu viel, die Machtverteilung aber vielleicht asymmetrisch ist. Das heißt, dass eine Minderheit im Staat, weil sie in einer bestimmten Region eine Mehrheit darstellt, einen höheren Anteil an Selbstständigkeit bekommt als ihr mathematischer Anteil am ganzen Staat ausmachen würde. Man könnte als Föderalist von asymmetrischer Föderalität reden, wenn der Föderalismus die gleiche dezentrale Organisation eines Staates bedeuten würde.

In diesem Konzept und in diesen Erfahrungen steckt ein sehr großes Friedenspotential. Wenn Betroffene Frieden finden können, hat dies ein Sicherheitspotential für die Nachbarschaft zur Folge. Dies ist vielleicht sehr wichtig, wenn man es vom Kontinent aus sieht. Es ist eine feinere Verteilung von Macht. Vielleicht macht es deshalb gewissen Leuten Angst, weil sie fürchten, Macht zu verlieren. Es nützt jedoch nichts, Macht zu haben, wenn andere so unzufrieden sind, dass sie diese in Frage stellen. Eine feinere Verteilung von Macht unter der Berücksichtigung kultureller Eigenständigkeiten ist eine präventive, kluge Vorsicht. Ich finde es sehr wichtig, dies zu verstehen. Auf der anderen Seite kann es auch Angst machen, weil der Begriff der Autonomie jahrelang missbraucht worden ist. Er ist auch unbestimmt gehalten worden. Er war ein Begriff, mit dem manipuliert werden konnte. Deshalb ist es wichtig hervorzuheben, dass dieses Konzept nur in demokratischen, rechtsstaatlichen Strukturen möglich ist.

Ich habe mich immer gewundert, weshalb es solche Angst macht. Es könnte daran liegen, dass auch in undemokratischen, sogar totalitären Strukturen mit diesem Begriff gearbeitet worden ist. Es könnte natürlich auch daran liegen, dass gewisse Autonomien nicht gut konzipiert waren und die Sezessionstendenzen nicht verhindert haben. Das hat aber nichts mit der Idee als solcher zu tun, sondern mit der Art, wie diese Idee gesetzgeberisch und verfassungsmäßig implementiert wurde. Ich finde diese Unterscheidung sehr wichtig.

Weil dieses Konzept so heikel ist und weil es eine Geschichte hat, die positiv ist, aber ebenso negative Erfahrungen - von denen man auch lernen kann - vermittelt, haben wir in der Kommission vier Jahre an diesem Bericht gearbeitet. Ich habe etwa sieben Kommissionssitzungen in den letzten drei Jahren gezählt. Ich möchte dem Sekretariat und Frau Entzminger, die diese Arbeit mitverfolgt hat, danken. Wir haben immer wieder neu geschrieben und neu ergänzt, weil wir gewisse Einwände ernstnehmen und aufnehmen wollten.

Wenn Sie den Bericht genau lesen, dann ist er eine Offerte für jene, die sich mit diesem Konzept auseinandersetzen wollen. Wir raten ihnen, dabei etwa fünfundzwanzig Faktoren zu beachten, die, wie wir gesehen haben, zum Beispiel für den Erfolg der autonomen Regionen Alands und des Südtirols entscheidend waren. Diese Faktoren reichen von ökonomischen über internationale bis zu kulturellen Elementen der beteiligten Staaten. Es war zum Beispiel im Norden sehr wichtig, dass beide Staaten, Finnland und Schweden, bereit waren, gute Demokratien zu sein. Sie wollten auf ihre Demokratie stolz sein. Sie wollten sogar eine nordische demokratische Kultur etablieren, und sie waren zum Beispiel bereit - und das ist einzigartig - den Entscheid des Völkerbundes im Voraus zu akzeptieren, d.h. ohne zu wissen, wie er ausgesprochen werden würde. Als Demokrat muss ich zugeben, dass der Entscheid des Völkerbundes bei keiner der beteiligten Gruppen - weder bei den Schweden, noch bei den Finnen, noch bei den Aländern selbst - eine Mehrheit hätte finden können. Alle waren unzufrieden. Die Geschichte hat jedoch dieser demokratisch problematischen Rechtsprechung des Völkerbundes Recht gegeben, die so klug war, zum Beispiel alte finnische Traditionen zu berücksichtigen aber auch zu versichern, dass die schwedische Kultur in Finnland gewahrt werden würde.

Ich denke, es gibt heute sehr viele Staaten, die sich mit solchen kulturellen Fragen auseinandersetzen müssen. Ich glaube, es ist an der Zeit, zu merken, dass der homogene Nationalstaat des neunzehnten Jahrhunderts modernen Gesellschaften nicht mehr entspricht und dass die Tradition des kulturell homogenen Nationalstaates erweitert werden muss. Der Bericht ist in dieser Tradition zu sehen und im Bemühen, konzeptionell den modernen, kulturell vielfältigen Gesellschaften so Rechnung zu tragen, dass die Einheitlichkeit des Staates deswegen nicht in Frage gestellt werden muss. Wenn uns das gelingt, dann haben wir etwas für den Frieden in Europa getan. Deshalb danke ich dafür, dass dieser Bericht möglich war und hoffe jetzt auf eine gute Diskussion.

Debatte in div. Sprachen - s. Protokolle CoE (Link unter Europarat)

Andreas GROSS, Schweiz, SOC:

Herr Präsident, meine Damen und Herren,

Ich danke für den Eindruck, verstanden worden zu sein. Deshalb werde ich jetzt auf diejenigen, die mich gut verstanden haben, vielleicht ungerechterweise weniger eingehen. Was diejenigen betrifft, von denen ich den Eindruck habe, dass es sozusagen noch Klärungsbedarf gibt oder dass wir uns nicht richtig verstehen, hat Frau Stoisits zu Herrn Prisacaru schon das Notwendige gesagt. Ich denke, dass es in keiner Weise ein Widerspruch zwischen der europäischen Einheit und der Dezentralisierung von Macht und Souveränität ist - und Herr Solé Tura hat dies sehr schön dargestellt - dass auch kleine Einheiten ihre Selbstbestimmungsmöglichkeiten bekommen. Diese Bewegungen, die gleichzeitig stattfinden, sprechen füreinander und sind kein Widerspruch. Die böse Bemerkung von Herrn Prisacaru in Bezug auf außereuropäische Erfahrungen finde ich problematisch. Eine sogenannte aussereuropäische Erfahrung wird genannt, weil dort eben unter der Regie einer europäischen Nation, Norwegen, und aus der Erfahrung europäischer Beispiele heraus genau das in Sri-Lanka umgesetzt wurde, was Herr Atkinson so gelobt hat, nämlich für heutige Gewaltpotentiale zu lernen und die Konflikte so zu besänftigen, dass Gewalt vermieden werden kann.

Zu Herrn Muratovic möchte ich sagen, dass es eine Schwäche unserer Versammlung ist, dass es selten «follow-ups» für ganz bestimmte, interessierte Staaten und Gesellschaften gibt. Ich finde sehr richtig und wichtig, dass die meisten von uns verstanden haben, dass es hier nicht um ein Modell geht, sondern um Prinzipien - basic principals, wie Sie selbst gesagt haben. Wie diese basic principals im konkreten Fall angewendet werden können, wissen die Betroffenen am besten. Sie müssen zum Beispiel in einer Verfassung verankert worden sein, es müssen gesetzlich klar Kompetenzen geregelt werden. Dies haben Sie alles gesagt. Eine Idee wäre vielleicht, dass die Parlamentarier aus jenen Staaten, die einen großen Bedarf und ein großes Interesse haben, sich ohne den Europarat zusammenfinden, um sich zu fragen, wie man auf diesen Bericht aufbauen und ihn praktisch umsetzen kann.

Zu Herrn Huseynov möchte ich betonen, dass ich einerseits die positive Erfahrung von Nachitschevan im Paragraph 13, Seite 9, genannt habe und dass dieses Schema, welches er kritisiert hat, ein Zitat aus einem wissenschaftlichen Buch ist. Vielleicht erlauben Sie mir den Ratschlag, den Leser nicht zu unterschätzen. Es entsteht aus dieser Zusammenstellung nicht der Eindruck, dass das heutige Aserbaidschan damals unterm Iran war. Ich glaube, dass man das, was wir erklärt haben, auch durchaus so verstehen kann und es kein Widerspruch ist.

Von Herrn Aliyev kann ich sagen, dass er ein guter Kollege und ein Freund ist und dass wir uns gegenseitig respektieren. Sie haben selbst gesagt, weshalb ich dieses Beispiel nicht genannt habe: es war nämlich ein negatives. Ich versuchte zu betonen, dass der Begriff Autonomie, wie er in der Sowjetunion gebraucht wurde, wenig mit dem zu tun hat, wie wir in gebrauchen. Die Sowjetunion war kein Rechtsstaat, keine Demokratie, und es ging eben nicht um das Recht auf Differenz. Ich habe es deshalb hier nicht angewandt, auf der anderen Seite aber auch in dem Bewusstsein, dass Herr Davis für Nagorno-Karabach selber einen Bericht anfertigen wird. Ich hoffe, dass er sich in seinem Ausblick auf diesen Bericht beziehen wird und wir uns in dem Sinne noch finden können. Dort passiert noch etwas, was ich nicht vorwegnehmen muss. Ich wurde auch darauf aufmerksam gemacht, ich solle das nicht tun, da es meinen Bericht überladen würde.

Andreas Gross



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