10. Sept. 2007



Stachlige Argumente
Zeitschrift von Bündnis 90/Die Grünen • Landesverband Berlin
Heft 4/2007 - Nr. 165

Ein Ausweg aus der Krise der Demokratie

Die Direkte Demokratie hilft der Gesellschaft ihre sonst brachliegenden Potenziale zu entwickeln.

Von Andreas Gross (Zürich / St-Ursanne)


Wenn ein 18-jähriger Jugendlicher als großes Fußballtalent anerkannt ist, aber nie spielen darf und sich nur jede Woche aussuchen kann, welches spiel er besuchen will und welchen meist nicht viel talentierteren Spielern er zusehen soll, dann frustriert dies ihn, er stagniert fußballerisch und der Fußball-Gemeinde geht ein großes Talent verloren.

Ganz ähnlich ergeht es derzeit in Deutschland und vielen anderen Staaten vielen Bürgerinnen und Bürgern. Viele von ihnen sind auch politisch gut ausgebildet, gut informiert, wissen sich eine politische Meinung zu bilden, möchten mit anderen zusammen politisch handeln – sehen sich von der politischen Alltagsarbeit aber ausgeschlossen. Alle vier Jahre mal dürfen sie zwar unter einem beschränkten Angebot von Parteien auswählen mit beschränkter Haftung für das, was diese vor den Wahlen bezüglich ihrer Tätigkeit nach den Wahlen versprechen. Doch zwischen diesen raren und dünnen Momenten praktizierter Demokratie, wird mehr über sie als mit ihnen entschieden. Das frustriert, wirkt ausschließend, beschränkt individuelle und gesellschaftliche Lernprozesse und erlaubt der Gesellschaft nicht, die in ihr steckenden Freiheitspotenziale zu verwirklichen. Mit fatalen Konsequenzen: Denn wenn sich viele Bürgerinnen und Bürger bereits regional und national politisch ausgeschlossen fühlen und sich demokratisch entfremden, dann fehlt ihnen die Kraft und die Lust für die europa-, welt- wie demokratiepolitisch entscheidende Herausforderung der kommenden 20 Jahre, die Einrichtung, das heißt Verfassung der Demokratie auch auf transnationaler Ebene.

Ein angemessenes Plädoyer für direktdemokratische Bürgerinnen&Bürgerrechte ist nie ein Plädoyer gegen die repräsentative Demokratie. Dies ist eine der großen Missverständnisse der deutschen Demokratiedebatte. Direktdemokratische Elemente machen die repräsentative Demokratie sogar repräsentativer; denn die Abgeordneten wissen so viel besser Bescheid, wen sie vertreten und was die Menschen denken, die sie vertreten sollten.

Die Direkte Demokratie ist auch nicht zu verwechseln mit einer plebiszitären Demokratie, ein weiterer typisch deutscher Versuch, die institutionalisierte Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger zu diskreditieren. Der Unterschied ist entscheidend: In einer Direkten Demokratie haben eine qualifizierte Minderheit von BürgerInnen (im Kanton Zürich weniger als ein Prozent der Stimmberechtigten, in der Schweiz ein bis zwei Prozent, in Kalifornien – 36 Millionen Einwohner! – drei bis fünf Prozent) die Möglichkeit, parlamentarisch beschlossene Gesetzes- oder Verfassungsrevisionen zur Volksabstimmung zu bringen oder eigene Gesetzes- oder Verfassungsreformen dem Volksentscheid zuzuführen. In einer plebiszitären Demokratie hat nur die Obrigkeit dieses Recht: In Frankreich verfassungsgemäß der Präsident, in Australien das Parlament, in Dänemark bestimmt die Verfassung abschließend, wann die Stimmberechtigten einzubeziehen sind; in Diktaturen haben sich Herrscher wie Napoleon III über Hitler bis Pinochet dieses Privileg zwecks Anmaßung einer ihnen parlamentarisch verschlossenen Legitimität auch ohne Verfassungsgrundlage verschafft.

Plebiszitäre Elemente sind meist nicht sehr demokratisch und komplettieren ein autoritäres Herrschaftssystem; direktdemokratische Rechte sind Ergänzungen der repräsentativen Demokratie, welche die Freiheit der BürgerInnen erhöhen, die Demokratie entmonopolisiert, die Herrschaftlichkeit abbauen und die politische Kultur maßgeblich verändern. Entscheidend ist das Recht weniger, jederzeit dafür sorgen zu müssen, dass zu einem bestimmten, klar definierten Thema alle gefragt werden müssen, bevor eine neue Norm rechtskräftig wird. In Österreich dürfen die BürgerInnen zwar Unterschriften sammeln, ihre Initiative hat rechtlich aber den Charakter einer Petition und ihr fehlt die Macht, eine Volksabstimmung auch gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit erzwingen zu können.

In dieser Veränderung der politischen Kultur , in diesem Recht weniger, dafür sorgen zu können, dass alle gefragt werden müssen, liegt das entscheidende Interesse Linker und Grüner an der Direkten Demokratie. Dank diesem Recht können sich auch Minderheiten jederzeit Gehör verschaffen. Sie können Anliegen und Fragestellungen auf die Tagesordnung der Öffentlichkeit bringen, die sonst übergangen und überhört werden. Das verändert sogar die Struktur der Medien und ihre Inhalte. Wenn plötzlich alle etwas zu sagen haben, müssen alle sich auch angesprochen und ernst genommen fühlen.

Denn Demokratie bedeutet nicht nur das Recht, jederzeit eine eigene Meinung äußern zu dürfen; sie sollte auch dafür sorgen, dass diese Meinung gehört, diskutiert und öffentlich erwogen wird. Die Direkte Demokratie flacht Hierarchien – auch fraktions- und parteiinterne – ab, denn die individuellen verbindlichen Handlungsmöglichkeiten vermehren sich enorm. Weil sich viel mehr Menschen in den politischen Prozess verbindlich einbringen können, gibt es viel breitere, vielfältigere Debatten an viel mehr Orten, sodass viel mehr Menschen teilnehmen und mitlernen können. Deshalb auch die These, dass eine Gesellschaft mit Direkter Demokratie ihre Potenziale weit mehr entfalten kann als eine, in der sich die Politik auf ein schmales Segment der Menschen beschränkt. Ganz abgesehen davon, dass eine lernendere, lernfähigere Gesellschaft möglicherweise genau das ist, was die Zukunft von uns am meisten verlangt.

Eines zeigen die schweizerischen Erfahrungen mit der Direkten Demokratie seit 1866 – sie musste auch in der ältesten parlamentarischen Demokratie Europas nach 1848 übrigens von den im Parlament untervertretenen Oppositionsbewegungen erstritten werden: Wer die Direkte Demokratie als Demokratisierung der Demokratie versteht, muss bei deren institutionellen und prozeduralen Ausgestaltung sehr aufpassen. Im Unterschied zu den Regelungen in den meisten deutschen Bundesländern (große Ausnahme Bayern!) müssen die auslösenden Unterschriften-Erfordernisse klein sein, die Unterschriftensammlung muss öffentlich sein und darf dauern (18 Monate, nicht 18 Tage), auch die Verwaltung und das Parlament müssen ausreichend Zeit haben für Reflexions- und Aushandlungsprozesse, es darf außer dem Mehrheitserfordernis keine weiteren Zustimmungsquoren geben (Italien und Weimar zeigen, dass dies den kommunikativen Intentionen der Direkten Demokratie völlig entgegensteht) und Volksentscheide dürfen nur durch Volksentscheide wieder verändert werden und nicht wie in Hamburg oder Schleswig-Holstein einfach durch eine Parlamentsmehrheit, gegen die nicht einmal das Referendum ergriffen werden konnte.

Im Übrigen sollten sich an der Direkten Demokratie interessierte Deutsche nicht durch die schweizerischen Erfahrungen irritieren lassen. In Deutschland werden die Verfassungsgerichte beispielsweise immer eine größere Rolle spielen, als in der in dieser Beziehung eher vormodernen Schweiz, der Grundrechtsschutz ist also gesicherter. Ebenso sorgen die vielfältigen Bildungseinrichtungen in Deutschland ebenso wie die Stiftungen der Parteien wie auch deren öffentliche Finanzierung – alles Dinge, welche die Schweiz nicht kennt – dafür, dass die bildungs- und kommunikationsspezifische Infrastruktur in Deutschland heute schon der Direkten Demokratie viel angemessener ist als in der Schweiz, in der das Geld immer noch eine viel zu große Rolle spielt. Und vergessen Sie nicht: Direktdemokratische Entscheide sind wie ein Spiegel der Gesellschaft – und der Spiegel ist nicht verantwortlich für das Gesicht, dass Sie jeden morgen in ihm sehen. Unterschiedliche Gesellschaften werden also trotz ähnlicher direktdemokratischer Entscheidungsformen unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Doch wichtig sind zwei Dinge: Die Direkte Demokratie ist ein Wert an sich, ganz abgesehen von den Ergebnissen. Denn sie verändert den Charakter der Politik. Es muss mehr diskutiert und mehr überzeugt werden, es kann weniger befohlen werden und viel weniger Menschen fühlen sich fremdbestimmt. Zweitens: Die Direkte Demokratie sorgt mehr als die rein indirekte dafür, dass die Menschen handelnd politische Macht erzeugen können und so ganz im Sinne von Hannah Arendt auch wieder Freude, ja Lust bekommen am politischen Handeln, das den Kern der Freiheit begründet. So vermögen viel mehr Menschen auch wieder zu erkennen, dass der Nationalstaat nicht der letzte und schon gar nicht der entscheidende Ort der Verfassung der Demokratie ist, sondern diese endlich auch föderativ auf europäischer und in einer bestimmten Form sogar global verankert werden muss.

Wenn J. M. Condorcet 1793 für ein Frankreich mit Direkter Demokratie kämpfte, brauchte er mehr Mut als diejenigen Europäer, die heute in der EU für direktdemokratische Entscheidungen kämpfen. Dass unter letzteren so wenig Deutsche sind hat durchaus viel damit zu tun, dass viele Deutsche bereits ihre nationale Demokratie zu dünn finden und so gar nicht den Mut und das Selbstvertrauen finden, für die nötige Transnationalisierung der Demokratie zu sorgen. Denn Europa hat mehr Demokratie genau so nötig, wie die Demokratie Europa bedarf, um ihrem Versprechen etwas mehr Genüge tun zu können.


Kontakt mit Andreas Gross



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