20. Okt. 2017
Weltwoche
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Gefährdete Lebenschancen fördern Populismus
Etwa 200 Intellektuelle aus der ganzen Welt versuchten übers vergangene Wochenende in New York an einem Kolloquium der Stiftung der renommierten New York Review of Books dem weltweit aufkommenden Populismus auf die Spur zu kommen. Von Andreas Gross.
Randy Bryce ist ein stämmiger Stahlarbeiter und Gewerkschaftler aus Milwaukee, einer alten, heruntergekommenen Fabrikarbeiterstadt am Michigansee im Mittleren Westen der USA. Milwaukee, die Hauptstadt des Staates Wisconsin, war jahrzehntelang eine sichere Hochburg der Demokraten; seit sieben Jahren nun aber in der Hand der Republikaner, letztes Jahr zur allgemeinen Überraschung aller sogar Trump-country. Ein Schriftsteller soll Bryce kürzlich als Musterexemplar für Bruce Springsteens Working Class Man bezeichnet haben. Das progressive Monatsmagazin Mother Jones interessierte sich für den «Mann aus Stahl», weil Randy Bryce sich politisch etwas Unerhörtes vorgenommen hat. Der arme Linksdemokrat Bryce macht einem der mächtigsten und reichsten Männer Washingtons, dem republikanischen Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, Paul Ryan, den Wahlkreis Wisconsin 1 streitig, in welchem dieser seit 19 Jahren immer wieder gewählt worden war: 2008 zum Beispiel, als Barak Obama den Wahlkreis als Präsidentschaftskandidat knapp gewann, holte sich Ryan diesen Parlamentssitz mit einem Vorsprung von 29 Prozent. Nun macht Bryce Wahlkampf mit dem Slogan «Wer gleicht Euch mehr, Ryan oder ich?» und darf Mother Jones auch sein Verständnis von Populismus unterbreiten: «Populismus ist, was die Menschen wollen. Deswegen ist er so erfolgreich. Es gibt einen Hunger nach populistischer Politik. Die Menschen wollen einen wie sie, der wie sie für sie entscheidet.»
Damit hat Randy Bryce das amerikanische Verständnis von Populismus bestens erfasst: Populäre Politik des Volkes (lateinisch Populus) im Interesse des Volkes. Ganz im Sinne der berühmten Worte von Präsident Abraham Lincoln 1863 in Gettysburg, an den Gräbern der in einer besonders blutigen Schlacht des nordamerikanischen Bürgerkrieges Gefallenen: «Für eine Regierung des, durch und für das Volk». Wobei mit dem Volk (dem griechischen Demos der Demokratie) ausnahmslos alle Menschen gemeint sind, nicht nur die Bürger, die den entsprechenden Pass besitzen, oder die Stimmenden, die regelmässig an die Urnen gehen.
In den USA sind sich die meisten bewusst, dass sie die grossen Fortschritte und Errungenschaften der vergangenen 250 Jahre solchen populistischen Volksbewegungen verdanken. Oder wie die Expertin Frances Fox Piven sagt: «Alle grossen und transformatorischen Bewegungen der Vergangenheit - die Radikaldemokraten während der Revolution des 18. Jahrhunderts, die Abschaffer der Sklaverei im 19. Jahrhundert, die Arbeiterbewegung oder die Frauenbewegung im 20. Jahrhundert oder die LGTB-Bewegung für die persönlichen Rechte - alle waren erfolgreich, weil sie die elementare und fundamentale Macht der einfachen normalen Menschen aktiviert haben.» So definiert das englische Oxford Wörterbuch populistisch als einen politischen «Ansatz, der an die gewöhnlichen Menschen appelliert, welche das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse von etablierten Gruppen der Elite vernachlässigt werden.»
Weshalb widmen sich dann aber etwa 200 Leute aus aller Welt in den gediegenen alten Räumlichkeiten der New Yorker Universität ein ganzes Wochenende lang sorgenvoll dem Populismus, seinen Wurzeln, seinen linken und rechten Ausprägungen ebenso wie seinen europäischen und möglicherweise künftigen Eigenheiten?
Primär, weil in dem in Europa und an den Universitäten vorherrschenden Verständnis von Populismus dieser mehr beinhaltet als nur populäre Politik und eine populäre Volksbewegung. Mit den Worten des Organisators des New Yorker Kolloquiums, Simon Head von der New York Review of Books: «Zum Populismus gehört auch ein politischer Stil, der die Ängste und den Groll vieler Menschen spiegelt und jeweils einen Anderen als Grund dieser Unzufriedenheit beschuldigt - seien dies die Fremden, die Flüchtlinge, die Einwanderer, die Ausländer, die Intellektuellen, das eine Prozent (die Superreichen), die EU, die Globalisierung, Wallstreet oder die skrupellosen Handelsrivalen Mexico und China.»
Im Wahlsieg von Präsident Trump erkennt Simon Head «den spektakulärsten Erfolg eines aggressiven rechten Populismus» der ganzen Geschichte der USA. Zufall, dass dies im gleichen Moment passierte, als auch in Frankreich, Deutschland, Österreich und in der Tschechischen Republik, Polen aber auch in Schweden und Dänemark der rechte Populismus so spaltend und aggressiv wirkt wie selten zuvor? Besorgniserregend sei dies, weil alle bisherigen Erfahrungen illustrierten, dass, einmal an der Macht, diese Rechtspopulisten jene Probleme, deren Thematisierung sie an die Macht brachte, nicht nur nicht lösen sondern vielmehr verschärfen. Ganz abgesehen davon, dass sie auch das Los der vermeintlich Schuldigen - Fremde, Einwanderer, Asylbewerber - nur schwieriger machen.
Der New Yorker Soziologe Richard Sennett betont das Gefühl der Verlassenheit und Verlorenheit unter vielen Trump-Wählenden, das bei vielen amerikanischen Arbeitern und Angestellten vor allem in den ländlichen Gebieten festzustellen sei. «Niemand hilft ihnen, ihre schlechter gewordene Lage wirklich zu verstehen und anschliessend wieder zu verbessern, und die, die wie die Demokraten es versuchen, werden als genau so fremd und elitär empfunden, wie die anderen dort oben, die einem das Leben so schwermachen.« Für Michael Kazin, Historiker aus Washington, «erblüht der rechte Populismus vor allem überall dort, wo der Unterschied zwischen dem, was man versprochen bekam, und der Wirklichkeit so leidvoll erfahren wird». Trump hätte es geschafft, diese Gefühle anzusprechen und aufzunehmen, ohne sie sich freilich zu Eigen machen oder ihnen Abhilfe verschaffen zu können. Kazin sieht vor allem folgende Gründe für den aktuellen Erfolg des rechten Populismus: Die grosse wirtschaftliche Rezession, die stagnierenden Löhne des Mittelstandes, dessen politische Entfremdung von den traditionellen demokratischen Institutionen sowie in den Medien, welche die Menschen eher vereinsamen lassen, als ihnen helfen, die Umstände wirklich zu begreifen und sich zu wehren.
Der Publizist Robert Kuttner (American Prospect) wird grundsätzlicher. Heute haben wir es mit einer entfesselten Wirtschaft zu tun, die nicht mehr der Mehrheit der Menschen dient. Das war zwischen 1945 und 1975 anders: Damals konnte die Politik die Märkte zügeln, sie zwingen, den Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen zu dienen. Heute hat die Politik diese Macht nicht mehr. Das verbittert Millionen von Menschen, sie verlieren immer mehr Lebenschancen. Es braucht zum Schutz von drei Vierteln der Menschheit einen neuen, transnationalen Gesellschaftsvertrag, der dem Kapital und seinen Verwertungsbestrebungen Grenzen setzt und es so sozialverträglich macht. Anders, so Kuttner, «überlebt die Demokratie den Kapitalismus nicht».
Nobelpreisträger Paul Krugman, der Superstar unter den US-Kolumnisten, kann in den gesetzgeberischen Aktivitäten der Administration Trump nichts Populistisches erkennen; sie sind elitärer und sozial regressiver als jene von G.W.Bush. Nur die Rhetorik des Präsidenten bleibt paradoxerweise anti-elitär, was Krugman zur Frage veranlasst, weshalb die Rechte ihre elitäre Politik populistisch verkaufen und rechtfertigen kann, während die politischen Reformen der Demokraten, die tatsächlich der Mehrheit der Menschen dienen würden, als elitär verschrien und bekämpft werden?
Für Nicholas Lemann, früher Rektor der berühmten Journalisten-Schule an der Columbia Universität, ist der Populismus ein Gefühl und keine Politik. Für ihn gilt es, zu unterscheiden zwischen einem linken Populismus, in dem es um zwei Akteure geht, nämlich das Volk und die Elite, sowie dem rechten Populismus, bei dem es stets noch einen dritten 'schuldigen' Akteur gibt, die Sündenböcke und Prügelknaben, seien es Juden, Ausländer, Immigranten oder Schwarze. Intellektuelle, so Lemann, sollten der Versuchung widerstehen, Populismus mit Irrationalität gleichzusetzen: «Wir bringen ihn nicht weg, wir sollten ihn uns eher ohne Sündenböcke zu eigen machen, um die politischen Reformen zu entwickeln, die den Ärger der Menschen abbauen und ihren Bedürfnissen wirklich entgegenkommen.» Ein Fazit, dem wohl auch der eingangs erwähnte Stahlarbeiter Randy Bryce zugestimmt hätte; auch wenn die Arbeit an Eisen und Stahl den in der New Yorker Universität Versammelten so fremd gewesen sein dürfte wie Randy Bryce der Nobelpreis.
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