27. Sept. 2017

mehr-demokratie.de

Dieses Wahlergebnis kann als Appell
für die Erweiterung der Demokratie
um direktdemokratische Elemente
verstanden werden



Zu den Bundestagswahlen in Deutschland

Herr Gross, die AfD ist in Fraktionsstärke in den Bundestag eingezogen. Was sagt das für Sie über den Zustand der Demokratie in Deutschland?

Dies sagt erst mal mehr über die deutsche Gesellschaft aus als über die Demokratie. Letztere hat primär gut funktioniert. Sie brachte die grosse Unzufriedenheit vieler Deutscher über die herrschenden Verhältnisse in Deutschland deutlich zum Ausdruck. Diese war im Übrigen auch gut spür­bar; ich habe an der Ostsee und im Südschwarzwald im August und September je zwei Tage lang mit fast 100 Wählerinnen und Wählern lan­ge gesprochen und deren Unmut war mit Händen zu greifen. Die beiden Regierungsparteien haben je einen Fünftel ihrer WählerInnen verloren; die inner- und bisher ausserparlamentarischen Oppositions­par­teien ha­ben alle hinzugewonnen – und zwar mehr als diese selbst teil­weise er­wartet hatten.

Kritiker werfen der AfD unter anderem Populismus vor.
Ist das per se schlecht für die Demokratie?


Das kommt auf das Populismus-Verständnis an, das Sie sich zu eigen machen. Wer unter dem Populismus in erster Linie eine Diskursform versteht - simplifizierend, leicht anbiedernd, das Publikum bestätigend, schwierigen Fragen ausweichend, Sündenbock-orientiert - der vermag darin wenig schlechtes für die Demokratie zu erkennen, zumal es auch unter den Linken und in der Mitte herzhafte Populisten gibt. Wer sich dagegen den Populismus-Begriff von beispielweise J.W.Müller zu eigen macht, dem gemäss Andersdenkende gar nicht mehr dazu gehören, Ausländer und Flüchtlinge die Schuldigen seien an den meisten Pro­blemen und die Grenzen dicht gemacht werden sollten, der erkennt im Populismus viel Undemokratisches und viele Bedrohungen für die Demo­kratie. Deshalb halte ich den Begriff des Populismus als analytisch wenig ergiebig und verzichte auf ihn. Ich arbeite vielmehr mit Begriffen wie na­tional-konservativ, nationalistisch, fremdenfeindlich, demagogisch, auto­ritär, fundamentalistisch. Für diese Adjektive gibt es in der AfD gewiss manche Adressaten; doch nicht alle AfD-Wähler verdienen diese Be­zeichnungen. Das ist bei der schweizerischen SVP, beim französischen Front National, beim Flämischen Block Vlaams Belang, den Freiheitlichen in Österreich oder der dänischen Volkspartei übrigens ganz ähnlich.

Skeptiker sehen in den AfD-Erfolgen ein Argument gegen Volksentscheide. Haben sie Recht?

Gewiss nicht. Oder muss ich jetzt gegen den deutschen Fussball sein, nur weil es unter den AfDlern oder deutschen Nationalisten viele Fuss­ballfans gibt? So kann ernsthaft nur jemand argumentieren, der schon immer skeptisch war gegenüber Volksentscheiden, aber nicht genau wusste weshalb. Oder er hatte schon immer Zweifel an der politischen Reife und Klugheit des Volkes, traute sich dies aber früher nicht so recht zu sagen. Dann muss er sich jetzt aber fragen lassen, weshalb er dann diesem gleichen Volk unwidersprochen die Wahl des Parlamentes zu­traut.

Nein, ich denke vielmehr, diese Wahlen sind nicht nur Ausdruck der gros­sen Unzufriedenheit vieler Deutscher über die Verhältnisse in Deutsch­land, sondern sie bringen auch eine grosse Unzufriedenheit über die Form der deutschen Demokratie zum Ausdruck. Viele möchten sich differenzierter und häufiger ausdrücken können als nur einmal durch Wahlen und durch die Auswahl zwischen Parteien, von denen keine ein­zige wirklich überzeugt. Dieses Wahlergebnis kann auch als Appell für die Erweiterung der bloss indirekten Demokratie um direktdemokratische Elemente verstanden werden. Dann könnten beispielsweise die 60 % AfD-Wähler, die dies nur aus Enttäuschung über die anderen Parteien wurden, die Politik dieser anderen Parteien mit Volksbegehren und Volksentscheiden gegen unbefriedigende Gesetzesvorhaben präzise korrigieren und müssten nicht AfD wählen und sich dann auch noch extremisieren lassen, beziehungsweise falsch verstanden werden.

Die Direkte Demokratie geht mindestens drei der grössten Probleme an, weswegen AfD-Wähler zu solchen geworden sind: Sie bringt Politik und Politiker viel näher zu den Bürgern, überlässt diese nicht sich selbst und beweist ihnen viermal im Jahr, dass sie tatsächlich gehört werden und sogar entscheiden dürfen, 'die Politiker' also nicht einfach machen kön­nen, was sie wollen. Vor allem führen aber die mit der Direkten Demo­kra­tie ungleich häufigeren, differenzierteren und sachspezifischen Diskus­sio­nen dazu, dass Hundertausende von Menschen mehr dazu lernen, sach­kundiger werden und sich durch irreführende Parolen und Schuld­zu­wei­sun­gen weniger verführen lassen, Parteien zu wählen, die niemanden etwas helfen können.

Wie sollten die Deutschen mit der AfD umgehen und welche Konsequenzen sollten wir aus ihrem Erstarken ziehen?

Erstens müssen alle versuchen, zu verstehen, weshalb jemand AfD ge­wählt hat. Damit wollen viele beispielsweise eine massive Kritik an viel zu tiefen Renten zum Ausdruck bringen, ebenso ihre Angst arm und ver­nach­lässigt zu werden, in einer Gegend zu leben, in der es weder eine anständige Busverbindung noch eine Poststelle oder ein leistungsfähiges Internet oder genug gute Arbeit gibt. Zweitens müssen alle viel intensiver versuchen, auch mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen, ihnen zuhören, versuchen, ihre Existenzprobleme zu verstehen. Und an­schlies­send versuchen, ihnen zu zeigen, dass die AfD ja nichts wirklich dazu bei­trägt, dass die wirklichen Ursachen für diese Nöte kleiner werden, die Probleme wirklich an den Wurzeln angegangen werden. Drittens gilt es, allen demagogischen, irreführenden und unbekannte Dritte verletzende, beziehungsweise falsch beschuldigende AfD-Diskursen entgegen­zu­tre­ten, zu widersprechen und zu widerlegen, wo immer sie geführt werden im Stammlokal, am Biertisch, im Verein, an der Talkshow oder eben in einem Parlament.

Die Fragen stellte Thorsten Steck


Kontakt mit Andreas Gross



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