18. Juli 2017
Festschrift Adolf Ogi
zum 75.
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Ein in der Politik seltenes offenes Herz
und eine grosse Menschenliebe
Von Andreas Gross
Neun Jahre lang frequentierten wir gemeinsam das Bundeshaus. Dölf Ogi täglich, ich bloss jeden zweiten Tag, während der Sessionswochen und Kommissionssitzungen des Nationalrates. Stundenlang hörte ich ihn im Plenarsaal des Nationalrates zwar reden, erst zur Verkehrspolitik, später ungleich kritischer auch zu Armeefragen. Und während seiner ersten Halbzeit im Bundesrat, als Verkehrsminister, stimmte ich ihm auch meistens zu. Politisch hätten wir – vor allem während seiner zweiten Halbzeit – auch immer wieder streiten können. Doch wir taten es nicht. Denn unsere Themen brachten uns nicht in die gleichen Kommissionen und auf die gleichen Podien, wo die Auseinandersetzung in der schweizerischen Politik am ehesten passiert. Dafür blieb viel gegenseitiger Respekt auch für den Andersdenkenden und ebenso menschliche Wärme zwischen uns.
Beides gründete in einer ganz unpolitischen aber umso bezeichnenderen Begegnung ausserhalb des Bundeshauses auf dem Autoverlade-Bahnhof vor dem Lötschberg-Tunnel in Kandersteg. Sie wird mir ewig in Erinnerung bleiben.
Es muss nach Weihnachten 1992 gewesen sein. Es schneit, ist bitter kalt, schon dunkel. Die ganze Familie ist im Auto und wartet in einer Doppelkolonne auf das Zeichen des Bahnbeamten an der Verladerampe, das Auto auf den offenen Bahnwagen fahren zu dürfen. Da ruft mein elfjähriger Sohn Dominik auf der hinteren Sitzbank plötzlich ganz aufgeregt: «He Däddi, neben uns sitzt der Ogi im Auto!» - «Was, wirklich?» frage ich, drehe mich zu ihm nach hinten um und erkenne im schwarzen Benz neben uns tatsächlich den Bundesrat. Der muss meinen aufgeregten Sohn auch gesehen haben. Jedenfalls stieg Dölf Ogi sofort aus. Wir begegneten uns hinter den beiden Autos, begrüssten einander herzlich. Er liess es sich nicht nehmen, Dominik, Käthi und Anina ebenso herzlich die Hände zu schütteln. Die Kinder fragte er ihres Weges. Mit mir machte er gleich Dutzis. Ich war zu aufgeregt, um ihn zu fragen, ob er die Neujahrsansprache vor dem Tunneleingang schon hinter sich gebracht hatte. Ogi war auf dem Weg zu einer Sitzung im Oberwallis. Mindestens fünf Minuten schwatzten wir alle fünf trotz Kälte und Schneegestöber miteinander. Die Kinder waren begeistert. Sie winkten ihm zum Abschied mit grossem Vergnügen. «Das isch aber e Nette», sagten sie nachher mehr als einmal. Alle waren beeindruckt, dass sich ein Minister so offen und herzlich gibt, so spontan offen und nahbar, keine Spur von politischer Distanz, Misstrauen oder Argwohn dem eben erst ins Parlament gewählten armeeabschafferischen Landesverräter gegenüber.
Diese Begegnung in Kandersteg prägte alle weiteren. Wann immer wir einander näherkamen, spürte ich sein grosses Herz, seine Menschenliebe und Herzlichkeit. Wobei ich mit Ogi kaum je politisch zu tun hatte. Zu unterschiedlich waren unsere Schwerpunkte. Und als er 1995 das EMD/ VBS übernahm, hatte ich mich aus der sicherheitspolitischen Debatte zurückgezogen. Mit einer Ausnahme: Bundesrat Ogi hatte die liberale Güte, mich 1996 in die sogenannte Brunner-Kommission zu berufen, die Kommission, welche eine neue Konzeption der Sicherheitspolitik entwerfen sollte. Ich war unter 40 Kommissionsmitgliedern der einzige aktive GSoAt und hatte die unmögliche Aufgabe, die über eine Million Menschen zu vertreten, welche am 26. November 1989 dem die Schweiz ist eine Armee ein Ende setzten und eine andere, friedenspolitisch fundierte Sicherheitspolitik aufbauen wollten. Der Brunner-Kommission gelang unter dem Motto «Sicherheit durch Kooperation» eine sinnvolle, wenn auch noch nicht ausreichende Neuorientierung, so dass ich dem Papier im Unterschied zum nationalkonservativen Antipoden Blocher zustimmen und es unterschreiben konnte. Dölf Ogi schien daran seine klammheimliche Freude gehabt zu haben. Obwohl der Neuorientierung, welche die Brunner-Kommission vorschlug, von den in der Armee und im Parlament herrschenden Mehrheiten nur sehr unvollständig nachgelebt wurde, haben wir auch darüber leider nie miteinander diskutieren können.
Deshalb nehme ich die Gelegenheit dieses Buches zum 75. Geburtstag zum Anlass, Dölf jene vier Fragen zu stellen, die mich seit unserer Begegnung an der Verladerampe Kandersteg begleitet haben und die wir trotz aller Auslastung vielleicht einmal im Bären von Fraubrunnen oder im schmucken Schweizerhof-Stübli in Kandersteg miteinander noch erörtern könnten:
❀ Weshalb hast Du, Dölf, Deinen guten Draht zu fast allen Schweizerinnen und Schweizern nicht mehr genutzt, um sie von einem Umdenken in ihrer Beziehung zu Europa zu nutzen? Nicht im Sinne eines Beitrittes zur EU, sondern im Hinblick auf die Einsicht, dass uns niemand im sogenannten Ausland bedroht, dass Ausländer uns keine Angst machen müssen, sondern dass sie Vieles mit uns gemeinsam haben, ganz ähnliche Werte, Hoffnungen und Sehnsüchte teilen, welche wir miteinander viel leichter verwirklichen können als gegen- oder ohne einander? Wäre diesbezüglich nicht mehr möglich gewesen, so dass wir einen tieferen Wandel hätten verwirklichen können?
❀ Weshalb hast Du nie offen darüber gesprochen, weshalb Du Dich mit Bezug auf die wegweisende und erfolgreiche Alpen-Initiative so geirrt hattest? Weshalb hast Du selbst nach deren Annahme 1994 durch Volk und Stände weiter gezögert statt diese Vorlage als grosse Chance zu nutzen für eine ökologischere Verkehrspolitik, die auch für Europa richtungsweisend war und ist?
❀ Weshalb hast Du zwar die fremdenfeindlichen, autoritären, nationalistischen und rücksichtslosen Kampagnen, Diskurse, Hetzen und Verirrungen der SVP der letzten 20 Jahre immer wieder kritisiert und deren Ende verlangt, hast aber nie wirklich die Konsequenzen aus der Ignorierung Deiner Kritik gezogen und nicht einmal dann die SVP verlassen, als um Samuel Schmid und Evelyn Widmer-Schlumpf herum Deine Dir am nächsten stehenden Parteifreunde die BDP gründeten als anständige, ja geradezu ogistische Alternative, die gerade im Kanton Bern sich relativ erfolgreich etablierte?
❀ Glaubst du wirklich, dass der Sport für die Gestaltung unserer Gesellschaft ein Vorbild sein kann? Ich frage dies als grosser Fussball- und Hockeyfan, der sich aber der Grenzen des Sportes bewusst ist. Ist es nicht vielmehr so, dass die Konkurrenz- und Wettbewerbsbeziehungen, welche dem Kapitalismus eigen sind und dessen Brutalität ausmachen, durch den Sport perpetuiert und legitimiert werden, so dass viele Menschen glauben, die Gesellschaft könne gar nicht anders organisiert werden, und dass die Menschen einander nur als Konkurrenten, Gegner und Widersacher begegnen können?
Es würde mich freuen, wenn wir zusammensitzen und diese Debatten noch nachholen können. In der Dir eigenen Herzlichkeit, Offenheit und Herzenswärme und für neue gemeinsame Einsichten.
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Andreas Gross (65), St-Ursanne, ist Politikwissenschaftler, Historiker und Spezialist für Fragen der Direkten Demokratie. Er war von 1981 bis 1993 Gründer und eine der Schlüsselfiguren der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). Miterfinder der Anti-FA/18- und UNO-Mitgliedschafts-Initiative. Von 1991 bis 2015 Nationalrat (SP/Zürich), ab Januar 1995 Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, und von 2008 bis Januar 2016 dort Fraktionspräsident der SP. Seit 25 Jahren ist Gross auch Lehrbeauftragter an verschiedenen europäischen Universitäten zu Fragen der Direkten Demokratie und der Philosophie und Geschichte des utopischen Denkens. Sein letztes Buch ist im Thuner Werd& Weber-Verlag erschienen: Die unvollendete Direkte Demokratie, 1984-2015: Texte zur Schweiz und darüber hinaus (390 S.).
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