10. Juni 2017

Elektronische Demokratie: Schnelligkeit ist aus demokratischer Sicht bloss eine Sekundärtugend


Sulla NZZ del 4 giugno è apparso un articolo («Mehr Papi-Zeit dank dem Internet») che parla del successo nella raccolta di firme (per l’ini­ziativa Il congedo paternità, subito!) grazie ai social media e sulla piattaforma wecollect. Le firme così raccolte sono state 30’000, ossia 1/4 del totale (oltre 120’000). È questo il futuro della democrazia diretta?

Nicht unbedingt. Ich bin überzeugt, dass diese Initiative auch mit ande­ren Initianten, die möglicherweise ganz traditionell die Unterschriften ge­sammelt hätten, zustande gekommen wäre. Und wir müssen auf­pas­sen, wenn wir wie wecollect jetzt schon von elektronischer Unterschriften­samm­lung sprechen. wecollect ist ja nichts anderes als eine Orga­ni­sa­tion mit einer umfangreichen Sammlung von elektronischen Adressen, über welche die wecollect-Verantwortlichen verfügen können. Das heisst, sie können, wenn sie dies möchten, ihren Adressen per Internet einen Unterschriftenbogen schicken, den die Adressaten dann ausdrucken und von Hand unterschrieben per Post an die Bundeskanzlei oder wecollect oder an ein anderes Initiativsekretariat senden können. Da ist also noch viel traditionelles Papier, Briefumschlag, Briefmarke und die Post dabei mit einem vergleichsweise geringen Anteil von Elektronik, beziehungsweise Internet.

Vedremo presto campagne referendarie online?

Ich denke nicht. Ich verstehe die Bundeskanzlei, welche diese Perspek­ti­ve nicht favorisieren und beschleunigen will. Prioritär ist das elek­tro­ni­sche Wählen für alle Auslandschweizer, welche keine zuverlässige und rasche Post zur Verfügung haben wie wir uns dies gewohnt sind in der Schweiz. Und auch dies wird nicht so schnell gehen, wie viele Aus­land­schweizer sich erhoffen, weil die Angst vor dem Hacking und der Mani­pu­lation des Systems eher wieder grösser werden und die vorliegenden technischen Konzepte noch nicht ganz überzeugen.

Doch wie wecollect zeigt, kann man sich durch das Internet und den Computer schon heute helfen lassen. Dies wird sicher von immer mehr engagierten BürgerInnen so gemacht werden. wecollect sind auch nicht die einzigen, die über solche Adress-Sammlungen verfügen können. Ich bin auch überzeugt, dass sich die Bundeskanzlei fragt, wie sie das In­ter­net für die Direkte Demokratie besser nutzen lässt. Doch dies wird sich wohl eher auf die Verbesserung der Meinungsbildung und die Debatte beziehen und weniger Priorität auf die Art der Unterschriftensammlung.

La tradizionale raccolta di firme per un’iniziativa o un referendum in luoghi affollati (p.es. nei centri commerciali) o davanti ai seggi elet­to­rali è destinata a sparire?

Nein keineswegs. Denn dieses direkte Ansprechen der Bürger bei allen Gelegenheiten wird einerseits von den meisten Bürgern sehr geschätzt. es ist die schönste Art, Menschen, die vielleicht weniger mit der Politik zu tun haben, zu einem Gespräch zu veranlassen, das alle Beteiligte, auch den Unterschriftensammler, weiterbringt. Dieses Gespräch ist ein ganz wesentlicher Beitrag zur Meinungsbildung und zur Erarbeitung von Mehrheiten, die es noch nicht gibt. Und drittens gehören diese spontanen zufälligen Begegnungen zu den inspirierendsten und ermutigendsten Er­fahrungen, die ein Demokrat machen kann. Man lernt sehr viel von die­sen Menschen, erfährt von Sorgen, Ansichten und Überlegungen, von denen man in der Zeitung nichts lesen kann oder von denen man am Radio nichts hört. Dies sollten wir nie ersetzen, beziehungsweise ab­kürzen wollen.

Sarà, secondo lei, un processo lento o relativamente veloce (due / tre anni, o di più)?

Demokratie ist keine fast-food-Kost, es gibt keine subito Demokratie. Wer viele Menschen in einen Entscheidungsprozess integrieren möchte, wer mit möglichst vielen diskutieren möchte, bevor entschieden wird, der braucht Zeit und dem muss man Zeit geben. Schnelligkeit ist aus demo­kra­ti­scher Sicht bloss eine Sekundärtugend. Das gilt ganz besonders für neue, originelle Gedanken, Vorschläge oder Reformen und ebenso für neue Organisationen, die sich mit einer neuen Idee erst auch finden. Doch genau dafür ist die Direkte Demokratie auch erkämpft worden. Alte, grosse, mächtige Organisationen brauchen sie nicht; die haben anderen Möglichkeiten, sich Gehör und Einfluss zu verschaffen. Und von veloce, Gewalt, sehe ich nichts - ganz im Gegenteil, je sorgfältiger ein demo­kra­ti­scher Prozess möglich ist, umso gewaltfreier ist der gesellschaftliche Wandel möglich. Und vergessen sie bitte Perikles nicht: Er sagte schon 400 Jahre vor Christi Geburt, dass eine weise Entscheidung eine gute Diskussion voraussetzt - und diese braucht eben ihre Zeit.

Perch&ecaute; la Confederazione non incoraggia la raccolta di firme su Internet, e sostiene invece con più convinzione il voto elettro­nico?

Ich kann diese Frage als Aussenstehender nur teilweise beantworten. Doch ich gehe davon aus, dass sich die Behörden der genannten Ge­fah­ren (Hacking, Infiltration, Manipulation) sehr bewusst sind und noch keine absolut überzeugenden Lösungen dagegen gefunden haben. Zweitens ist die Unterschriftensammlung per Internet keine Priorität. Denn die Ge­schwin­digkeit ist nicht das einzige, das zählt. Wichtig ist, dass man sich die Zeit zur Reflexion gibt, was auf die bisherige Art gegeben ist und im Falle der reinen Internetsammlungsform weniger, beziehungsweise we­ni­ger sicher. Drittens schätzen es die Bürger, wenn sie direkt ange­spro­chen werden und direkt auf Augenhöhe miteinander diskutieren können. Die reflexive Diskussion, oder die Deliberation, ist die Seele der Direkten Demokratie. Möglicherweise möchte der Bund keine Gefahr laufen, diese Seele zu verletzen.

Quali sono, per la democrazia svizzera, i vantaggi e gli svantaggi della raccolta di firme su Internet e del voto elettronico?

Der grosse und meines Erachtens heute einzige Vorteil ist die höhere Geschwindigkeit. Doch dies würde dann auch unweigerlich die Erhöhung der notwendigen Unterschriftenwahlen, beziehungsweise die Verkürzung der heute gesetzten Zeit von 18 Monaten für eine Initiative nach sich ziehen. Dies möchte ich nicht und deshalb hat diese Reform für mich keine Priorität.

Es könnte übrigens sein, dass auch diese Initiative (Vaterschaftsurlaub) zu schnell lanciert wurde. Bei längerem und kontroverserem Nachdenken hätte man vielleicht gemerkt, dass die Forderung nach einem Eltern­ur­laub mit unterschiedlichen Optionen für Vater und Mutter angemessener gewesen wäre. Doch ist dies in diesem Fall nicht so schlimm. Denn meine m.E. bessere Alternative eignet sich vorzüglich als parla­men­ta­ri­scher Gegenvorschlag, so dass die Stimmberechtigten unter ver­schie­de­nen Formen der Verbesserung der Beziehung zwischen Kind und El­tern­teilen entscheiden können, was wiederum mehr Demokratie bedeuten würde. Hoffen wir, dass das Parlament diese Möglichkeit auch sieht und sie realisiert.


Kontakt mit Andreas Gross



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