22. Juni 2017
Weltwoche
|
«Endlich daheim»
Feinmechanisch gut austariert, wie es sich für diese ländliche Industrieregion gehört, beschloss am vergangenen Wochenende die Mehrheit der Stimmberechtigten von Moutier den politischen Transfer in den Jura. Moutier wird zur zweitgrössten Stadt und zum neben der Ajoie, Delsberg und den Freibergen vierten Bezirk des jüngsten Kantons der Schweiz.
Von Andreas Gross
1815 war kein Jurassier gefragt worden, auch keiner aus Moutier. In den Wiener Schlossgemächern beschlossen vielmehr die mehrheitlich reaktionären Staatsoberhäupter Europas, die Jurassier zwischen der Ajoie und dem Bielersee, die bisher in zum Fürstbistum Basel, zum französischen Departement Mont Terrible, beziehungsweise Haut-Rhin gehörten, inklusive der Stadt Biel dem Kanton Bern einzuverleiben. Einerseits zur Kompensation der aus der Berner Herrschaft befreiten neuen Kantone Aargau und Waadt; andererseits weil Frankreich via Bern seinen militärischen Einfluss auf die Region jenseits seiner Grenze nicht ganz verlieren wollte.
Acht mal wurden die Bewohner von Moutier, der Stadt im Herzen dieses Jura-Gebiets, während der vergangenen 68 Jahre gefragt, ob sie sich aus dem Kanton Bern verabschieden und (ab 1977) Teil des nördlichen Kanton Jura werden wollen. Am vergangenen Sonntag entschieden 89,7% der Stimmberechtigten von Moutier mit einer Mehrheit von 136 Stimmen mit Ja. Moutier hat beschlossen, auch politisch eine jurassische Stadt zu werden. Die Freude in den Strassen war riesig. Tausende fielen sich in die Arme. Mehr als zehntausend Menschen sangen die Rauracienne, die jurassische Hymne auf die eigene Republik. Gestandenen Männern, Veteranen der 1947 gegründeten Separatisten-Bewegung für einen Jura libre, kullerten die Freudentränen über die Wangen. Der Brunnen war voller Wein. Das Fest soll bis in die frühen Morgenstunden gedauert haben.
«Moutier heiratet den Jura», «Der grosse Sprung», «Ein Traum wird wahr», «Freudentränen», «Moutier kehrt nach Hause zurück», «Endlich daheim! », «Das Glück am Ende des Leidensweges», «Moutier unter der Sonne der Freiheit», «Ein Brexit à la Jurassienne», «Herz und Verstand waren stärker als die Angst»: So lauteten die Schlagzeilen am Tag danach. Für die knapper als erwartet unterlegenen Berntreuen war es schlicht «eine Katastrophe». Ihr Berner Regierungsrat Neuhaus bastelte aus dem Brexit und einem Murks den im grossen Kanton sehr bedauerten Mouxit. Doch die Legitimität des vom Kanton Bern Ende der 1960er Jahre zur Überwindung der Gewalt entwickelten kommunalistischen Abstimmungs-Kaskade und deren Ergebnis war unbestritten. «Demokratische Uhrmacherarbeit vom feinsten», wie der ehemalige Tessiner Ständerat und Präsident der Interjurassischen Versammlung, Dick Marty, zufrieden lächelnd kommentierte.
1959 hatte auch Moutier erstmals eine kantonale Volksinitiative für eine Konsultativ-abstimmung zum Abschied vom Kanton Bern bei einer Stimmbeteiligung von 86,48 Prozent mit 67 % Nein abgelehnt. 1974 waren in Moutier bei einer Stimmbeteiligung von 89,32 % nur noch 50,8 % gegen die Gründung eines neuen Kantons. 1975 entschieden sich dann zweimal bei einer Stimmbeteiligung von 95 % die Bewohnerinnen und Bewohner von Moutier mit von Bern aus der schwarzen regierungsrätlichen Kasse gepuschten 53 %-, beziehungsweise 54 %-Mehrheiten für den Verbleib beim Kanton Bern; 1998 wurden diese Entscheide knapp bestätigt. Obwohl vor 30 Jahren die jurafreundlichen Separatisten in den kommunalen Behörden, der Exekutive wie der Legislative, die Mehrheit übernahmen und seither nicht mehr abgaben. Im November 2013 sprach sich die Stadt Moutier als einzige grössere Gemeinde des Berner Juras für das Projekt einen neuen grossen, den Süden und den Norden des Jura vereinenden Kantons aus. Was wiederum der Stadt die jetzige Entscheidung ermöglichte, sich alleine, beziehungsweise eventuell zusammen mit zwei Nachbarsgemeinden, die im September beschliessen werden, sich dem Kanton Jura anzuschliessen.
Matchentscheidend für dieses Ja zum Jura dürfte die Aufbruchsstimmung gewesen sein, welche die Jurassier vor allem unter den Jugendlichen Moutiers zu wecken verstanden. Der nahe und kulturell verwandte Jura versprach mehr Freiheit und Einfluss, während die Kampagne der Berntreuen mehr von der Angst geprägt war, etwas zu verlieren, was man glaubte dem Kanton Bern zu verdanken.
Kontakt mit Andreas Gross
Nach oben
|