15. Jan. 2017

Sonntagszeitung

Ausfürliche Fassung

Zur Kurzfassung

Die Grundidee der Direkten Demokratie ist die partizipative Durchdringung der politischen Macht, nicht nur des Staates


Brexit, Trump, AfD etc. illustrieren die Folgen der Entmachtung von Politik, Arbeit und Demokratie zugunsten der globalen Finanz­wirt­schaft, der Märkte und des Kapitals.

Grundsätzlich Ihre Meinung zur Idee dieser Geenpeil-Partei: Die Partei hat sich für die kommenden Wahlen aufgestellt. Sie verspricht, dass die gewählten Personen a) im Parlament nichts in Hinterkämmerchen be­spricht, sondern sämtliche Verhandlungen mit anderen Parteien mit Webcam öffentlich durchführen. Und b) das stimmen, was die Mitglieder der Partei vorher per App abgestimmt haben - sie sind also nicht wirklich Politiker sondern lebende Stimmkästchen, die als Übermittler wirken. Die Gründer von Geenpeil wollen damit mehr demokratische Rechte und mehr politische Macht für die Bevölkerung erreichen. Was halten Sie grundsätzlich von einer solchen Idee, von einer solchen Form von Demokratie?

Ich kenne und unterstütze seit vielen Jahren in Holland Personen aus verschiedenen Parteien, die sich für die Einrichtung der Direkten De­mo­kratie in den Niederlanden einsetzen. Bisher ist dies leider nur halbwegs gelungen – mit entsprechenden unzulänglichen Konsequenzen. So gibt es nun wie in Italien zwar ein Referendum, aber noch kein Initiativrecht. Konsequenz: Die Direktdemokraten bekommen eine Neinsager-Schlag­seite; sie können ihre positiven Reformideen nicht einbringen, sie werden daran gehindert, ihre Konstruktivität zu illustrieren.

Geenpeil ist Ausdruck der Krise der Repräsentanz, wie sie nicht nur in den Niederlanden zu beobachten ist. Viele Bürger fühlen sich mehr schlecht als recht vertreten durch ihre Repräsentanten; sie fühlen sich ihnen ausgeliefert und selber ohnmächtig. Die von Ihnen genannten entsprechenden Heilmittel, die Geenpeil vorschlägt, haben zwar eine lange Geschichte – früher sammelte man diese Vorschläge unter dem Kapitel Imperatives Mandat - zielen weit über das Ziel hinaus; sie ver­kennen die Arbeit der Parlamentarier völlig und würden auch die Partei­mitglieder völlig überfordern und die Arbeit des Parlamentes nicht ver­bessern. Je mehr Öffentlichkeit in einzelne Diskussionsorte von Par­la­mentariern (Kommissionssitzungen, Koalitionsverhandlungen, Ab­spra­chen) gebracht werden, umso mehr Aus- und Verlagerungen dieser De­batten an neue, andere, wiederum vertrauliche Diskussionsorte werden sie zu Folge haben. Ebenso wird es unmöglich sein, jede mögliche Ent­scheidung eines Parlamentariers vorwegzunehmen in einem Partei­rah­men und ihn so mandatieren zu wollen.

Je mehr die Geenpeiler lernen und erfahren, desto mehr werden sie an­dere, bessere Reformvorschläge finden: Wichtige Fragen vorher partei­öffentlich diskutieren und so den Repräsentanten zeigen, wie die Mit­glieder oder zu Repräsentierenden denken. Oder eben Referendums­mög­lich­kei­ten zu allen parlamentarischen Entscheidungen einrichten; diese erzielen immer schon eine grosse Vorwirkung, weil Parlamentarier viel gewissenhafter und sorgfältiger entscheiden, wenn sie wissen, dass dieser ihrer Entscheidung öffentlich widersprochen und eine Recht­fer­ti­gung, beziehungsweise eine Rückweisung im Nachhinein verlangt wer­den kann. Schliesslich auch durch die Einführung von Volksbegehren (Initiativen oder Motionen), mittels derer Regierung und Parlament das Monopol auf die Festlegung der öffentlichen Tagesordnung entrissen werden kann. So können alle mitbeeinflussen, worüber diskutiert wird in der Öffentlichkeit. Denn was anders werden soll, muss mindestens diskutiert werden – auch wenn dies noch nicht garantiert, dass dann auch genau das geschieht, was man selber richtig findet.

Geenpeil nimmt die Schweiz als grosses Vorbild.

Da bin ich mir nicht so sicher. Wäre dies so, dann würde Geenpeil noch viele andere und vor allem viel genauere Vorschläge machen. Die Schweiz hat in den Niederlanden ganz allgemein politisch keinen guten Ruf. Als kritischer Progressiver kann man sie sich nicht einfach zum Vorbild nehmen. Man kann höchstens einzelne Elemente aufnehmen und in einer modernisierten Form in den Niederlanden zur Diskussion stellen.

Inwiefern lässt sich die Schweizer Demokratie in andere Länder exportieren?

Es geht ja nicht um den Export der Schweizer Demokratie tellequelle und insgesamt. Da ist diese viel zu breit, zu tief, zu vielfältig und vor allem historisch gewachsen. Vielmehr geht es um den Import von einzelnen Elementen wie der Dezentralisierung des Staates, Aufwertung der kom­mu­na­len Kompetenzen, Schaffung von Regionen mit eigenständigen Kompetenzen oder eben um die Einführung von Referendumsrechten oder von vorschlagenden Elementen der Direkten Demokratie (Ver­fas­sungs­initiative, Gesetzesinitiative, Volksmotion, Einzelinitiative, kon­struk­tives Referendum etc). Letzteres ist in den vergangenen 120 Jahren schon mehrfach geschehen: Denken Sie an die westlichen US-Bundes­staaten vor dem 1. Weltkrieg oder an das Baltikum in der Zwischen­kriegs­zeit. Und seit dem 2. Weltkrieg haben sich Ausländer immer wieder an Schweizer Erfahrungen inspirieren lassen. Auch das wäre also alles andere als neu.

Welche Schwierigkeiten gibt es dabei, ein politisches Modell zu ex­por­tie­ren?

Es beginnt schon mit der Frage, was ein Modell ist und was alles zu diesem Modell gehören würde. Die Schweiz ist beispielsweise kein Modell – dazu gibt es in der Schweiz viel zu viele verschiedene Modelle der Direkten Demokratie. Die Schweiz ist vielmehr ein riesiger Schatz von Erfahrungen und Einrichtungen; ein direktdemokratischer Steinbruch, aus dem man einiges herausbrechen und neu einbauen kann; eine reiche Quelle von vielen Inspirationen. Entscheidend ist, dass man das, was man anhand der Schweiz lernen kann, bezüglich dieser Instrumente ebenso mitnimmt und den Einbau sehr sorgfältig und umsichtig vollzieht. Denn das Design der Verfahren und Institutionen entscheidet über die demokratische Qualität der Demokratie.

Hätte das früher passieren müssen? Sind die Systeme jetzt in anderen Ländern zu fix, um die Schweizer direkte Demokratie noch einzuführen?

Es ist nie zu spät, dazuzulernen und klüger zu werden. Auch in der Schweiz sind die wesentlichen direktdemokratischen Rechte und In­stru­mente nach und nach dazugekommen – auch die Schweiz von 1848 war primär eine indirekte Demokratie und wurde erst zur Direkten Demokratie, weil mit der Repräsentation Unzufriedene diese Reform wollten und er­kämpften. Heute muss man direktdemokratische Elemente beispiels­wei­se in den Niederlanden oder Deutschland mit anderen dort bereits vor­han­de­nen Errungenschaften der Demokratie kombinieren und fein ein­betten (beispielsweise mit Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit oder das freilich ebenfalls zu demokratiserende EU-Recht).

Steht die Schweiz in der Pflicht, ihr System anderen Ländern schmack­haft zu machen?

Die Schweiz steht in keinerlei Pflicht und schmackhaft muss sie anderen gar nichts machen. Die Schweizer Behörden hätten freilich schon viel früher merken können, welch positive und moderne Errungenschaft die Direkte Demokratie darstellt, die da gegen den Willen der etablierten Berner Mehrheiten zwischen 1860 und 1975 eingerichtet worden ist. Und sie könnten diesen Trumpf durch Verfeinerungen, Stärkungen der ent­spre­chenden Infrastruktur und Umfeldreformen weiter bekräftigen, statt ihn zu beklagen, zu vernachlässigen oder einfach als Quantité Negligable zu behandeln. Und schliesslich könnte sie all jene im In- und Ausland, die sich für die Geschichte, die Entwicklung und die Zukunft der Direkten Demokratie interessieren mit viel mehr Materialien, aufgearbeiteten Erfahrungen und kritischen Ermutigungen empfangen und bedienen als dies heute der Fall ist.

Welche Verantwortung hat die Schweiz für die Demokratie in Europa?

Diese Frage zielt noch viel weiter als die letzte und bedarf einer sehr viel ausführlicheren Antwort als dies hier möglich ist. So sollte die Schweiz, beziehungsweise sollten die Schweizerinnen und Schweizer merken, dass sie ihre eigene Demokratie nur in dem Rahmen schützen, ver­tei­di­gen und stärken können, als sich auch andere Europäische Länder und vor allem die transnationale Europäische Union demokratisiert. Die ent­scheidende Verantwortung entspringt der Erkenntnis, dass auch die Di­rekte Demokratie national nicht mehr zu retten ist. Denn ihre Grundidee ist die partizipative Durchdringung der politischen Macht, nicht nur des Staates. Und da dem Staat selber immer weniger politische Macht zu­kommt, ist die Demokratisierung der transnationalen Strukturen und Or­ganisationen (EU, UNO, Weltbank, IWF u.v.a.m.) entscheidend für die Zukunft der indirekten und Direkten Demokratie. Wie wenig Menschen in der Schweiz sich dessen bewusst sind, zeigt wie schwach die Demo­kra­tie auch in der Schweiz geworden ist und wie gross unsere eigenen Haus­aufgaben wären. Da sind viele Menschen in anderen Ländern schon weiter – selbst dort, wo es noch viel zu wenig Direkte Demokratie gibt.

Allgemein: Wie halten Sie von der Diskussion zur Zeit in Bezug auf Anti-Establishment-Bewegungen (Brexit, Trump, AfD, usw.)? Braucht es et­was Neues in Europa? Gibt diesen oft genannten Kampf zwischen Elite und Volk?

Ich habe Protagonisten all dieser von Ihnen genannten Bewegungen und Tendenzen in den vergangenen Monaten zwischen New Hampshire und Bournemouth, zwischen South Carolina und Brüssel live zugehört und mich intensiv mit ihnen befasst. Die Etiquetten Anti-Establishment oder Populismus erklären sie höchstens zu zehn Prozent. Sie sind Symptom von viel mehr und viel Grundsätzlichem. Sie illustrieren die Folgen der Entmachtung von Politik, Arbeit und Demokratie zugunsten der globalen Finanzwirtschaft, der Märkte und des Kapitals. Letztere sind normativ blind und ignorieren Menschen, Natur und deren Schwächen. 2016 haben sich an verschiedenen Orten der Welt die von den neuen Mächten Ver­gessenen Gehör verschafft. Leider sind sie aber noch nicht verstanden worden, denn ihre meist auch sehr elitären Sprachrohre übersetzen sie schlecht, beziehungsweise instrumentalisieren sie mehr, als dass sie sich wirklich ihrer Sorgen annehmen. Denn die Nationen und Staaten vermögen nicht mehr zu leisten, was diese vergessenen, sich verlassen und ohnmächtig fühlenden Menschen wollen: Dazu muss die Demokratie erst transnational, zumindest europäisch verfasst werden, damit sozial­po­li­tisch wieder geleistet werden kann, was dem Nationalstaat ver­un­mög­licht worden ist: Eine etwas weniger ungerechte, vernünftigere Ordnung unserer Gesellschaft. Das wäre wirklich etwas Neues, nein, das wäre das Neue in und für Europa.


Kontakt mit Andreas Gross



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