8. Dez. 2016
Weltwoche
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Der Junge aus Japan
und die Folgen der Globalisierung
Von Andi Gross (St-Ursanne, Politikwissenschaftler, langjähriger National- und Europarat, Mitbegründer von eurotopia, einer Bürgerbewegung für eine europäische, föderalistische Verfassung)
Vor einigen Monaten wollten japanische Eltern ihren unbotmässigen neunjährigen Jungen bestrafen. Sie fuhren mit ihm ins Land hinaus. In einem riesigen Wald, wo sogar Bären leben sollen, setzten sie ihn aus und überliessen ihn seinem Schicksal. Der Junge erschrak nicht wenig, versteckte sich erst in einem Gebüsch, weinte und begann nach einigen Stunden zu laufen. Ziellos, denn er wusste nicht wohin. Er war in seinem Elend mutterseelenallein. Wie alle Kinder wollte er einfach nach Hause, zurück zu seiner Mutter. Doch die hatte ihn ja ausgesetzt. Da konnte er nicht mehr hin. Was nun?
Ein Grund für die hohe Wertschätzung des Staates bei vielen wirtschaftlich nicht auf Rosen gebetteten Menschen ist die stille Hoffnung, der Staat erweise sich in Zeiten der individuellen Not als eine solidarische Gemeinschaft, als Sozialstaat. Dies war zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Anspruch vieler westeuropäischer Staaten. Dafür griffen sie ins wirtschaftliche Marktgeschehen ein, versuchten es so zu gestalten, dass alle gut ausgebildet wurden und eine angemessen entlöhnte Arbeit fanden. Jene, welche die Wirtschaft «frei setzte», fingen sie auf und halfen mit Arbeitslosengeldern und Umschulungsprogrammen aus, wo viele allein verzweifelt gestrandet wären.
Mit der Entgrenzung der Märkte, der Hegemonie der Finanzmärkte und der Deregulierung der Wirtschaft, mithin dies, was man Globalisierung nennt, verloren die Staaten in den vergangenen 25 Jahren in zweifacher Hinsicht diese soziale Ausgleichsfähigkeiten. Einerseits waren sie nicht mehr die Subjekte des Geschehens, sondern deren Objekte. Sie konnte die Märkte nicht mehr gestalten, sondern mussten sich deren Logik unterziehen. Statt für die Absicherung der Arbeitenden sorgten sie für die Erfüllung der Bedürfnisse der Märkte und Investoren. Andererseits entzogen sich die grössten Unternehmungen und reichsten Individuen immer mehr der Steuerpflichten, so dass der Staat gar nicht mehr in der Lage war, die Einnahmen zu organisieren, welche zur Finanzierung der traditionellen Sozialpolitik notwendig gewesen wären.
Heute wird nun vielen Europäern die Brutalität der wilden, ungestalteten Globalisierung bewusst. Und so wie Kinder in der Not fast reflexartig nach Hause rennen, die Geborgenheit der Familie suchen, wenden sich viele Europäer auch wieder dem Staat zu. Vor allem dann, wenn es Parteien gibt, die vorgeben, wieder für den alten Schutz zu sorgen, obwohl diese genau wissen, dass dafür jegliche Voraussetzungen fehlen.
Das heisst, diese neuen Nationalisten gleichen sehr dem eingangs erwähnten Jungen aus Japan. Sie fühlen sich allein gelassen, ungeschützt, und wissen nicht mehr wohin. Denn wie er von seiner Familie, sind sie von ihren Staaten verlassen worden. Den Jungen haben seine japanischen Eltern nach fünftägiger intensiver Suche schwach aber doch unversehrt wieder gefunden. Die alleingelassenen Bürger werden ihre Absicherung aber nicht mehr im alten Staat, sondern nur in neu zu schaffenden, transnationalen, europäischen Institutionen finden, die wieder Subjekte der Märkte sind.
Der Staat ist zu klein geworden für das Grosse (soziale Sicherheit) und zu gross für das Kleine (Geborgenheit), sagte der frühere deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker schon vor 20 Jahren. Heute müssen wir endlich daraus die Konsequenzen ziehen und im Rahmen eines europäischen demokratischen Bundesstaates sozialpolitisch neu einrichten, was der alte Staat nicht mehr leisten kann. Und andererseits müssen wir die alten Staaten so aufbrechen und dezentralisieren, dass regional selbst bestimmt werden kann, was subnational menschlicher zu gestalten ist.
Kontakt mit Andreas Gross
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