7. Nov. 2016
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Gezähmter Rebell
![]() Foto: Beat Schweizer In jungen Jahren stellte er den Volkswillen über alles. Heute macht er sich für eine Beschränkung des Initiativrechts stark. Die Wandlung des Demokratieexperten Andreas Gross. Von Urs Paul Engeler Die Fahrt an den äussersten Rand der Schweiz führt zu einem Menschen, der das zentrale Element der politischen Schweiz zu seiner Passion, ja «Herzensangelegenheit» gemacht hat: die direkte Demokratie. Oder wie Andreas Gross selbst stets bewusst mit Grossbuchstaben schreibt: die Direkte Demokratie. Oben auf dem Scheitel des Col des Rangiers steht Le Fritz nicht mehr, die Statue des Soldaten, der Wache hielt und die Menschen an die Grenzbesetzung während des Ersten Weltkriegs erinnerte. 1989 haben jurassische Separatisten das monumentale Denkmal gestürzt und unrettbar zertrümmert. Und zwar, wie sie schrieben, aus Sympathie zur Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA), über deren Abschaffungs-initiative das Land im gleichen Jahr zu befinden hatte. Am Fuss des entmilitarisierten Passes, im jurassischen Städtchen St-Ursanne, haust Andreas Gross, der Mitbegründer, Vordenker, Wortführer und Chronist der GSoA-Bewegung, die das radikalste Volksbegehren der Schweizer Geschichte lanciert hatte. Zufall oder Ausdruck der Sympathie für den Kanton, der die Forderung, die Schweizer Armee zu liquidieren, an der Urne bejaht hat? Eine Referenz an die wilden Supporter, die von der direkten Demokratie sogar zur action directe geschritten sind? Der heute 64jährige wiegelt ab: «Nein. Oder vielleicht doch ein wenig.» Gross, in Japan geboren, in Basel aufgewachsen, lebte lange mit Frau und zwei Kindern in Zürich, dann zog er vor rund zwanzig Jahren mit einer neuen Partnerin in den Jura-Zipfel, der ihm von früher bereits vertraut war. Als junger Journalist hatte er für die Motorsport-Revue Powerslide über das Bergrennen St-Ursanne–Les Rangiers und den legendären Jo Siffert berichtet. Und für die Basler Familie war der Jura, erzählt Gross, «stets das wunderbare Naherholungsgebiet». Nach dem Smalltalk über Autorennen, Fussball und das Angeln in den fischreichen Juragewässern preist Gross die politische Virulenz des Jurabogens, den Hang dieser Menschen zur Revolte, ihren Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Er rühmt die anarchistisch-sozialistischen Uhrenarbeiter von St-Imier, die im 19. Jahrhundert jede Obrigkeit abschüttelten und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollten. Er rühmt die Jurassier dafür, wie sie sich gegen mächtige Widerstände den Weg in die Autonomie freikämpften; er erinnert an den Separatistenführer Roland Béguelin, mit dem er hier die regionale GSoA aufgebaut hatte. Es spricht der Radikaldemokrat Andi Gross der frühen Jahre, der mit seiner Initiative das Fundament der Schweizer Sicherheitspolitik und die kollektive Werteordnung angegriffen hatte. Der Aufschrei war laut, als 1985 die GSoA-Initiative lanciert wurde, und die Empörung mutierte zum Entsetzen, als vier Jahre später 35,6 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ihr zustimmten. Die Rache des Establishments blieb nicht aus. Der Zürcher Regierungsrat hatte Mitte 1989 Gross einen Preis und eine stolze Subvention zugesprochen. «Mit grosser Freude» teilte Regierungsrat Jakob Stucki (SVP) gönnerhaft mit, dass die Idee, zum 700-Jahre-Jubeljahr der Eidgenossenschaft 1991 einen Demokratiezug durch den Kanton tuckern zu lassen, mit 3000 Franken prämiert und ihre Realisierung mit 110 000 Franken unterstützt werde. Der polit-pädagogische Zug sollte in 14 Einheiten Geschichte und Bedeutung der direkten Demokratie illustrieren, die Menschen zur Autonomie bewegen und insbesondere Lehrkräfte zu Diskussionen und Aktionen animieren. Die Parolen von damals tönen vertraut und aktuell: «Wir wollen das letzte Wort», «Wir nehmen unser Schicksal in die eigenen Hände» und «Wir sind das Volk!». Nach der GSoA-Abstimmung, der «erfolgreichsten Niederlage in der Geschichte der schweizerischen Demokratie» (Gross), setzte in Leserbriefspalten und bürgerlichen Parteien ein Brummen und Murren ein gegen die staatliche Unterstützung der rebellischen Direktdemokraten. Die vor 26 Jahren noch spielbestimmenden Freisinnigen liessen am 2. Oktober 1990 durch die NZZ verkünden: «Die FDP kann nicht akzeptieren, dass ein Vertreter der doppelten Legalität, der sich ganz offensichtlich einen Deut um die Spielregeln unserer Demokratie schert, vom Kanton beigezogen wird, um Lehrern und Schülern das Wesen genau dieser Demokratie beizubringen.» Die Regierung müsse dafür sorgen, dass der «Lehrzug Demokratie» nicht mit diesem «Demokratieexperten» als Lokführer gestartet werde. Was der Rat auch tat. Zwei Tage später widerrief er unter der Federführung von Erziehungsdirektor Alfred Gilgen den bereits bewilligten Kredit. Offizieller Grund für die Sperrung war ein Aufruf der GSoA zur Verweigerung des Militärdienstes und zur Einführung eines Zivildienstes. Mit dieser Resolution, verlautbarte die Zürcher Regierung, stünden Gross und seine Mitstreiter «in klarem Widerspruch zum allgemeingültigen Demokratieverständnis in einem Rechtsstaat». Gilgen selbst ergänzte vor den Medien: «Wir haben kein Vertrauen in Herrn Gross als Demokratielehrer.» Die staatspolitische Brisanz des offiziellen Standpunktes wurde kaum diskutiert: Gibt es, wäre öffentlich zu fragen gewesen, eine allgemeingültige Definition der Anwendung direktdemokratischer Mittel? Setzt der Rechtsstaat der demokratischen Souveränität der Bürger Grenzen? Oder ist es nicht gerade umgekehrt: dass die Menschen an der Urne direktdemokratisch den Rahmen des Rechtsstaats bestimmen und verändern können? Immerhin ist aus dem damals unstatthaften Ruf nach einem Zivildienst anerkanntes Recht geworden. Und ein Aufruf zur Dienstverweigerung ist keine Meldung mehr wert. Gross reagierte damals mit der Kampfschrift Wer hat Angst vor mehr Demokratie?. In Wutbürgermanier schrieb er dem Volk alle Kraft zu: «Der Faden, aus dem die Demokratie gewoben wird, ist nicht aus Gehorsam, Hörigkeit gegenüber einer Obrigkeit gemacht, sondern aus einer eigenständigen Urteilskraft, dem Handlungsvermögen vieler und der Bereitschaft aller zur öffentlichen Auseinandersetzung.» Sogar Gesetze könnten missachtet werden, wenn die Verweigerung dem Appell an die Öffentlichkeit diene, «für deren Revision zu sorgen». Der klassische Konflikt: Unten gegen Oben. Basis gegen Repräsentanten der Macht. Seither hat sich einiges geändert. Die aufmüpfigen Linken begannen ihren Marsch durch die Institutionen, besetzten Schlüsselpositionen in Politik, Justiz und Verwaltung. Auch der Protestler Andi Gross rutschte in wichtige politische Ämter. 1991 wählten die Zürcher den Historiker und Politologen in den Nationalrat. Das hohe Amt gab ihm die Plattform, seine Ideen der Demokratie auch international zu verbreiten. Von den Färöern über Spanien, Russland bis Aserbaidschan – kaum eine Wahl in einem nahen oder fernen Land, die er nicht als Abgesandter des Europarats und der OSZE kritisch rapportierend beobachtet hätte. Der Armeeabschaffer mutierte, von seiner GSoA entfremdet, gar zum Befürworter bewaffneter Auslandeinsätze. Zur liebsten Bühne des SP-Politikers wurde das Rednerpult des Europarats in Strassburg, von vielen als Schwatzbude verspottet, von andern mit Argwohn bedacht, weil seine Resolutionen zumindest indirekt Wirkung erzeugen können. Das Globetrottern und die Aufenthalte in Strassburg trugen Gross in Bern den Ruf des Rekordhalters im Sitzungsschwänzen und Spesenreiten ein. 2011 wollten ihn nachdrängende Zürcher Genossen nicht mehr für die Nationalratswahlen nominieren. Das Argument, er habe die grosse Chance, Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu werden, rettete ihn in eine sechste Legislatur. (Er wurde es nicht.) Im Herbst 2015 kam das endgültige Aus im eidgenössischen Parlament. Nun tut er als Privatier, was er neben der aktiven Politik immer gemacht hatte: Er reist, trägt vor, doziert (in St. Gallen an der HSG etwa über Geschichte und Philosophie des utopischen Denkens); er diskutiert, schreibt Kolumnen, verfasst Bücher. Das jüngste und sehr schön gestaltete, eben erschienene Werk trägt den Titel Die unvollendete Direkte Demokratie. 1984–2015: Texte zur Schweiz und darüber hinaus. Es ist die vorläufige Summa seiner publizistischen Bemühungen. Wer in der 382 Seiten starken Aufsatzsammlung liest, stellt einen bemerkenswerten Wandel fest. Der Rebell von gestern erklärt nun, auch der Demokrat dürfe nicht alles. Plötzlich ist die direkte Demokratie nicht mehr die legitime Waffe des eigenständigen und allenfalls auch ungehorsamen Bürgers, der mit der Mehrheit die Verhältnisse ändern und die Obrigkeit zu Kurskorrekturen zwingen will. Die direkte Demokratie sei eben, lehrt Gross heute abgehoben bis sibyllinisch, «ein Gesamtkunstwerk im Sinne eines Mosaiks aus mindestens 250 Steinchen, die unterschiedlich gross sind und unterschiedliche Formen haben, wobei nicht nur die Stärke der einzelnen Mosaiksteine, sondern auch deren Beziehung zueinander die Qualität der Demokratie ausmacht». Die über 250 geheimnisvoll arrangierten Elemente werden einzeln nicht benannt. Das werde im nächsten Buch enthüllt, sagt er. Vor dem Haus in der Randzeile der verwinkelten Altstadt von St-Ursanne steht ein älterer Saab 9-5, rundum verziert in den Farben des FC Basel. In einer kleinen Vitrine stehen, leicht zu übersehen, handtellerkleine Bände der Edition Le Doubs. Es sind akkurat zusammengetragene Aufsatzsammlungen zu akuten politischen Debatten (Einbürgerungen an der Urne, Anti-Minarett-Initiative, Bundesratswahl) sowie larmoyant-linksutopische Blütenlesen im Stil von Eine andere Schweiz ist möglich. Ein winziges Messingschild weist zum Eingang des Atelier pour la Démocratie Directe, kurz ADD. In Zürich hiess die private Denkfabrik Wissenschaftliches Institut für direkte Demokratie. Die Tür öffnet der schlaksige, graumähnige und leicht gebeugte Gründer, Direktor, Bibliothekar und Sprecher des Instituts. Die Innenräume des sanft renovierten Gebäudes brauchen keine Tapeten; die zahllosen Bücher decken fast jeden Quadratzentimeter der Wände zu. Draussen im ziemlich naturbelassenen Garten, schon ennet der Stadtmauer, am ruhig dahinfliessenden Doubs, serviert Gross Kaffee, Wasser und Madeleines: ein Idyll mit einem freundlichen Menschen. Ein kontroverses Gespräch wird es trotzdem. Andreas Gross bezeichnete die erfolgreiche Anti-Minarett-Initiative als Irrtum, nahm die Initiativen zu Ausschaffung, Verwahrung oder Berufsverbote für Pädophile zum Anlass, an Tagungen, mit Manifesten und parlamentarischen Vorstössen die Beschränkung des Initiativrechts zu fordern. Es entstand der Eindruck, dass dem Radikaldemokraten die direkte Demokratie nicht mehr passt, wenn sie von rechts kommt und den Vorrang des Nationalen fordert. Ist dem so, Herr Gross? «Wir müssen mit diesem kostbaren Instrument sorgsam umgehen. Es darf nicht zur Abstimmung kommen, was gar nicht umgesetzt werden kann», gibt er zurück: Die genannten Initiativen richteten sich alle gegen Minderheiten; da drohe «die Despotie der Mehrheit», und dazu dürfe die direkte Demokratie nicht werden. Die Schweiz habe 1848 zwar mehr Ideen der Französischen Revolution übernommen als andere Länder – «nicht aber den Grundsatz der Egalité. Der Gedanke der absoluten Gleichwertigkeit aller Menschen ist den Schweizern immer noch fremd.» Eine gewagte Behauptung. Auch wenn die Schweiz kein sozialistischer Gleichmacherstaat ist, herrscht doch Gleichheit vor dem Gesetz, Offenheit beim Zugang zu Bildung oder Informationen. «Die Schweiz hat es von jeher akzeptiert, dass es Menschen zweiter Klasse gibt», entgegnet der Historiker. Er verweist auf die alten Untertanengebiete der Eidgenossen, erinnert daran, dass die Juden erst 1874 ihre politischen Rechte und die Frauen das Stimm- und Wahlrecht erst 1971 erhielten, dass die Jenischen, Roma und Sinti als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden und dass das Saisonnierstatut («eine moderne Form der Sklaverei») erst 2002 aufgehoben wurde. Noch in den 1950er Jahren seien im katholischen Kanton Freiburg nach dem Gottesdienst Verdingkinder zur Nutzung als unbezahlte Arbeitskräfte feilgeboten worden. Auch gegenwärtig existierten in der Ausländerpolitik Tendenzen, die Menschen auf ihre Arbeitskraft zu reduzieren. Abgesehen von den Inhalten, die Gross aus linker Optik kritisiert: Es ist ein verfassungsmässiges Recht, jederzeit Volksbegehren zu lancieren und darüber abstimmen zu lassen. Am Ende entscheiden ja nicht die Initianten, sondern die Mehrheit der Stimmbürger, die zur Urne gegangen sind. Die rote Linie, die bei Initiativen nicht überschritten werden dürfe, sind für Gross die unantastbaren Rechte jedes Einzelnen: «Die Grenze des Zulässigen bestimmen die Menschenrechte, die Grundrechte. Initiativen, die gegen die Prinzipien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen, sind illegitim. Die Menschenwürde kann nie Gegenstand der direkten Demokratie sein.» Das sei eine alte, schon von Thomas Paine und Condorcet, den Vordenkern für die grundlegenden Rechte jedes Menschen, entworfene Maxime. Nun ist die EMRK allerdings kein göttliches Gebot, und sie wird höchstens in den europäischen Kernstaaten wirklich respektiert. In der Schweiz konnte darüber gar nicht direktdemokratisch befunden werden. Bundesrat und Parlament unterstellten 1972 den internationalen Vertrag nicht einmal dem Referendum, weil er ohne jede faktische Wirkung sei. Damit ist der Pakt, gerade für einen Verfechter der direkten Demokratie, hierzulande politisch sehr schwach legitimiert. Gross blendet weiter zurück: «Das Verständnis der Menschenrechte und ihre kontinentale Verankerung in der heutigen Form sind eine Folge der katastrophalen Gewalt zwischen 1914 und 1945. Die Staaten, deren Menschen einander grosses Unrecht und schweres Leid angetan hatten, haben diese Standards als kollektives Lernergebnis entwickelt und beschlossen.» Die Schweizer hätten diese Greuel nicht unmittelbar erlebt. Darum seien diese Normen hier weniger verwurzelt. «Die Schweiz muss einiges nachholen. » Der Europäische Gerichtshof wirke da sehr hilfreich. «Gegen dessen Willen können auch demokratisch gefällte Entscheide nicht umgesetzt werden. Die Demokratie ist eben viel mehr als nur die Mehrheitsentscheidung.» Wir nähern uns Grundsätzlichem, den Prinzipien der Bundesverfassung. Artikel 192, der das Initiativrecht regelt, schreibt keinerlei inhaltliche Beschränkung vor. Dies hat auch der Staatsrechtler Andreas Auer dargelegt, ausgerechnet in einem Buch von Gross (1993 zu zwei weiteren Anti-Armee-Initiativen). Was die Mehrheit der Menschen und der Stände beschlossen habe, könne von keinem andern Organ für ungültig erklärt oder ausser Kraft gesetzt werden, schreibt Auer, «selbst wenn es die Grundlagen des schweizerischen Gebildes erschüttert». Der Wille der Bürger, so die Lehre, kann nicht gebrochen werden. «Wer den Vorrang der Menschenrechte nicht anerkennen will», spielt Gross den Ball zurück, «der möge so konsequent sein und eine Initiative zur Kündigung der EMRK einbringen.» Unter dem Titel Landesrecht vor Völkerrecht ist ein solches Begehren kürzlich eingereicht worden. Die Auseinandersetzung um das Fundament der schweizerischen Demokratie ist damit lanciert. Gross reist, immer in politisch-referierender Mission, demnächst nach Mazedonien, dann weiter nach Brüssel, wo er «EU-Reformen verlangen» werde. Die Demokratie stecke in der Krise, nicht nur in der Schweiz, überall auf der Welt, klagt er als Kolumnist des Quotidien Jurassien. Tatsächlich werden seine Ideen kaum von der Mehrheit der Bürger geteilt. Können die Menschen sich frei äussern und abstimmen, dann tendieren sie nicht nach links, dann entstehen nicht fein austarierte Gesamtkunstwerke. Das Verdikt ist vielmehr ziemlich eindeutig: Die Briten schütteln das Eliteprojekt EU ab; in der Türkei applaudiert die Menge den Plänen zur Wiedereinführung der Todesstrafe; auf den Philippinen stimmt die Bevölkerung mit der Wahl Rodrigo (Rocky) Dutertes zum Präsidenten dieser faktisch zu. Die Basis stimmt nationalkonservativ, teilweise radikal. Das sei nicht echte Demokratie, widerspricht Gross: «Der Brexit war ein von Premier Cameron von oben arrangiertes Plebiszit, also ein Ausdruck einer autoritären Regierung. Wenn Präsident Orbán die Ungarn über die Aufnahme von tausend Flüchtlingen befragen lässt oder der türkische Präsident über die Einführung der Todesstrafe entscheiden lassen will, ist dies nicht Ausdruck einer starken direkten Demokratie, sondern ein Kennzeichen autokratischer Herrschaft.» Die schweizerischen Initiativen, die Gross verbieten lassen will, sind allerdings alles andere als Regierungsprojekte. Sie kommen von einer Opposition, die aufbegehrt gegen die Mitte-Links-Politik. «Die Aufbegehrenden müssen ihrer Opposition eine Form geben, über die sich demokratisch entscheiden lässt», erklärt Gross. Um einen angemessenen Diskurs zu führen, brauche es mehr politische Bildung. So habe er mit den Solothurner Genossen, dank einer Spende, eine Willi-Ritschard-Bildungswerkstätte eingerichtet, an der solche Themen vertieft würden. Auch die Medien müssten der Vertiefung wieder viel mehr Raum bieten. Mit diesem Ziel habe er schon vor Jahren eine staatliche Presseförderung vorgeschlagen. Auch die Abstimmungsbudgets müssten reguliert werden, fordert Gross. Die angeregte Unterredung am Ufer des Doubs kann die Widersprüche zwischen dem freien Willen der Bürger, die «ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen», und den Postulaten der Menschenrechte oder andern internationalen Verpflichtungen nicht auflösen. Wäre Gross noch so radikal wie vor dreissig Jahren, dann müsste er abermals eine Initiative lancieren, die auf die Grundwerte der Eidgenossenschaft zielt, ins zentrale Nervensystem der Nation: Er müsste eine Revision von Artikel 192 der Bundesverfassung verlangen, die Definition der Grenzen des Initiativrechts und damit die Zähmung der autonomen Demokraten. Gross bleibt vage. Solch «anspruchsvolle Verfeinerungen» seien schwierig. Er weitet den Blickwinkel aus. Als Beitrittsbefürworter und Kritiker der Europäischen Union schreibt er über ein demokratisch und föderalistisch verfasstes Europa, in das die Menschen sich direkt einbringen, und stellt sich, dank den digitalen Möglichkeiten, europaweite Bürgerinitiativen und Referenden vor. Die mächtig und stark gewordene EU müsse sich unbedingt demokratisch reformieren. Was dem Weltreisenden indes noch nicht genügt: «Wir brauchen globale Standards, die universelle Achtung der Menschenrechte.» Am Ende seiner Utopien stehen Weltparlamente und globale Gerichte. Er schliesst, etwas pathetisch, aber überzeugt: «In der Schweiz hat die direkte Demokratie eine grosse Geschichte, in der Welt noch eine grosse Zukunft.» Kontakt mit Andreas Gross ![]() Nach oben |
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