1. Aug. 2016

Blick


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Es geht um das Schicksal
von Millionen von Menschen



Interview: Daniel Arnet.
Interview mit Andreas Gross (64), Politwissenschaftler.

Herr Gross, haben Sie die Argumente von David van Reybrouck über­zeugt?

Die Diagnose, wonach die Demokratie in einer Krise steckt, teile ich. Doch die von van Reybrouck sehr apodiktisch gepuschte Therapie, Parlamentarier nicht mehr zu wählen, sondern per Los auszuwählen, schwächt die Demokratie weiter.

Weshalb?

Van Reybrouck blendet wesentliche Aspekte der Demokratie völlig aus: Er vergisst, dass bei Wahlen auch inhaltliche Präferenzen und unter­schiedliche Interessen zum Ausdruck kommen und repräsentiert sein wollen. Ihm scheint nicht bewusst zu sein, dass die Demokratie einer­seits ein inhaltliches Versprechen ist – die gerechte Verteilung der Le­bens–Chancen unter allen – und andererseits die Auseinandersetzung um die Frage, wie dies am erfolgversprechendsten geschehen kann.

Sind dafür Wahlen nach wie vor ein notwendiges Instrument?

Sicher. Nur Mitte des 19. Jahrhundert gab es eine kleine Gruppe, die glaubte, das Wählen ganz durch das Abstimmen ersetzen zu können. Seit über hundert Jahren ist klar, dass die direkte Demokratie die in­direkte erweitert und ergänzt, aber niemals ersetzt.

«Warum Abstimmen nicht demokratisch ist» heisst das Buch im Un­ter­titel. Sind heute nicht vor allem rechte Populisten unbedingte Befürworter von Volksbefragungen?

Keineswegs. Der Gebrauch der Volksrechte ist heute in der Schweiz zwi­schen links und rechts relativ ausgeglichen. Nur einige selbsternannte Eli­ten, wie neulich die Unternehmerschaft, stören sich daran, dass bei uns niemand einfach befehlen kann, sondern alle immer wieder ver­su­chen müssen, einander zu überzeugen.

Hat der Brexit-Entscheid Ihre Einstellung zu Urnenbefragungen nicht erschüttert?

Nein, ganz im Gegenteil: Es bestätigte mich in der Erkenntnis, dass Ple­biszite selten zur demokratischen Qualität beitragen und man niemals Vol­ksentscheide für ganz persönliche, unmittelbare Machtinteressen in­strumentalisieren darf. Die Direkte Demokratie ist etwas ganz Anderes als ein Plebiszit und nichts für Spieler und Gambler wie den verwöhnten Herrn Cameron; es geht um das Schicksal von Millionen von Menschen, die mehr Respekt, Empathie und Unterstützung verdienen.

Bergen Wahlen und Abstimmungen nicht die Gefahr, dass man sie kau­fen kann?

Sicher gibt es diese Gefahr. Doch nur weil Sie Ihr Auto in einen Baum fahren können, hören Sie ja nicht auf, Auto zu fahren und schaffen es ab.

Sie sehen aber auch einen Reformbedarf für die Demokratie?

Selbstverständlich. Es gibt sogar einen enormen Reformbedarf. Wie die Märkte und die Wirtschaft muss auch die Demokratie transnationalisiert werden. Sie begann ja vor langer Zeit in Städten, man hat sie dann regio­na­lisiert und im 19. und 20. Jahrhundert nationalisiert. Im 21. Jahrhundert muss sie nun europäisiert und globalisiert werden, wenn sie nicht ver­küm­mern soll.

Ist die direkte Demokratie denn das Patentrezept für die ganze Welt?

Das war sie nie und wird sie nie sein. An jedem Ort dieser Welt müssen die Menschen dies selber beurteilen – wofür sie aber die Direkte De­mo­kratie auch wirklich kennen müssen, nicht mit Plebisziten verwechseln dürfen sowie sich des feinen Unterschieds zwischen dem wählen und dem abstimmen bewusst sein müssen.


Kontakt mit Andreas Gross



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