1. Juni 2016

swissinfo.ch

Politiker sollten keine Angst
vor der Macht des Volkes haben


Von Urs Geiser


Das macht Andreas Gross wohl einzigartig: Jahrzehntelange Erfahrung
als Politiker, Parlamentarier und als Spezialist für Demokratie
sowie Wahlbeobachtung und Menschenrechte.
(Bild: Keystone)

Andreas Gross ist als Spezialist für direkte Demokratie einzigartig: Als basisdemokratischer Aktivist lancierte er Volksinitiativen, organisierte Kampagnen, sass in lokalen, nationalen und europäischen Parlamenten, er gehört zu den erfahrensten Wahlbeobachtern weltweit und forscht und publiziert unablässig zum Thema Macht des Volkes.

Andreas Gross und die partizipatorische Demokratie: Der 63-jährige Po­li­tikwissenschaftler und Politiker blickt auf vier schaffensreiche Jahr­zehn­te und eine riesige Sammlung von Essays, Interviews, Aufsätzen, Ana­ly­sen und Reden zurück. Mit dem Auftritt vor der UNO-Generalver­samm­lung 2002 in New York als Höhepunkt. Dieses Schaffen und Wirken hat Gross nun in seinem neuen Buch Die unvollendete Direkte Demokratie festgehalten. Für swissinfo.ch die Gelegenheit, ihn nach den drei gröss­ten Vorzügen und Schwächen der Demokratie Schweiz zu fragen.

Gross vergleicht die direkte Demokratie gerne mit einem Puzzle - sie kann durchaus ein Gesamtkunstwerk sein. Das faszinierende, aber heik­le daran sei, dass die einzelnen Teile fliessend seien. Deshalb sei es praktisch unmöglich, ein stabiles und perfektes System von direkter Demokratie zu erreichen.

Die Fixsterne ….

Die drei wichtigsten Elemente der Demokratie Made in Switzerland, die er anderen Ländern zur Nachahmung empfiehlt: «Politiker sollten erstens keine Angst haben, Macht mit dem Volk zu teilen, denn es gibt keine wichtigen Fragen, welche die Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen können. Alle können lernen, und Lernen ist eines der wichtigsten Ne­ben­produkte der direkten Demokratie.»


Kampf den Sperren im Land und in den Köpfen: Andreas Gross war
in den 1980er-Jahren der Kopf der legendären Volksinitiative für die
Abschaffung der Schweizer Armee.
(Bild: RDB)

«Politische Macht kann auch auf die verschiedenen Ebenen eines fö­de­ra­listischen europäischen Staates aufgeteilt werden – der nationalen, re­gio­nalen und kommunalen Ebene. In der Schweiz bedeutet diese Macht­tei­lung, dass es die Bürger sind, die über Steuern bestimmen und nicht eine zentrale Regierung. Für viele Menschen in Europa ist das weit weg von ihrer Realität. Aber die Europäische Union täte gut daran, mehr di­rektdemokratische Elemente einzuführen. -- Die Erfahrung der Schweiz zeigt, dass moderne Bürger die Instrumente der direkten Demokratie schätzen – das Recht, jederzeit Vorschläge zu praktisch jedem Thema machen und so die Verfassung oder ein Gesetz ändern zu können. Dies ist Lektion oder Ermutigung Nummer 2.»

«Ich habe in den letzten 40 Jahren in 65 Ländern mit den Menschen über Bürgerbeteiligung diskutiert und an über 1100 Debatten teilgenommen. Nie habe ich jemanden getroffen, der die Idee nicht gut fand, politische Ideen vorschlagen zu können. -- Ob Bürger ihre direktdemokratischen Rechte weise nutzen? Es ist nicht an uns, darüber zu entscheiden. Zur Demokratie gehört, dass man verschiedene Ansichten darüber haben kann, was weise ist und wie ein weiser Entscheid aussieht. Doch fun­damental ist, dass Menschen ihre unterschiedlichen Ansichten direkt zum Ausdruck bringen können in einem demokratischen Staat und wirklich eine Stimme haben.»

«Drittens: Instrumente der politischen Beteiligung müssen bürger­freund­lich sein. Die Gestaltung definiert die Qualität der direkten Demokratie. Die Hürden, um eine landesweite Abstimmung zu bewirken, müssen niedrig sein. In der Schweiz braucht es nur rund 2% der Stimmbürger, um eine Verfassungsänderung zu fordern. Und nur rund 1%, um ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz an der Urne zu bekämpfen. -- Ini­ti­anten müssen auch genügend Zeit haben, die erforderliche Anzahl Un­terschriften zusammen zu bringen. In der Schweiz sind dies 18 Mo­na­te (Volksinitiative) resp. 100 Tage (Gesetzesreferendum). In einigen Län­dern sind die Fristen viel kürzer, so dass manchmal nur Monate liegen zwischen Unterschriftensammlung und Abstimmung.»

«Initianten müssen den öffentlichen Raum, wo sie sich an Bürger wen­den, frei wählen können. Niemand sollte auf die Polizeiwache gehen müssen, um eine Initiative zu unterschreiben. Schliesslich ist die öf­fentliche Debatte die Seele der direkten Demokratie. Die Beteiligung darf nicht Kriterium sein, das über die Gültigkeit oder Ungültigkeit ent­schei­det, wie beispielsweise in Italien. Auf den Fussball übertragen, bedeutet ein System mit einem Quorum, also einer Mindestbeteiligung, dass ein Team, dessen Spieler ein schlimmes Foul beging, mit einem Tor belohnt wird anstatt dass der Täter vom Platz fliegt.»

… und die No-Gos

Andreas Gross ist ein Bewunderer des Fussballs und Fan des FC Basel – dem Aushängeschild der Super League, der höchsten Schweizer Spiel­klasse – aus der Stadt, in der er aufwuchs. Doch von der Hatz um den Ball auf dem grünen Rasen wieder zurück aufs Feld der direkten Demo­kra­tie der Schweiz resp. deren drei grössten Schwächen:

«Im Gegensatz zu Kalifornien oder Deutschland fehlt in der Schweiz ein Verfassungsgericht, das Initiativen ganz oder teilweise annullieren könn­te, wenn sie grundlegende Menschenrechte verletzen. Es braucht eine solche Institution zur Verhinderung von Entscheiden, die zur Diskri­mi­nie­rung von Minderheiten und zu einer Tyrannei der Mehrheit führen können. Und jeder Mensch hat Grundrechte. Über sie darf nie abgestimmt wer­den, sie sind unverhandelbar. Gewisse Gruppen von Menschen, sogar Kriminelle, müssen durch Gesetze geschützt sein. Es gab zuletzt in der Schweiz mehrere Initiativen, die vom Stimmvolk angenommen wurden und die Grundrechte verletzen: Die lebenslange Verwahrung von Sexual­straftätern ohne Möglichkeit auf Wiedererwägung oder das lebenslange Berufsverbot von verurteilten Pädophilen für Arbeiten mit Kindern sind solche Beispiele. Auch die – abgelehnte – Initiative zur automatischen Ausschaffung von straffälligen Ausländern gehört dazu.»

«Warnung Nr. 2: Demokratie bedingt Regeln zur Transparenz bezüglich Finanzierung politischer Parteien und Kampagnen. Denn Geld ist ein Risiko, weil es das System aushöhlen kann. Trotz wiederholter Kritik des Europarats ist die Schweiz das einzige Land Europas ohne ein Gesetz, das dem Sponsoring in der Politik Grenzen setzt. Dies ist umso schlim­mer, weil die Schweizer Stimmbürger vier Mal pro Jahr über eine breite Palette von Fragen abstimmen. In den meisten anderen Ländern stellt sich die Finanzierungsfrage alle vier Jahre einmal bei den Wahlen. -- Der Grund, weshalb Regierung und Parlament solche Regeln in der Schweiz abblocken, liegt im sehr hohen Stellenwert der Privatsphäre. -- Weil es keine Bestimmungen für eine transparente Parteienfinanzierung gibt, ist es schwer zu sagen, welche Auswirkungen das Geld auf einzelne Ab­stim­mungs- und Wahlkampagnen hat. Auch wenn man die Bedeutung des Geldes nicht abstreiten kann: Geld ist nicht der allein ausschlag­ge­ben­de Faktor, und eine politische Niederlage kann nie dem Mangel finanzieller Mittel in die Schuhe geschoben werden.»

«Drittens benötigen Demokratien starke Parteien, welche die öffentlichen Interesse verteidigen, Politiker ausbilden, Debatten organisieren und die Bürger über aktuelle Probleme informieren. -- Unglücklicherweise ver­fü­gen Interessengruppen, die per Definition private Interessen wahr­neh­men, über mehr Mittel als die meisten Parteien. Dies gilt für Wirt­schafts­organisationen wie für solche aus dem Umweltbereich. Es ist offen­sicht­lich, dass diese Verbände und Gruppen eine zunehmend stärkere Me­di­en­präsenz aufweisen. Sie dominieren oft den öffentlichen Raum, ins­be­son­dere in der Deutschschweiz, und dies auf Kosten der Parteien und der Bürgerinnen und Bürger.»

Das Buch

Die unvollendete Direkte Demokratie, auf Deutsch erschienen, ist die Sammlung der Essays von Andreas Gross über partizipatorische De­mokratie in den letzten 30 Jahren. Der 390 Seiten starke Band vereinigt historische Analysen, internationale Vergleiche, ein Jahresverzeichnis der Entscheide in der direkten Demokratie der Schweiz sowie Interviews und seine Rede 2002 vor der UNO-Generalversammlung in New York. - Eine französische Übersetzung ist geplant.

Andreas Gross

1952 in Japan geboren, wo er die ersten sieben Lebensjahre verbrachte. Danach Übersiedelung in die Schweiz. Er ist ein international führender Experte in direkter Demokratie, Autor und Forscher. Nach dem Studium der Politikwissenschaften stieg er in die Politik ein und hielt Vorlesungen in der Schweiz und im Ausland. Der Sozialdemokrat war Mitglied des Schweizer Parlaments von 1991 bis 2015 und vertrat die Schweiz wäh­rend 20 Jahren im Europarat. Dort war er acht Jahre Präsident der so­zi­al­demokratischen Fraktion. Gross war einer der Köpfe der Initiative zur Ab­schaffung der Schweizer Armee, die auch international grosse Beach­tung fand und 1989 abgelehnt wurde. Er war auch Mit-Gründer der Ini­tia­tive für einen Beitritt der Schweiz zur UNO, die das Schweizer Stimm­volk 2002 annahm. Einen Namen machte er sich auch als Teilnehmer von fast 100 Missionen als Wahlbeobachter in Europa.


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