15. April 2016

Tages-Anzeiger

Amerika zwischen Demokratie und Plutokratie


Was von aussen als riesige, aufgeblasene Zirkusveranstaltung, Ego-Inszenierung und Politikbusiness erscheinen mag, schafft bei ge­naue­rem Hinsehen für die US-amerikanische Gesellschaft doch Gutes. Es steckt mehr Demokratie in diesem Vorwahlprozess als viele Europäer glauben. Und sei es nur die Erkenntnis von Hunderttausenden auf­merk­samen Bürgerinnen und Bürgern, welche plutokratische Fesseln diese Demokratie behindern, sowie die Vermittlung einer Ahnung davon, wie diese Fesseln gelöst und die Demokratie von der Plutokratie zumindest ansatzweise befreit werden könnte.

Nach über 7000 Auto- und 700 Flugzeug-Kilometern während sieben Wochen in den sieben US-Bundesstaaten, die zu dem Dutzend ge­hör­ten, das die ersten Vorwahlentscheidungen treffen durfte für die No­mi­na­tion der US-Präsidentschaftsanwärter war ich bei Dutzenden von Vorträgen und Diskussionen der Kandidatin und der Kandidaten dabei, habe mich durch Dutzende von Streitgesprächen durchgehört, über hundert Berichte, Kommentare und Beurteilungen gelesen und stun­den­lang den verschiedenen televisionären Kommentatoren und Ana­lytikern zugehört und zugesehen dabei natürlich vieles gelernt.

Es erschloss sich mir der Sinn eines Vorwahlverfahrens, das 1912 dank dem ehemaligen Präsidenten und - nach einer vierjährigen Pause - neu­erlichen Präsidentschafts-kandidaten Theodor Roosevelt erstmals teilweise zur Anwendung kam. Die Bürgerinnen und Bürger sollten sich nicht nur bei der Wahl zwischen den Kandidaten der beiden grossen Parteien - gemessen an europäischen Parteiverständnissen sollten wir vielleicht eher an Wahlmaschinen mit geringen normativen Fest­le­gun­gen und hoher programmatischer Flexibilität reden - entscheiden, son­dern bereits bei der Auswahl der Kandidaten innerhalb der beiden Par­teien ein Wort mitreden können. Roosevelts Motto «Lasst das Volk mitreden» war dabei nicht uneigennützig. Denn sein präsidialer Nach­fol­ger Taft beherrschte die republikanische Maschine in den einzelnen Bundesstaaten so gut, dass er jedem anderen die Kandidatenkür strei­tig machen konnte. So blieb Roosevelt nur das Verlangen nach dem Umweg über die Bürger und deren Inklusion in die Kandidaten­aus­wahl, wenn er seine Chancen nicht ganz abschreiben wollte.

Die meisten Möchtegernpräsidenten beginnen ihren Vorwahlkampf schon im Frühjahr des Vorwahljahres, rund sieben Monate vor den Vorwahlen in den beiden ersten der 50 Bundesstaaten, der Hauptstadt Washington und der fünf bewohnten US-Territorien von Puerto Rico, Guam bis zu den US-Jungfern-Inseln. Sie halten programmatische Vorträge, organisieren und motivieren Helfer- und Mitarbeiter­or­ga­ni­sa­tionen in allen Bundesstaaten, rennen von einer Spenden-Gene­rie­rungs-Veranstaltung zur anderen, hofieren potentiellen Geldgebern, zimmern sich ein Team von Strategen, Redenschreibern, Umfra­ge­ma­na­gern und PR-Technologen und Verslibrünzlern (Messagers), stellen sich kritischen Journalisten und schiessen sich in kontradiktorischen Debatten auf die parteieigenen und parteifremden Konkurrenten ein. Bereits diese Vor-Vorwahlzeit selektioniert und (dis-)qualifiziert. Viele merken schon da, dass sie nicht ankommen und geben auf. Andere nehmen sich durch rhetorische Fehlleistungen aus dem Rennen.

Der Sinn, dass die kleinen, überschaubaren Bundestaaten wie Iowa (Mittlerer Westen) und das neuenglische New Hampshire im gesetzlich alle vier Jahre neu festgelegten Vorwahlkalender beginnen, liegt darin, dass dort alle Kandidaten meist nicht Einheimische sind und sich mit mehr oder weniger grossem Aufwand bekannt machen und überzeugen müssen. Das ist in diesen Staaten aber auch möglich. Denn die Bürger dort wollen und können die Kandidaten hören und werden im Gegen­zug von den Kandidaten unter grosser öffentlicher Anteilnahme gehört. Das ergibt hunderttausende von Debatten und Diskurse in allen Be­zieh­ungen und Richtungen. Dabei werden Nöte und Einstellungen vieler Menschen ebenso deutlich wie die Persönlichkeitsprofile, pro­gram­ma­ti­sche Absichten und Zielsetzungen der Kandidaten und das Ausmass an Zustimmung, das diese finden – zwei Voraussetzungen ebenso wie zwei Leistungen von Demokratie.

So wird die enorme wirtschaftliche Frustration, ja die Not vieler Men­schen aus der Mittelschicht ebenso deutlich wie ihre Kritik, dass sie von der etablierten politischen Mehrheit ignoriert und überhört werden. Das drängt alle Arten des Establishments zurück und hat auch heuer alle Planungen der Maschinenmeister über den Haufen geworfen. Dagegen halfen zum Beispiel dem dritten Zögling der Bush-Dynastie nicht einmal die üppigen 140 Millionen Dollar Startkapital für seine Kampagne.

Eben­so deutlich wurde die Angst von Millionen von Amerikanern, sozial abzusteigen, allein gelassen, schlicht übersehen zu werden.

Doch es verallgemeinerte sich auch die Einsicht, dass nicht mehr die Sorge um das auch ihnen zustehende Gemeinwohl die Handlungen in Washington bestimmt, sondern Sonderinteressen privilegierter Grup­pen, - genau jene, die den Siegern dieses Ausscheidungsrennens die dazu notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt hatten. Deshalb die enorme Zustimmung für Trump und Sanders, deshalb das Scheitern von Jeb Bush und die schweren Probleme Hillary Clintons mehr zu werden, als bloss die Fortsetzung des bestehenden Systems. Viele glauben ihr nicht, kein Kind der Wallstreet sondern eines der Mainstreet zu sein.

Was aber, wenn der Gewinner am Ende all diese Einsichten und Wahr­neh­mungen einmal mehr ignoriert? Oder kann er schlicht gar nicht tun, was er tun müsste? Eine ganz unamerikanische Frage, denn die Sug­gestion der Allmächtigkeit ist fast allen Akteuren so eigen wie dem Teufel die versprochene Seele.

Und es könnte sich zeigen, dass die US-Demokratie bereits extrem geschwächt ist, d.h. dass selbst hier die Politik derart entmachtet ist, dass sie angesichts der Märkte die vitalen Interessen der grossen Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner nicht mehr vertreten kann.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht