4. Juni 2004

Tages-Anzeiger
Seite 11
Analyse

De Globalisierung zeigt uns die Welt als Schicksalsgemeinschaft
Demokratie ermöglicht Freiheit für alle

Die Demokratie bedarf nicht der Einschränkung sondern der Erweiterung. SP-Nationalrat Andreas Gross antwortet dem Ökonomen Thomas Straubhaar (TA vom 25. Mai).

Tränen der Wut und des Zorns trüben den Horizont mehr als dass sie ihn klären. So täuscht sich Thomas Straubhaar in seinem Rundumschlag zum dreifachen Nein der Schweizerinnen und Schweizer in allen 26 Kantonen zu den Abstimmungsvorlagen vom 16. Mai gleich dreifach:

Erstens in den Adressaten seiner Scheite («Volk und Regierung»), zweitens im Medium Volksrechte (Die direkte Demokratie ist wie ein Spiegel, und der ist schliesslich auch nicht verantwortlich für das Gesicht, das Sie jeden Morgen in ihm erblicken) und drittens: im Fazit («überall zu viel Demokratie!»).

Straubhaar kommt gar nicht mehr dazu, mit uns zu diskutieren, um was es ihm wirklich geht und was zu diskutieren tatsächlich dringlich wäre - nämlich die politischen Handlungsmöglichkeiten in einer globalisierten Gesellschaft. Es geht um die Frage, ob der «entfesselte Standortwettbewerb» tatsächlich «nur noch eine angemessen entschlossene Standortpolitik» zulässt, wie dies der neue Chefredaktor Simon Heusser in der «Weltwoche» behauptet, und was Straubhaar mit seinen Koautoren Silvio Borner, Ökonomieprofessor in Basel, und Aymo Brunetti, heute Direktor im Berner Volkswirtschaftsdepartement Seco, schon 1990 und 1994 in zwei Aufsehen erregenden Schriften1 genannt hatte, in denen es hiess: «Standortwettbewerb: Schlüsselfaktor der Zukunft».

Was ist am 8.2. und am 16.5.2004 wirklich passiert? Verantwortlich für die sechs Nein aller 26 Kantone zu allen bisherigen sechs Abstimmungsvorlagen der neuen Legislatur ist weder der neue Bundesrat noch «das Volk», sondern die alte Mehrheit der Bundesversammlung. Im Vorfeld der Nationalratswahlen vom vergangenen Herbst und verführt von Wahlprognosen, welche den Durchmarsch der SVP voraussehen wollten, rutschten die; alte Mitte von CVP und die FDP-Mehrheit nach rechts, glaubten, auf anders Denkende keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, und bedienten um so frivoler und gegen die Meinung des Bundesrates die eigene privilegierte Klientel: So wurden Steuerpaket die Reichen und Hauseigentümer unanständig bevorteilt und eine weitere Gotthardtunnelröhre durchgestiert.

In 43 von 44 Abstimmungsvorlagen der Legislatur 1999 - 2003 ist die Mehrheit der Stimmenden dem Bundesrat gefolgt. Am 8. Februar und am 16 Mai 2004 sagte die Mehrheit des Volkes nicht «prinzipiell» Nein, sondern schlicht und einfach, weil es die Unausgewogenheit der parlamentarischen Vorschläge erkannte und für unangebracht hielt. Mit «Stillstand in der direkten Demokratie» hat dies nichts zu tun, viel mehr mit der nachträglichen Korrektur von Entscheidungen eines Parlamentes, das wie die grossen Wirtschaftsverbände das Augenmass verloren hatte. Dass dies trotz den 10 bis 15 Propagandamillionen der Economiesuisse und den fast 5 TCS-Millionen möglich war, spricht für die unabhängige Urteilskraft vieler Bürgerinnen und Bürger und nicht gegen sie.

Straubhaar, Borner und Brunetti hatten schon 1990 und 1994 behauptet, die «Reformunfähigkeit» sei eine systemimmanente Eigenschaft der direkten Demokratie. Dass sie es jetzt wieder tun, illustriert höchstens, dass es ihnen nicht um die Reformfähigkeit geht, sondern um jene Reformen, die sie sich wünschen. Denn bezüglich der Ökologisierung der Landwirtschaftspolitik und des Verkehrswesens gelangen der Schweiz seit 1990 gerade wegen der Möglichkeit des Referendums und der Volksinitiative Reformen, um die sie von vielen EU Ländern beneidet wird. Gewiss ist, dass Reformen in der direkten Demokratie mehr Einsatz und Überzeugungskraft erfordern als in Systemen, in denen die Mehrheiten gegeben sind. Wer sich aber anstrengt und nicht einfach glaubt, Geld spreche für sich, dem gelingen Überzeugungsleistungen (Benzinpreiserhöhungen, Steuererhöhungen, die anderswo für unmöglich gehalten werden. Wer aber meint, die Sache des Volkes sei so wichtig, dass man sie nicht dem Volk überlassen könne, der kann dieses Volk schlecht vom Richtigen überzeugen. Es war genau diese überhebliche Einstellung der liberalen Gründer der modernen Schweiz von 1848, die 20 Jahre später all diejenigen, die sich von ihnen übergangen fühlten, veranlasste, in breiten demokratischen Bewegungen zuerst kantonal und dann auch im Bund die Volksrechte einzurichten. Um in Entscheidungen das letzte Wort zu haben, in denen sie sich vom Parlament schlecht bis gar nicht vertreten fühlten.

Neu ist am gegenwärtigen Diskurs von Straubhaar, dass er nicht nur die direkte Demokratie der Schweiz kritisiert, sondern in den meisten europäischen Staaten ein zu viel an Demokratie ortet. Dabei fällt auf, welch verkürztes Demokratieverständnis er vertritt. Er scheint nicht nur von den einer modernen Demokratie eigenen Grundrechten zu abstrahieren, sondern verkennt auch deren Integrations- und Zivilisierungsleistung. Die Demokratie ermöglicht allen - eben nicht nur den Reichen oder Aktionären - frei zu sein und sich gemeinsam um die Gestaltung ihrer Existenzgrundlagen zu kümmern, was die eigentliche Lust an der Freiheit erst recht ausmacht. Denn nichts macht uns so krank wie die Erfahrung der Ohnmacht. Die Demokratie ermöglicht uns aber auch, die mit der Freiheit notwendigerweise verbundenen Konflikte gewaltlos auszutragen, und zwar wiederum so, dass wir dabei voneinander und füreinander lernen können. Wir sitzen denn auch heute nicht in einer Demokratiefalle, wie Straubhaar glaubt, sondern die Demokratie hat mit dem Staat in der Ära der Globalisierung schlicht den Rahmen verloren, der sie im 19. Jahrhundert hervorgebracht und im 20. Jahrhundert gestärkt hat. Wirtschaft (Markt) und Politik (Demokratie) bedürfen einander, gerade weil sie strukturell anders funktionieren. Damit sie einander aber zudienen, sich auch gegenseitig zähmen können, müssen sie auf gleichen Ebenen funktionieren können.

Heute vermag die nationale Demokratie die transnationale Ökonomie nicht mehr sozial und umweltverträglich zu bändigen. Dies heisst freilich nicht, dass die Demokratie sich nur noch den Bedürfnissen einer einseitigen Wirtschaft unterzuordnen hat, wie dies der Standortdiskurs suggeriert. Dies heisst viel mehr, dass die Demokratie auch transnational verfasst und institutionalisiert werden muss, um auch in einer globalisierten Gesellschaft ihre Güte entwickeln zu können. Die europäische Verfassung ist da erst der Anfang. Denn die Globalisierung zeigt uns die Welt als Schicksalsgemeinschaft. Unser Ort ist folglich die Welt, unsere Standortpolitik die Entwicklung einer globalen Demokratie, welche uns die Institutionen verschafft, mit denen alle die Lebenschancen wahrnehmen können, die wir für uns beanspruchen.

Andreas Gross



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Anmerkung 1

Borner/Brunetti/Straubhaar:
«Schweiz AG: Vom Sonderfall zum Sanierungsfall?», 1990
«Die Schweiz im Alleingang», 1991
beide im NZZ-Verlag

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